28. Oktober 2011

Aufruhr in Arabien (23): Eine Analyse des Wahlergebnisses in Tunesien. Unruhen in Sidi Bouzid

Zuerst war es für Montag oder Dienstag angekündigt worden, das vorläufige amtliche Endergebnis der Wahlen in Tunesien. Dann begann ein frustierendes Warten: Immer wieder setzte die Wahlkommission ISIE Pressekonferenzen an, die meist verschoben wurden und dann doch wieder nur Teilergebnisse brachten. Ergebnisse, die meist zuvor schon von der staatlichen Nachrichtenagentur TAP publik gemacht worden waren.

Gestern um 22 Uhr Ortszeit (23 Uhr MEZ) war es endlich so weit: Die ISIE (Instance supérieure indépendante pour les élections; Unabhängige Hohe Wahlbehörde) teilte das vorläufige amtliche Endergebnis mit. Mit Betonung auf "vorläufig", denn es sind noch zahlreiche Wahlanfechtungen zu prüfen. Diese Prüfung soll innerhalb von zwei Wochen abgeschlossen sein.

Auch fehlen immer noch Angaben über die Wahlbeteiligung und die Anteile der Parteien in Prozent der abgegebenen Stimmen. Das liegt daran, daß in jedem der 33 Wahlbezirke die Sitzverteilung für die auf ihn entfallenden Mandate (je nach Größe zwischen 4 und 10) getrennt berechnet und der ISIE gemeldet wurde. Nur diese Ergebnisse auf der Ebene von Mandaten hat sie offenbar bisher zusammengefaßt; noch nicht die Stimmenanteile an den Urnen.



Das Ergebnis hat vier wichtige Aspekte:

1. Sieg der Ennahda. Die islamistische Ennahda ist der Sieger, verfehlt aber entgegen der Projektion von Al Jazeera am Dienstag deutlich die absolute Mehrheit. Sie erreichte 90 der 217 Sitze.

In meinem Vorbericht vom Sonntag hatte ich drei mögliche Ausgänge der Wahlen genannt:
Erringt "Al-Nahda" einen Wahlsieg, der sie zufriedenstellt, ohne ihr die absolute Mehrheit zu geben, dann kann es relativ ruhig bleiben. Bleibt sie aber deutlich unter ihren Erwartungen, dann wird sie auf die Straße gehen. Siegt sie mit absoluter Mehrheit, dann ist offen, wie die Übergangsregierung und das Militär darauf reagieren werden.
Der erste dieser drei Fälle ist eingetreten - der für die Entwicklung der tunesischen Demokratie günstigste.

2. Erfolg der Aridha Chaabia. Der Überraschungssieger ist die Partei "Al Aridha Al Chaabia lil Adalaa wal Horria wal Tanmia", zu deutsch: "Volksbewegung (oder Petition) für Gerechtigkeit, Freiheit und Entwicklung"; abgekürzt Al Aridha Chaabia oder Aridha Chaabia. Diese Partei war vor den Wahlen im Ausland so gut wie unbekannt gewesen; auch in Tunesien hatte ihr kaum jemand einen Erfolg zugetraut. Selbst viele Tunesier hatten sie gar nicht gekannt.

Die Aridha Chaabia erreichte jetzt 19 Sitze. Nur 19 Sitze, muß man sagen. Denn bei den Zwischenergebnissen hatte sie um bis zu 9 Sitzen höher gelegen und war die drittstärkste, kurzzeitig sogar die zweitstärkste Partei gewesen. Inzwischen aber hat ihr die ISIE Mandate, die ihr schon zugerechnet worden waren, wieder entzogen; und zwar mit der Begründung, daß sie in den betreffenden 6 Wahlbezirken gegen das Wahlgesetz verstoßen hätte (es scheint sich um finanzielle Unregelmäßigkeiten zu handeln). Die dadurch erforderliche Neuverteilung der Mandate war einer der Gründe dafür gewesen, daß sich die Bekanntgabe des Wahlergebnisse so lange verzögerte.

Die Aridha Chaabia ist eine seltsame, schillernde Partei. Ihr alleiniger Chef Hechmi Hamdi, Besitzer des über Satelliten ausgestrahlten TV-Senders Al Mustaquilla, gehörte früher der Ennahda an. Seine Partei hat mit islamistischen und vor allem populistischen Parolen gewonnen; beispielsweise versprach er kostenlose ärztliche Behandlung für alle. Zugleich wird Hamdi aber auch Nähe zum Regime Ben Alis nachgesagt, was er jedoch bestreitet. Einige sehen in der Aridha Chaabia eine zweite islamistische Partei neben der Ennahda; andere ein Auffangbecken für ehemalige Anhänger Ben Alis.

Die Gründe für den überraschenden Erfolg Hamdis hat bei tunesia-live.net Emily Parker analysiert: Er hat über sein Satelliten-TV vor allem die Bevölkerung im dünn besiedelten Landesinneren angesprochen, die sich traditionell von den Küstenprovinzen vernachlässigt und ausgebeutet fühlt. Er hat zweitens die Armen angesprochen, die er mit dem Versprechen eines Wohlfahrtsstaats nach britischem Vorbild lockte. Drittens hat er Fromme für seine Partei gewonnen, die aus irgendeinem Grund nicht die Ennahda wählen wollten. Und viertens hat er - wie jeder Populist - das Ressentiment gegen "die Politiker", "die da oben" usw. bedient.

3. Scheitern der Islamismus-kritischen Parteien. Was die nicht-islamistischen Parteien angeht, so läßt sich das Ergebnis auf eine einfache Formel bringen: Vergleichsweise gut abgeschnitten haben die beiden Parteien, deren Politiker mit der Ennahda gemeinsam im Untergrund gegen das sozialistische Regime Ben Alis gekämpft hatten und die dem Islamismus nicht feindlich gegenüberstehen. Die großen Verlierer sind diejenigen Kräfte, die sich ausdrücklich gegen den Islamismus gewandt haben.

Zu dieser zweiten Gruppe gehört vor allem die liberale PDP (Parti démocrate progressiste), der man vor der Wahl den zweiten Platz zugetraut hatte. Sie strebt eine Präsidialverfassung nach amerikanischem Vorbild an und tritt strikt für die Beibehaltung des Laizismus ein, wie er unter Ben Ali gegolten hatte (zum Beispiel Kopftuchverbot in Universitäten).

Unter Ben Ali kämpfte die PDP bzw. ihre Vorläuferpartei RSP für Menschen- und insbesondere Frauenrechte. Ihr Gründer und langjähriger Vorsitzender ist Ahmed Néjib Chebbi, der den Vorsitz aber 2006 an die Biologin und Frauenrechtlerin Maya Jribi abgab.

Statt des prognostizierten zweiten Platzes hinter der Ennahda erreichte die PDP nur 17 Sitze. Auch der ebenfalls laizistische, weiter links stehende PDM (Pôle démocratique moderniste) schnitt mit 5 Sitzen enttäuschend ab; ebenso die liberale Partei Afek Tounes (4 Sitze). Als einzige Wendehals-Partei schaffte es L'Initiative ("Al Watan") mit 5 Sitzen in die Verfassungsgebende Versammlung.

4. Das relativ erfolgreiche Abschneiden des CPR und der Ettakatol. Dies sind keine islamistischen, aber auch keine anti-islamistischen Parteien. Die sozialdemokratische Ettakatol war bereits seit 1994 unter Ben Ali aktiv und genoß zeitweise einen halblegalen Status. Das CPR hab ich bereits am Dienstag vorgestellt (Mit wem werden die islamistischen Wahlsieger in Tunesien zusammenarbeiten? Wer sind die Verlierer?; ZR vom 25. 10. 2011):
Neben der Ettakatol hat sich statt der liberalen PDP der "Kongreß für die Republik" ("Congrès pour la république"; CPR) des Medizinprofessors Moncef Marzouki als einzige größere säkulare Kraft etablieren können. Wie die PDP tritt der CPR für eine Demokratie nach westlichem Vorbild ein: Säkular, mit strikter Gewaltenteilung und der Garantie der Menschenrechte. Marzouki hatte in Frankreich studiert und als Arzt gearbeitet und war 1981 nach Tunesien zurückgekehrt, wo er als Dissident für die Menschenrechte kämpfte.
Der CPR wurde mit 30 Sitzen zweitstärkste Partei; die Ettakatol folgt mit 21 Sitzen auf dem dritten Platz.



Wie es weitergehen wird, steht nach diesem Wahlergebnis in groben Zügen fest: Die Ennahda wird ein Bündnis mit dem CPR und wahrscheinlich auch der Ettakatol eingehen. Die absolute Mehrheit liegt bei 109 Sitzen. Zusammen mit der Ettakatol würde die Ennahda sie mit 111 Mandaten ganz knapp erreichen; zusammen mit dem CPR hätte sie eine komfortable Mehrheit von 120 Sitzen. Sie hat aber bereits angekündigt, daß sie eine breitere Mehrheit anstrebt, also wahrscheinlich mit beiden Parteien zusammenarbeiten wird.

"Zusammenarbeiten" bedeutet dabei zweierlei. Die Verfassungsgebende Versammlung hat vorrangig, wie ihr Name sagt, die Aufgabe, eine Verfassung auszuarbeiten. Zweitens wird sie eine neue Übergangsregierung wählen, die ein Jahr im Amt bleiben soll.

Die Zusammenarbeit der Ennahda mit den beiden anderen, säkularen Parteien bezieht sich jetzt zunächst auf die Übergangsregierung; einschließlich eines neuen Übergangs-Staatspräsidenten. Nach dem gegenwärtigen Informations-stand wird die Ennahda das Amt des Ministerpräsidenten beanspruchen, aber das Amt des Staatspräsidenten einem Koalitionspartner überlassen.

Der Führer der Ennahda, Rached Ghannouchi, scheint im Augenblick kein Regierungsamt anzustreben. Für das Amt des Ministerpräsidenten im Gespräch ist deren Generalsekretär Hamadi Jebali.

Eine andere Frage ist es, welche Bündnisse bei der Ausarbeitung der Verfassung eingegangen werden. Ihre islamistischen Ziele könnte die Ennahda hier vermutlich am besten in Zusammenarbeit mit der Aridha Chaabia durchsetzen, zu deren populistischem Wahlkampf auch viel Frömmigkeit gehörte.

Unklar ist im Augenblick, wie die Annulierung eines Teils der von der Aridha Chaabia errungenen Mandate sich auswirken wird. Wie erwähnt, ist diese Partei im zurückgebliebenen Landesinneren verankert, aus dem auch Hechmi Hamdi selbst stammt. Dort - vor allem in Sidi Bouzid, von wo die Revolution Anfang des Jahres mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi ihren Anfang nahm - ist es bereits zu lautstarken Protesten gegen die Entscheidung der ISIE gekommen. Man wird sehen, was sich heute dort abspielt.

Es könnte sogar sein, daß Hamdi aus Protest gegen die Annullierungen seine jetzt gewählten Abgeordneten überhaupt zurückzieht; einen solchen Schritt hat er gestern Abend gegenüber der Radiostation Radio Mosaique fm angekündigt. Das dürfte, wenn er es wahr macht, einerseits die Proteste anheizen und andererseits natürlich eine weitere Neuberechnung der Mandate erforderlich machen.



Das ist die aktuell zu beobachtende Entwicklung. Mittel- und langfristig wird es darum gehen, welches das wahre Gesicht der Ennahda ist: Hat der Wolf nur Kreide gefressen? Ist Ghannouchi, der einst beim Studium in Kairo von Moslembrüdern zum Islamismus bekehrt wurde, immer noch ein demokratiefeindlicher Islamist, der sich jetzt nur tarnt? Oder wird sich die Ennahda tatsächlich zur ersten arabischen Partei entwickeln, die Islamismus mit Demokratie und Rechtsstaat verbindet?

Man kann das Wahlergebnis ja auch so sehen: 127 der 217 Sitze, also fast 59 Prozent, wurden von säkularen Parteien gewonnen. Wären diese nicht so zersplittert, dann könnte der Ennahda ein mindestens gleichstarker säkularer Block gegenüberstehen. Insofern kann man das jetzige Ergebnis mit gedämpftem Optimismus betrachten.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.