2. Oktober 2010

Notizen zu Sarrazin (2): Der ungewöhnliche Bestseller. Wie liest man ein solches Buch am besten?

Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" ist ein ungewöhnlicher Bestseller; ungewöhnlich in dreifacher Hinsicht.

Erstens ist das Buch, was die Auflage angeht, ungewöhnlich erfolgreich. Es erreichte schon in der Woche seines Erscheinens Platz 2 der "Spiegel"-Bestsellerliste und steht seither auf Platz 1; wie ebenfalls auf der Bestsellerliste des Boersenblatts.

Die Erstauflage betrug 25.000 Exemplare. Bereits zwei Wochen nach Erscheinen hatte die Auflage 400.000 erreicht; inzwischen liegt sie bei 1.100.000. Zum Vergleich: Das bisher erfolgreichste Buch eines deutschen Politikers ist Helmut Schmidts "Außer Dienst". Es erreichte in seinem Erscheinungsjahr 2009 weniger als ein Zehntel der gegenwärtigen Auflage von "Deutschland schafft sich ab", nämlich 100.000 Exemplare.

Zweitens ist die Art ungewöhnlich, wie Sarrazins Buch zum Bestseller wurde. Normalerweise geschieht das über Rezensionen und vor allem Mundpropaganda; es sei denn, daß der Autor bereits als Produzent von Bestsellern etabliert ist und man seine Bücher sozusagen blind kauft; wie etwa die Harry-Potter-Serie.

Die Erfolgsgeschichte von Sarrazins Buch verlief - jedenfalls bisher - ganz anders. Die Auflage schnellte in die Höhe, bevor überhaupt ausführliche Rezensionen vorlagen (es gibt sie auch jetzt noch kaum); und Mundpropaganda konnte anfangs schon deshalb keine Rolle spielen, weil kaum jemand das Buch gelesen hatte, als die Erfolgswelle zu rollen begann.

Bestellt und gekauft wurde "Deutschland schafft sich ab" nicht, weil man Informationen darüber hatte, daß es ein gutes, daß es ein lesenswertes, ein überzeugendes und ein flüssig geschriebenes Buch sei. Im Gegenteil: Von den meisten Medien und von vielen Politikern wurde es als nachgerade indiskutabel dargestellt; siehe die hier zusammengestellten Artikel in ZR.

Seine vielen Käufer verdankt dieses Buch vielmehr einer Art Trotzreaktion auf diese Kampagne. Es waren Kaufentscheidungen, in denen sich ausdrückte, daß man Sarrazins Themen als wichtig ansah; daß man die Ausgrenzung des Autors, die manchmal Züge einer Hexenjagd trug, mißbilligte. Daß man sich nicht von Politikern und Journalisten vorschreiben lassen wollte, was man zu denken und zu lesen hatte.

Es war und ist eine Abstimmung mit dem Kassenzettel, mit dem Bestellschein.

Indem man das Buch aus solchen Motiven heraus kaufte oder bestellte, ging man freilich auch das Risiko ein, ein anderes Buch zu erhalten, als man es sich vorgestellt haben mochte.

Die meisten Käufer dürften zwar den agitatorischen Kritikern nicht geglaubt haben, daß das Buch "dumpf" und "krude" argumentiere; aber man könnte aus solchen Bezeichnungen doch geschlossen haben, daß es sich jedenfalls um eine Art Streitschrift handelt, ein polemisches Werk. Und daß Sarrazin kräftig auf die Pauke haut.

Und davon kann nun keine Rede sein. Er haut nicht auf die Pauke; er spielt eher polyphon, auf verschiedenen Instrumenten.

Damit sind wir bei einem dritten Aspekt, unter dem "Deutschland schafft sich ab" ein ungewöhnlicher Bestseller ist: Es ist ein eher sperriges Werk, voller Zahlen und Tabellen; ein Buch, das eigentlich gar nicht das Zeug hatte, zum Bestseller zu werden. Ihm war dieser Erfolg sozusagen nicht in die Wiege gelegt.

Manchmal ist es flott und auch witzig-ironisch geschrieben, aber viele Passagen lesen sich auch wie diese (S. 39):
Die Investitionsintensität und der technische Fortschritt wirken sich nicht direkt, sondern über die Arbeitsproduktivität auf das Wachstum aus. Die Investitionsintensität zeigt sich - gemessen am Kapitaleinsatz pro Einheit des Sozialprodukts - seit Jahrzehnten ziemlich stabil.
In diesem Stil ist fast das gesamte zweite Kapitel "Ein Blick in die Zukunft" abgefaßt. Mancher Leser dürfte nicht weiter als bis zu diesem Kapitel kommen und dann das Buch enttäuscht aus der Hand legen. Und sich vielleicht ein bißchen mehr "kruden" Stil wünschen.



Es ist aber ein Buch, das man aus meiner Sicht unbedingt lesen sollte; trotz seiner Mängel.

Man kann diese Mängel in einem Satz zusammenfassen: Sarrazin wollte ein populärwissenschaftliches Buch schreiben, wechselt aber oft nur zwischen populär und wissenschaftlich hin und her.

Oft wird es zu speziell für den Leser, der sich um die Zukunft Deutschlands sorgt, der sich aber nicht in volkswirtschaftliche Details vertiefen will. Dann wieder wird Sarrazin arg allgemein; so beispielsweise, wenn er in seinem "Historischen Abriss" (erstes Kapitel) einen Parforceritt durch die Geschichte unternimmt und dabei gar auf knapp drei Seiten (25ff) vom Alten Ägypten über das Römische Reich bis zum Ende des Mittelalters galoppiert.

Solche Mängel sind nicht unbedingt Sarrazin persönlich anzulasten. Es gibt in Deutschland nicht diese Kultur des wissenschaftlich qualifizierten und zugleich gut lesbaren Sachbuchs wie beispielsweise in den USA.

Leichte Verständlichkeit steht dort ganz oben. So einfach wie möglich zu formulieren, ohne daß es falsch wird, gilt dort als die eigentliche Kunst des Schreibens. In Deutschland setzt sich, wer sich um einen einfachen Stil bemüht, immer noch dem Verdacht aus, er könne es nicht komplizierter; an ihm sei halt kein Adorno verlorengegangen.

In den USA werden Bücher wie das Sarrazins auch besser vom Verlag (wenn es ein hinreichend großer ist) betreut, als das in Deutschland die Regel ist.

Dem Buch hätten nicht nur die Ratschläge des Lektorats und eines Journalisten gut getan, die Sarrazin in der Danksagung (S. 409) erwähnt. Es wäre auch hilfreich gewesen, wenn er - wie in den USA in solchen Fällen üblich - die einzelnen Kapitel, die außerhalb seines eigenen Gebiets als Nationalökonom liegen, von jeweiligen Fachleuten hätte gegenlesen lassen können.

Harmlose kleine Ungenauigkeiten, die ihm von den Agitatoren gegen sein Buch aber so vorgehalten wurden, als seien es schwere wissenschaftliche Fehler, hätten dann vermieden werden können.

Und das Buch wäre entschieden lesbarer geworden, wenn Sarrazin nicht nur acht Seiten voll unkommentierter Tabellen angehängt hätte (wer soll die lesen?), sondern wenn er überhaupt alle Tabellen und Berechnungen in einem - dann aber mit kommentierendem Text versehenen - Anhang untergebracht hätte.

Im Text selbst hätten Grafiken besser als Tabellen das vermittelt, was auch derjenige Leser an Daten verstehen muß, der sich nicht kritisch mit den Details befassen will. Und zwar Grafiken, die sich moderner Mittel der Darstellung bedienen; von den wenigen Abbildungen bei Sarrazin (z.B. auf Seite 44) wird man das nicht sagen können.

Nun ja, das sind Äußerlichkeiten. Aber solche Äußerlichkeiten entscheiden oft darüber, ob jemand ein Buch liest, oder ob er es ganz oder großenteils ungelesen zur Seite legt.



Nachdem ich meine eigenen Leseerfahrungen mit "Deutschland schafft sich ab" gemacht habe, möchte ich Ihnen, sofern Sie diese noch vor sich haben oder sie zu machen noch erwägen, dies raten:

Lesen Sie die Einleitung, in der Sarrazin seine zentralen Gedanken skizziert; lassen Sie dann aber die ersten drei Kapitel erst einmal aus. Sie haben dann die Hürden elegant umgangen, die Andere vielleicht am Weiterlesen hindern.

Denn vom vierten Kapitel "Armut und Ungleichheit" an geht es um die einzelnen Felder, auf denen Sarrazin die Zukunft Deutschlands gefährdet sieht. Da wird es konkreter, faßbarer, spannender.

Die weiteren, ebenso spannenden Kapitel sind "Arbeit und Politik" (Kapitel 5; da geht es um sinkende Leistungsbereitschaft und fehlende Anreize zum Arbeiten); "Bildung und Gerechtigkeit" (Kapitel 6 über unsere verfehlte, weil auf falschen Voraussetzungen beruhende Bildungspolitik), "Zuwanderung und Integration" (jenes Kapitel 7, auf das die meisten Kritiker das Buch reduzieren) und "Demografie und Bevölkerungspolitik" (Kapitel 8; ein deprimierender Blick auf die momentanen demographischen Trends).

Wenn Sie diese fünf Kapitel gelesen haben, dann haben Sie nicht nur die zentralen Sorgen Sarrazins verstanden, sondern Sie haben mehr über den Zustand unseres Landes erfahren, als man es - nach meiner Kenntnis - irgendwo sonst in dieser komprimierten Form finden kann.

Mit diesem Wissen wird es Ihnen leicht fallen, dann auch das zweite und dritte Kapitel zu lesen, in denen das alles miteinander verwoben wird; und - falls es Ihnen denn Spaß macht - Kapitel 9, in dem Sarrazin seiner Neigung zur Satire freien Lauf läßt, um futurologische Gedankenspiele zu entwickeln.

Das erste Kapitel "Staat und Gesellschaft" kann man sich aus meiner Sicht ganz schenken.

Ich glaube, da hatte der gelernte Nationalökonom Sarrazin sich mit dem einen oder anderen geschichtlichen Thema befaßt, was ja immer zu empfehlen ist; und konnte dann der Versuchung nicht widerstehen, die Gedanken, die ihm dabei so gekommen waren, auch noch dem Leser mitzuteilen. Das hat längst nicht das Niveau des übrigen Texts.

Als Einstieg in die Lektüre ist jedenfalls dieses Kapitel 1 so wenig geeignet wie die mit Zahlen und Fachbegriffen überfrachteten Kapitel 2 und 3. Wenn Sie diese, wie vorgeschlagen, einfach erst einmal umgehen, dann werden Sie - da bin ich ziemlich sicher - die Lektüre nicht bereuen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.