18. September 2022

G. K. Chesterton, "Über öffentliche Aufbahrung" (1936)





Vor dem Begräbnis des guten und frommen Dieners, der die Krone des Bekenners und der Eroberers geerbt hatte, lag sein Körper, wie es in der offiziellen Formulierung heißt, „im Staat,“ an jener historischen Stätte, die der Sohn des Eroberers erbauen ließ, und in dem einst der Prozeß um das Leben eines englischen Königs geführt wurde. Die Tatsache, daß der erste Monarch ermordet und der zweite hingerichtet wurde, während der dritte im Tod so geehrt wurde wie im Leben, sollte denen, die in der Geschichte nichts erblicken wollen als den Widerstreit zwischen Mächten und Ständen, zu denken geben. Aber schon diese offizielle Formulierung („lying in state“) soll uns hier interessieren, und zwar deshalb, weil solche Vereinfacher dies gerne „nur ein Zeremoniell“ nennen. In neuerer Zeit, besonders am Ende des 18. Jahrhunderts, als das höfische Ritual und die Etikette ihren Höhepunkt erreichten – wie stets vor ihrem folgenden Zusammenbruch – kam es zu einer weitverbreiteten Ablehnung solcher Zeremonien; und zwar nicht nur unter den Anhängern der Aufklärung, sondern auch unter vernünftigen Leuten. Infolge dieser Ablehnung geriet die wahre Bedeutung solcher Rituale weitgehend in Vergessenheit. Der öffentliche Ärger wandte sich gegen ebendie Festlichkeiten, die einst eingeführt worden waren, weil sie beim Volk beliebt waren.

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Diese Wahrheit zeigt sich in der in der Einschätzung, die diese offizielle Formulierung, „im Staat liegen“ in der fernen und näheren Vergangenheit und gegenwärtig erfahren hat. In der rationalistischen Auffassung der jüngeren Zeit, die so gut wie hinter uns liegt, neigte man dazu, die Worte „im Staat“ zu betonen, mit leichter Mißbilligung. Die Kämpfer für den Fortschritt der Menschheit bestanden darauf, daß ein solcher Festakt nur leerer Pomp sei; und daß solcher Pomp nichts als Wichtigtuerei sei. Der einzige Fehler dieser Menschenfreunde war dabei, daß sie nichts von Geschichte verstanden. In Wirklichkeit war die öffentliche Aufbahrung eines Königs Teil seiner Volksnähe und nicht des Hofzeremoniells. Sie war Teil der uralten Vorstellung, daß der Monarch für das Volk zugänglich sein sollte – und nicht von den später aufgekommenen Ansichten, die dem König ein Privatleben zugestanden. Im Hinblick auf die reinen Staatspflichten war der König viel weniger „im Staat“, im Amt, wenn er sich dem Volk zeigte (ob nun als Lebender oder als Toter), als wenn er sich mit den Staatsgeheimnissen befaßte. Es bedeutete, daß die Menge aus der Ratskammer ausgeschlossen war, aber daß ihr der Zugang zur Todeskammer gestattet wurde.

Um die alte Redewendung zu bemühen: solche Bräuche leiteten sich aus dem Sprichwort her, daß „selbst eine Katze einen König ansehen darf“ – und nicht von der Vorstellung, daß dem König der Anblick der gewöhnlichen Sterblichen erspart bleiben soll. Alle historischen Tatsachen in Bezug auf die wirkliche Geschichte der Monarchie beweisen, daß dies die historische Wahrheit ist. Als das Königtum seine größte, sogar überbordende Ausprägung erreicht hatte, wie im Frankreich des Grand Siècle, wurde dem Volk nicht nur nach dem Tod des Königs der Zugang zum Sterbezimmer erlaubt, sondern zu seinen Lebzeiten auch zu seinem Schlafzimmer. Menschenmengen drängten sich durch den Ankleideraum Ludwigs XIV., jenes fast allmächtigen Herrschers, du sahen zu, wie er sich wusch, ankleidete und sogar Abführmittel einnahm. Er konnte ein Alleinherrscher sein, ein Eroberer, er konnte das Parlament kontrollieren – er es war ihm verwahrt, eine Privatperson zu sein. Tief im Kern dieser einzigartigen Institution verbarg sich die Vorstellung, daß das Volk über seinen Herrscher verfügte, so wie sie über ein öffentliches Denkmal oder sogar einen öffentlichen Park verfügen konnten. Er herrschte über sie, aber sie verfügten über ihn.

Daß diese volkstümliche Auffassung der Monarchie zur Zeit des Sonnenkönigs jedes Maß gesprengt hatte, zeigt sich vielleicht in der Reaktion, die bald darauf einsetze und die wir die Revolution nennen. Aber sie war zu Beginn vor allem eine volkstümliche Vorstellung gewesen. Sie war möglicherwiese sogar volkstümlicher als viele der Vorstellungen der Revolutionäre, von denen viele viele Aristokraten waren und die meisten das, was wir heute als Intellektuelle bezeichnen. In jedem Fall können wir sehen, daß diese Idee bis auf das Mittelalter zurückgeht, und immer in Verbindung gebracht wird mit der Vorstellung, daß der König dem Volk zugänglich sein soll. In den wüstesten Kriegen der feudalen Zeit sehen wir, wie die Kriegsparteien in Frankreich und England, vor allem aber in Schottland, großen Wert darauf legen, daß sich der König „in ihrer Mitte“ befindet – selbst wenn er noch ein Kind, ein Gefangener oder ein Schwachsinniger ist. Sie führten den König mit sich, als ob er sich eine Reliquie oder einen Fetisch oder ein Maskottchen handeln würde, und sie scheinen geglaubt zu haben, daß die Gegenwart selbst eines zaudernden Königs ihnen Übermacht über ihre Feinde verleihen würde. Der Grund dafür lag darin, daß der König im Grunde stets beliebt war, wie kein Feudalherr beliebt war. Dieser unbewußte geschichtliche Instinkt, der sich selbst bei denen, die von ihm nichts wissen, in der Form der Tradition äußert, und dem oft eine höhere Wahrheit zukommt als der Geschichte, gemahnt an etwas, das selbst die schlechtesten aller Monarchen nicht zerstören konnten: daß in den frühen Tagen des Christentums die Heiligen und Missionare der alten Zivilisation diese Person dazu bestimmt hatten, der Vater des Volkes zu sein. Für andere feudale Ritter und Räuberbarone hatte es solch eine Benennung ihres Amtes nie gegeben. Er war der „Dominus Rex,“ und er unterschied sich von anderen Menschen, sogar wenn er ein Tyrann war. Es ist vermerkt worden, daß kein mittelalterlicher Herrscher jemals wirklich erfolgreich war. König Johann Ohneland ist unser typischer Tyrann. Aber wir sollten uns auch daran erinnern, daß er ein Regent war. Und in jenen fernen Tagen, als die Wurzeln unserer Staatlichkeit und unserer modernen Monarchie gelegt wurden, finden wir das durchgängige Bestehen auf der körperlichen Anwesenheit des jeweiligen Herrschers. Dieses Verlangen ist so stark, daß es sogar seinen Leib einschloß, wenn er nur noch ein sterblicher Überrest war.

Womöglich bedeutet es eine fundamentale Kritik der modernen Geistes, daß wir uns daran gewöhnt haben, nur von dann von einem „Körper“ („a body“) zu sprechen, wenn wir eine Leiche damit meinen. Noch der alte Ausdruck „Habeas Corpus,“ wie auch andere ältere und heiligere Wendungen, erinnern uns an einer Vorstellungswelt, in der auch Lebende als „Körper“ bezeichnet wurden. In jedem Fall erstreckte sich von den Körpern der Lebenden auf die Toten. Wie die Gefährten des Cid seine Leiche in der Rüstung auf dem Pferd sitzend dem Volk vorführten, als Zeichen ihres Triumphs über die Mauren und als Fanal für die Lebenden, so erstreckte sich das traditionelle Gespür für die körperliche Anwesenheit des Königs stets auch auf seine sterbliche Hülle. Sie wendete sich stets direkt an das Volk. Manchmal war sie aus verschiedenen Gründen mit einem bestimmten politischen Appell verbunden. Die frühen Könige wurden oft gezeigt, ohne daß ihr Gesicht bedeckt wurde – etwa, um zu zeigen, daß der König tatsächlich tot war. Aber immer kam die Vorstellung, daß das Volk am Sarg vorbeidefilierte, aus derselben Wurzel, daß jedermann das Recht hatte, dem König zu Lebzeiten ein Bittgesuch überreichen zu dürfen. Es war die Vorstellung, daß der Palast nicht nur eine Privatwohnung war, sondern daß er das Haus des Volkes darstellte. Er war ein Haus, dessen Türen ihm offen standen. Das Volk verfügte über den Herrscher.



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„On Lying in State” erschien in der „Illustrated London News” am 1. Februar 1936 und war einer von 40 Texten, in denen sich zahlreiche Autoren und Intellektuelle des Landes zum Tod des englischen Königs Georg V. äußerten, in einer Sondernummer, die ausschließlich diesem Thema gewidmet war.



G. K. Chesterton hatte seit 1905 für diese wöchentliche erscheinende Illustrierte geschrieben; zumeist in Form einer regelmäßigen Kolumne. Diese Beiträge dürften die Haupteinnahmequelle aus seiner rastlosen schriftstellerischen Tätigkeit gebildet haben. In der umfassenden Werkausgabe, die seit 1985 bei Ignatius Press erschienen ist, und die es bis heute auf 37 Bände gebracht hat, füllen diese kleinen Feuilletons die letzten 11 voluminösen Bände.

Georg(e) V. war von seinem unerwarteten Tod am 20. Januar 1936 bis zum Staatsakt am 28 Januar öffentlich im Westminster Hall aufgebahrt worden. Vor ihm war dies als erstem englischen Monarchen der Neuzeit seinem Vater Edward VII der Fall gewesen; zuerst war diese Form des öffentlichen Gedenkens 1898 für den früheren Premierminister William Gladstone eingeführt worden. Der einzige spätere englische Politiker, dem diese Ehre zuteil wurde, war 1965 Winston Churchill. Chesterton selber starb ein halbes Jahr nach der Abfassung dieses Texts, am 14. Juni 1936.

Mit dem „Eroberer“ und dem „Bekenner“ im ersten Absatz sind Wilhelm I. (1028-1078) und Edward der Bekenner (1003-1066) gemeint. Der Tod des Letzteren am 5. Januar 1066 gab Anlaß zu der Eroberung England durch die Normannen unter William, nachdem Edwards Nachfolger Harold in der Schlacht von Hastings am 14. Oktober 1066 getötet worden war. Der Grundstein von Westminster Hall wurde 1097 durch Wilhelms I. Sohn, William II., gelegt, der am 2. August 1100 während einer Jagd im New Forest durch einen Pfeilschuß eines seiner Jagdgefährten ermordet wurde. Bei dem König, um dessen Leben in Westminster Hall ein Prozeß geführt wurde, handelt es sich natürlich um Charles I., dem das Hochgericht im Januar 1649 einen dreitägigen Prozess wegen „Landesverrats“ machte und der am 30. Januar 1649 das Blutgerüst bestieg.

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Ein kleines Detail zum Schluß: Aus Anlaß des Todes von Georg V. ist im Januar 1936 zeitnah ein Orchesterstück komponiert worden, das bis heute auch im englischen Sprachraum als "Trauermusik" bekannt ist. Der Komponist war Paul Hindemith, der als Pionier der modernen Atonalität bei den Nazis nach 1933 in Ungnade gefallen war, den man aber als bedeutendsten modernen Komponist seiner Zeit (neben Richard Strauss) nicht gern formell verbieten oder außer Landes weisen wollte. Erst im Oktober 1936 kam es in Reichsdeutschland zu einem Aufführungsverbot seiner Werke. Hindemith hatte sich deshalb immer mehr auf Aufführungen im Ausland konzentiert (1938 ging er dann tatsächlich ins Exil, zuerst in die Schweiz und anschließend in die USA, deren Staatsbürgerschaft er 1946 annahm). Am 19 Januar war er nach England gereist, wo am Tag darauf die englische Erstaufführung seines Stücks "Der Schwanendreher" für Viola und Orchester durch das Orchester der BBC stattfinden sollte; die Uraufführung hatte im November 1935 in Amsterdam stattgefunden. Der Tod des Monarchen durchkreuzte diese Pläne; die BBC entschied sich, mit ihrem Orchester mit Hindmith als Dirigenten ein passendes Stück als Sondersendung zu bringen. Nachdem die Senderleitung und Hindemith nach der Durchsicht der vorhandenen Partituren kein ihnen angemessen scheinendes Stück gefunden hatten, setzte sich der Tonsetzer in ein Büro, das ihm der Sender zur Verfüdung stellte, und schrieb dort von 11 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags die vier kurzen Sätze, ebenfalls für Viola und Orchester.





U.E.

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