(Netzfund: Screenshot aus einem Callcenter für die Terminvergabe der Coronaimpfung in Nordrhein-Westfalen. Nb: Am 31. Januar wurden in NRW isgesamt 11.000 Impftermine vergeben.)
"...ist nichts schiefgegangen." Dieser Satz, den Bundeskanzlerin Merkel vor zwei Tagen im Interview im Stil devoter Hofbereichterstattung in der ARD-Sendung "Farbe bekennen" (allein schon der Titel der Sendung ist ein Hohn) sagte, wird von ihr bleiben. Wie auch die beiden vorigen Sätze, die von dieser sprachlich fast rührend hilflosen Person in Gedächtnis bleiben werden: "Wir schaffen das!" und "...dann ist das nicht mehr mein Land."
Eines sollte ich vorausschicken: Ich besitze seit 19 Jahren keinen Fernseher mehr. Das Radiohören habe ich schon ein paar Jahre davor eingestellt. Die letzte Zeitung habe ich vor 10 Jahren aufgeschlagen. Die Rolle der Informationsbeschaffung hat in meinem Fall in jeder Hinsicht das Internet übernommen. Zum einen befinde ich mich damit auf dem Stand einens Zeitungslesers des 19. Jahrhunderts; zum anderen steht mir damit eine Informationsfülle zur Verfügung, wie es sie in der Geschnhichte der Menschheit nie zuvor gegeben hat: die sekundenschnelle Verfügbarkeit aller gewünschten Informationen, in allen Sprachen, die ich beherrsche, die Möglichkeit, "ad fontes" zu gehen - also die Quellen und Äußerungen direkt einzusehen, und die Möglichkeit, Hintergründe und Details mit ein, zwei Suchanfragen zu erfahren: das gab es noch nie. Aber diese punktgenaue, jederzeit aufrufbare Bereitstellung ändert den Blick auf die Nachrichtenlage. Sie hängt von meinem Interesse ab, und ich spüre nichts mehr von der Omnipräsenz mancher Themen, der Allgegenwart der immergleichen Politiker, die Themen der sich mittlerweile im Halbstundentakt wiederholenden Nachrichtenblöcke. Kurz gesagt: ich habe meinen persönlichen Blick als die Weltlage; wie sie sich den "geschätzten Zuschauern draußen an den Empfangsgeräten im Lande" darbietet, kann ich nicht sagen. Das entnehme ich nur dem schwachen, verzerrten Echo der politschen Netzecken wie der "Achse des Guten" oder "Tichys Einblick," den Kommentaren der Blogger, denen ich folge und dem Rauschen in den sozialen Medien.
Aber seit Anfang dieser Woche drängt sich mir der Eindruck auf, daß das "System Merkel" mittlerweile in seine letzte Phase eingetreten ist. Bislang war ich - für mich, aus dem Bauch heraus geschätzt - fest davon ausgegangen, daß Frau Merkel im Herbst, trotz aller Bekundungen des Gegenteils, noch einmal als Kandidatin antreten und mangels einer Alternative auf für eine fünfte Amtszeit als Bundeskanzlerin gewählt werden wird. (Zumal der Satz "Mit mir wird es X, Y oder Z nicht geben" bei ihr, von Atomausstieg über Maut und EU-Kollektivschuldhaftung, immer eine Garantie dafür war, daß es garantiert so kommen würde.) Aber aktuell habe ich den Eindruck, daß wir Zeugen der Endphase ihrer Endlosen Kanzlerschaft werden. Angesichts des Desasters mit der Impfstoffbereitstellung, die sie, und sie allein, zu verantworten hat, sind ihr nur noch die transparente Verleugnung dieses Versagens und matte Durchhalteappelle geblieben.
Seit Montag findet dies im Tagestakt statt: Am Montag der spontan angesetzte "Impfgipfel" mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer und Vertretern der Vakzinproduzenten, von der die Medien, noch während die Gespräche liefen, aus der Runde heraus von Teilnehmern die Stellungnahmen berichteten, dies sei völlig überflüssig und "reines Blabla." Am Dienstag das devote Interview im ZDF, auf dem sie ihre hilflose Realitätsblindheit einmal mehr mit dem zitierten Satz "Im Großen und ganzen ist nichts schiefgelaufen" unter Beweis stellte. (Auch in der Flüchtlingskrise wußte sie ja vor fünf Jahren im Nachhinein nicht, "was ich besser hätte machen sollen.") Heute ein "Bürgerdialog," über den die Medien großflächig berichteten und in dem sie sich wünschte "wie gerne würde ich auch was Gutes verkünden"; und zudem heute abend dann um 20:15 auf RTL.
Mittlerweile reicht es also nicht mehr, sich alle drei Wochen mit den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländern zusammenzusetzen (virtuell) und anschließend die Verlängerung des stillgestellten Status Quo zu verkünden. Freilich: ein Großteil der Erschöpfung, der Hoffnungslosigkeit, der Anomie, die sich in diesem Land mittlerweile breitmacht, ist durchaus diesem Mechanismus geschuldet: dieser ewigen Verlängerung, unabsehbar, vor der niemand sagen kann, ob sie bis Ostern dauern wird, bis in den Sommer, bis in den Herbst. Es gibt, für alle praktischen Zwecke, keine Zukunft mehr, keinerlei Planbarkeit. Selbst ein Häftling weiß, wann er wieder freikommt und seinem Leben nachgehen kann; wir nicht. Frau Merkel hat wieder und wieder gezeigt, daß man sich nicht auf ihre Äußerungen verlassen kann (ich habe den Eindruck, daß sie selbst oft den Sinn dessen, was sie von sich gibt, gar nicht erfaßt; auf jeden Fall trifft auf sie der Konrad Adenauer zugeschriebene Satz "Was kehrt mich mein Geschwätz von gestern?" zu) - aber wenn ich mir ihre Aussage, daß es erst wieder "neue Freiheiten" geben werde, wenn es mehr Geimpfte als Ungeimpfte gibt (denn anders erreichen wir keine Herdenimmunität) und zweitens, daß sie hofft, jedem Bürger dieses Landes "im Herbst ein Impfangebot" machen zu können; und daß dies am Ende des dritten Quartals der Fall sein wird: dann ergibt sich für mich im Klartext daraus die Ankündigung, daß der Lockdown in der jetzigen Form bis Ende September aufrecht erhalten bleiben wird. Darüber, daß Frau Merkel Grundrechte als Privilegien betrachtet, die sie allein nach Belieben zuteilen oder verweigern kann, will ich mich an dieser Stelle nicht auslassen.
Augenscheinlich hat Frau Merkel sich angesichts dieser aussichtslosen Lage dazu entschlossen, sich tagtäglich ihrem Volk zu zeigen und und es zu Geduld und Ertragen aufzufordern. Wie lange läßt sich das durchhalten? Vor allem: wenn sich nichts an dieser Lage ändert? Denn das wird es nicht. Herr Spahn hat vorgestern klargestellt, daß die Engpässe bei der Impfstoffbeschaffung mindestens noch zehn Wochen andauern werden. Für den Januar war als bisheriges Plansoll eine tägliche Impfrate von 300.000 vorgesehen. Stattdessen lag sie in der letzten Woche im Durchschnitt bei 97.000 täglich. Man muß es sich klar vor Augen halten: wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden wir eine Herdenimmunität von 70% Geimpften erst im April 2024 erreichen.
Natürlich wird es nicht dabei bleiben: Länder, die Fertigungskapazitäten aufgebaut haben und betreiben, können nach Durchimpfung der eigenen Bevölkerung anderen Ländern mit weniger Fortüne oder Regierungsverantwortung aushelfen. Seit dieser Woche ist eine Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik-V durch die EU-Prüfbehörde EMA im Gespräch, der sich mit 91,6 Prozent Wirksamkeit als äußerst effektiv erwiesen hat. (Angesichts der Tatsache, daß die Europäischen Medien die russische Vakzine im Herbst wegen "mangelnder Erprobung" noch geschlossen an den Pranger stellten, läge darin eine jener ironischen Volten des Weltgeistes, wie sie dem ansonsten humorfreien Betrachter Hegel ein grimmiges Lächeln abnötigten.) Aber ach: mittlerweile liegen aus 50 Ländern weltweit Vorbestellungen für diesen Impfstoff vor; insgesamt über 1,2 Milliarden Dosen - Mexiko etwa hat 32 Millionen Dosen vorbestellt (von denen 9 zwischen Februar und April ausgeliefert werden sollen); Israel 1,5 bis 3 Millionen; je nachdem, wie gut es mit dem Impfstoff von Pfizer/BioNTech versorgt wird. Die russische Regierung hat angekündigt, dieses Jahr insgesamt eine Milliarde Dosen außerhalb Rußlands zu liefern. Selbst bei einer sofortigen Bestellung hätte Deutschland also erst im Februar 2022 einen Anspruch auf eine Belieferung.
Und so bleibt ihr keine Hoffnung auf schnelle Besserung. Es wird sie schlicht nicht geben.
Frau Merkel hat keinerlei Handlungsoption mehr, um den Anschein einer Verbesserung der verfahrenen Situation vorzuspiegeln. Jeder sieht, daß die Kaiserin nackt ist. In einem funktionsfähigen politischen System, wie es die alte Bonner Republik darstellte, wäre spätestens an dieser Stelle zu erwarten, daß sie Herrn Spahn als mitverantwortlichen Versager auf der Stelle entläßt und Druck auf das Europäische Parlament ausübt, um Frau von der Leyen ihres Postens zu entheben und zur Verantwortung zu ziehen. Und sei es auch nur, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Aber natürlich ist dergleichen nicht zu erwarten. Rücktritte für Versagen bei der Ausübung der Dienstpflichten ist im System Merkel nicht mehr vorgesehen. Auch Frau Merkel wird niemals freiwillig gehen. Sie weiß, daß ihr Versagen in der Corona-Krise ihr Erbteil sein wird - und daß die Aufbereitung für ihre restlichen fatalen Alleingänge dem folgen wird. Nur besteht die Chance, daß sie in den nächsten Wochen und Monaten - ob durch die Medien oder ihre bislang speichelleckenden Paladine - zu der Einsicht gebracht werden kann, daß sie diesem Schicksal nicht mehr entgehen kann. Sie wird so oder so, als die schlechteste und schädlichste Politikerin der letzten 75 Jahre in die Geschichte eingehen. Sie ist am Ende. Zugegeben: die Hoffnung darauf ist nach allem, was wir von dieser Frau wissen, nichts als eine Illusion. Und doch... Gutta cavat lapidem, wußten die alten Römer: steter Tropfen höhlt den Stein, und diesmal besteht keinerlei Chance, daß sie es aussitzen kann und darauf hoffen kann, daß sich die Krise bereinigen wird und sie wie in Brechts Geschichte vom Herrn Keuner Muße hat, ihren nächsten Irrtum vorzubereiten. Tagtäglich starrt sie das Fatum aus dem Spiegel der Medien an, der ihr sonst nur weichgezeichnet geschmeichelt hat, und sie kann sich vor diesem Medusenblick nicht mehr verstecken.
Jetzt rächen sich die Versäumnisse unserer Regierung aus dem vergangenen Sommer grell und für jedermann unübersehbar. Und vor allem: es ist klar, daß es sich nicht - oder nicht NUR - um systemisches Versagen handelt: daß die deutsche Regierung mittlerweile KEINE komplexe Aufgabe mehr erledigen kann - vom Flughafenbau bis zur Beschaffung von Stiefeln für die Streitkräfte. Hier handelt es sich um das ganz persönliche Handeln - und Versagen - von drei Personen: von Herrn Spahn, in dessen Zuständigkeit die Beschaffung des Impfstoffs liegt und der sich der Order von Frau Merkel, diese an die EU-Kommission zu übertragen, willfährig gefügt hat (und der ja auch schon bei der Beschaffung von Masken und Schutzkleidung im Frühjahr 2020 aufs klänglichste versagt hat); bei Ursula von der Leyen, und bei Frau Merkel, die das Desaster eigenmächtig durch ihr Eingreifen einleitete. So, wie sie auch ganz persönlich dafür verantwortlich ist, daß die Grenzöffnung im Herbst 2015 nicht beendet wurde und eine fatale Eigendynamik entwickelt hat.
Es ist unübersehbar, daß Frau Merkel bei JEDER Entscheidung, die sie als Kanzlerin getroffen hat, versagt hat. Diese waren immer selbstherrlich, ahnungs- und kenntnisfrei und sind niemals korrigiert worden. Es war nur so, daß sie bis zur Energiewende 2011 auf alle Entscheidungen verzichtet hat; selbst die Laufzeitverlängerung für die AKWs bis 2040 ging auf die Eingaben der Energiekonzerne zurück, daß es ohne eine Streckung der Abschaltungstermine Schwierigkeiten mit der Bereitstellung der Grundlast gäbe. Dann kam Fukushima, dann die Euro-Rettung, die Grenzöffnung: Stets waren es Alleingänge, ohne Blick auf die Konsequenzen. Die Folgen wurden stets an andere delegiert und es wurde wahllos Geld verschenkt, in der Hoffnung, das Problem würde damit würde verschwinden. Etwas anderes als Intrigen und schieren Machterhalt hat diese Frau niemals an den Tag gelegt, und das zeigt sich jetzt, das rächt sich in dieser Krise fatal. Nur hat sie in 15 Jahren ein parlamentarisches System, das sie dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, so weit demoliert, daß es mit ebenso komplett Unfähigen besetzt ist, die ihr nicht gefährlich werden können, weil es sie ihre Pfründe kosten würde.
PS: im "Bürgerdialog" fiel auf Seiten Frau Merkels heute auch der Satz "Eigentlich müsste ich zu jedem von Ihnen nach Hause kommen und mich drei Stunden um Ihre Kinder kümmern, damit Sie auch mal Sport machen können oder Zeit für etwas anderes haben." Einem Land, das von einer solchen Person regiert wird, ist nicht mehr zu helfen.
U.E.
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