- Vincent Starrett - 221b
Here dwell together still two men of note
Who never lived and so can never die:
How very near they seem, yet how remote
That age before the world went all awry.
But still the game’s afoot for those with ears
Attuned to catch the distant view-halloo:
England is England yet, for all our fears –
Only those things the heart believes are true.
A yellow fog swirls past the window-pane
As night descends upon this fabled street:
A lonely hansom splashes through the rain,
The ghostly gas lamps fail at twenty feet.
Here, though the world explode, these two survive,
And it is always eighteen ninety-five.
(March 1942)
"221B"
Hier wohnen immer noch die zwei bekannten Herrn
Die es nie gab und deshalb niemals sterben.
Wie nahe scheinen sie uns - und wie fern
Liegt ihre Zeit. Der Weltlauf fiel in Scherben.
Und doch beginnt die Jagd - für alle, deren Ohren
Den alten Klang vernehmen. Trotz aller Gefahr -
Trotz unsrer Furcht ist England nicht verloren.
Denn nur an was das Herz glaubt, ist auch wahr.
Ein gelber Nebel wabert vor den Fenstern
Wenn sich die Nacht auf die berühmte Straße senkt.
Die fahlen Gaslaternen werden zu Gespenstern
Wenn eine Hansom-Droschke durch den Regen lenkt.
Auch wenn die Welt zerbirst - die beiden werden bleiben.
Hier wird man immer 1895 schreiben.
(U.E.)
Vincent Starrett (1886-1974), in Kanada geboren, aber sein ganzes Leben lang als Bibliophiler, Literaturarchäologe und Autor dem Widerpart zur angesagten amerikanischen Literaturszene der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in New York, besonders in Greenwich Village, nämlich in der Windy City, in Chicago, zugehörig, dürfte heute selbst auf der anderen Seite des Atlantiks zu den recht gründlich vergessenen Namen gehören. Das war freilich zu seinen Lebzeiten nicht viel anders. Seine gut drei Dutzend eigenen Werke, vom Roman Seaports in the Moon (1927) bis hin zur Erzählungssammlung The Quick and the Dead von 1965, die zu den völlig unbekannten Titeln gehört, die in August Derleths auf Lovecraft und Konsorten spezialisiertem Kleinverlag Arkham House erschienen, dürften nur noch spezialisierten Literaturliebhabern auch nur dem Titel nach geläufig sein. Ein gewisse Bekanntheit erreichte er nun auf zwei Gebieten: als Spezialist für obskure, mehr als dreiviertel vergessene kleine Dichter der Phantastik und der Kriminalliteratur (sein erstes kleines Büchlein von 1918 war die erste Abhandlung über das Werk von Arthur Machen) - und als Sherlockian, als Organisator der Liebhaber der Werke des sprichwörtlichen Großen Detektivs. 1934 gründete er zusammen mit dem gleichgesinnten (und heute nicht weniger vergessenen) Zunftgenossen Christopher Morley die Baker Street Irregulars, einen informellen Zirkel, deren raison d'être neben dem allfälligen Beisammenhocken im Kreis Gleichgesinnter jenseits der politischen Zerrissenheit der dreißiger Jahre, die auch im Amerika der Weltwirtschaftskrise solche Klüngel und Vereinigungen ideologisch anzufressen drohten, die Beschäftigung mit dem Wesen und Treiben jener ersten großen Spürnase der Weltliteratur war. In diesem Umfeld entwickelte sich das bis heute gültige Arbeitsverständnis der Sherlockians: die Ausgangshypothese, daß der verhinderte Kleinstadtarzt Arthur Conan Doyle (1859-1930) nicht als originärer Verfasser des "sacred writings", der vier Romane und 56 Erzählungen um den Herrn mit dem Deerstalker in Fragew kommt, sondern er nur seinen Namen als Autor hergab, um die Berichte von Holmes' Adlatus Dr. Watson zu veröffentlichen und ihnen - vielleicht - etwas literarischen Schliff zu verleihen. Starretts Biographie dieser Person, The Private Life of Sherlock Holmes, ein Jahr vor der Gründung des BSI erschienen, dürfte denn auch der einzige Titel sei, der Lesern noch halbwegs geläufig ist (die Chronologie des Wirkens, die zeitliche Zuordnung der Fälle, wurde zwei Jahrzehnte später von Sabine Baring-Gould verfeinert). Für diese Annahme spricht bekanntlich viel: Conan Doyle war ein höchst leichtgläubiger Mensch, ein von der Wahrheit des Spiritismus, des Übernatürlichen, bis in jede Faser durchdrungen, der felsenfest von der Echtheit der "Cottingsley Fairy Photographs" überzeugt war, mit denen zwei englische Pfarrhaustöchter, Elsie Wright (1901–1988) und Frances Griffiths (1907–1986), 1918 ihm und einigen weiteren Spökenkiekern einen Schabernack gespielt hatten, dessen hanebüchene Schlichtheit noch heute erstaunen macht. Conan Doyle, dessen Propagierungen des Übernatürlichen und des "Kontakts mit dem Jenseits" mehr als ein Dutzend Buchtitel umfaßt, versuchte soger in den zwanziger Jahren den seinerzeit notorischsten Bühnenzauberer Harry Houdini (oder besser: Nicht-Zauberer, denn Houdini, der zwar wie alle gutes Bühnenmagier nie verriet, auf welche Art er seine Zaubertricks in Szene setzte, bestand stets felsenfest darauf, daß sie nur der Fingerfertigkeit und Ablenkung des Publikums geschuldet waren) davon zu überzeugen, daß er seine spektakulären Entfesselungen nur mithilfe übernatürlicher Kräfte zustande bringen könnte - ohne sich dessen bewußt zu sein.
(Frances Griffith auf einer der fünf "Feen-Photographien," die Conan Doyle in der Dezember-Ausgabe 1920 des Strand in seinem Artikel "Fairies Photographed" und im Buch The Coming of the Fairies von 1922 abdruckte. Bezeichnenderweise gab er dort die namen der Mädchen mit "Alice" und "Iris" an, "um ihre Privatsphäre zu schützen". Der Schwindel flog erst Mitte der siebziger Jahre definitiv auf, als einem Skeptiker das Bilderbuch Princess Mary's Gift-Book von 1914 in die Hände fiel, dessen Illustrationen, ausgeschnitten und auf Pappe geklebt, eine höchst irdische Vorlage für die "kleinen Wesen" abgegeben hatten, die sich "dem skeptischen Blick des Erwachsenen" bei der Lokalvisite von Conan Doyle nicht hatten preisgeben wollen.)
Sherlock Holmes hingegen war ein unbeirrter Erz-Rationalist, der sich durch kein noch so überzeugend scheinendes Brimborium von der absoluten Gültigkeit der Naturgesetze, des Machbaren, der Logik abbringen ließ. "How often have I said to you that when you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth?" lautet seine bekannte enervierte Frage an den guten Doktor im sechsten Kapitel des "Zeichens der Vier" von 1890. (Der Protokollant gibt an dieser Stelle zu bedenken, daß er kein wirklicher Sherlockian ist, da er dafürhält, daß Conan Doyle, wie in ärztlichen Fallberichten, mit denen er vertraut war, zum Schutz lebender Personen die Namen und Orte der geschilderten Ereignisse unkenntlich gemacht haben dürfte. So ist dann der scheinbare Widerspruch leicht erklärbar, daß die Baker Street zu "Holmes"' Wirkungszeit nur 100 Hausnummern aufwies; warum auch die Umgebung seiner Wohnung eher auf die seinerzeit noch ländlich gepägten Vororte Londons hinweisen anstatt auf den Innenstadtbereich, wie man etwa in The Red-Headed League sehen kann, wo Holmes anhand der Lehm- und Schlammspritzer an den Gamaschen seines Besuchers dessen Weg zu lesen vermag. Es erklärt weiterhin, warum mindestens ein Drittel der uns vorliegenden Fälle keine "klassischen" Detektivgeschichten sind, sondern Keine Lösung aufweisen, im Sand verlaufen oder ihre Auflösung dem schieren Zufall verdanken - wie die simpelste aller Roßtäuschereien in "Silver Blaze" oder das völlige Versagen in "The Five Orange Pips" - der Mörderschurke ist längst auf dem Weg zurück über den Atlantik, als Watson dem Meister erklären muß, daß das "unlösbare Kürzel" "kkk" für Ku-Klux-Klan steht.)
"221b," zu einer Zeit verfaßt, als das Schicksal Englands im Zweiten Weltkrieg, drei Monate nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nach Pearl Harbour, noch ganz in den Sternen zu stehen schien, wurde zuerst als Weihnachtsgruß für Starretts Freunds und Bekannte in einer Auflage von 60 Exemplaren von Edgar W. Smith gedruckt, im Zivilstand Leitender Angestellter bei General Motors, im wirklichen Leben aber die treibende Kraft hinter den BSI; die erste "wirkliche Publikation" erfolgte 1943 in Starretts Gedichtsammlung Autolycus in Limbo beim Verlag E.P.Dutton and Company. 1946 druckte Smith, der 1944 Zeit die Leitung der BSI übernommen hatte, das Sonett in der ersten Ausgabe der Baker Street Journal nach. Seit dieser Zeit ist es für die diversen Sherlock-Holmes-Club und literarischen Vereinigungen so etwa wie eine inoffizielle "Hymne" geworden; sicherlich die bekannteste Hommage in Versform neben William B. Schweickerts "A long evening with Holmes".
Die Titelvignette, wie ersichtlich zur Bebilderung des 46. Falles, "The Adventure of the Bruce-Partington Plans," entworfen, stammt übrigens nicht von Sidney Paget, der die frühen Abenteuer von Holmes für die Magazinveröffentlichungen im Strand Magazine illustrierte und dessen ikonische Bildfindungen nicht mehr aus unserer Vorstellung wegzudenken sind, sondern vom zweiten unsterblichen Bebilderer, Frederic Dorr Steele (1873-1944), der für die amerikanische Magazinpublikation in Collier's Magazine vom 12. Dezember 1908 zeichnete. Die sechs Illustrationen für die Publikation im Strand Magazine vom Dezember 1908 wurden von Arthur Twidle angefertigt. Der Protokollant gibt indes zu Protokoll, daß ihm die eindrucksvollsten bildlichen Inszenesetzungen der Abenteuer der beiden Herren die sind, die Robert Fawcett 1953 und 1954 für den Magazinvorabdruck, ebenfalls in Collier's Magazine, des Dutzend Fälle gezeichnet hat, die Conan Doyles Sohn Adrian und John Carter Dickson verfaßt haben und die 1954 gesammelt unter dem Titel The Exploits of Sherlock Holmes erschienen sind. (Da diese Texte als "Fortsetzungen anderer Hand" nicht zu den Sacred Writings gehören, darf man sie unwidersprochen als "bloße Fiktion" gelten lassen.) Fawcett (1903-1967) gehört übrigens zu den als Professionelle arbeitenden Illustratoren, die farbenblind waren (weswegen er sich meistens auf schwarz-weiße Innenillustrationen beschränkte. Der einzige mir bekannte ebenfalls farbenblinde Zeichner, der Titelbilder für Genrepublikationen gestaltet hat, war Leo Summers, 1925-1985, der unter anderem Cover für die Magazine Fantastic Adventures, Amazing Stories und Analog Science Fiction/Science Fact anfertigte). Für die Zeichnungen dieser Serie, die Collier's als eines der am aufwendigsten gestalteten Wochenmagazine jener Jahre in Farbe druckte, überließ er die Auswahl der Farben seiner Frau.
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P.S.: Wer glaubt, daß solche Feengläubigkeit der Vergangenheit angehöre und nur auf spinnerte Sektiererkreise beschränkt (gewesen) sei, möge sich bitte die folgende Meldung von heute, ganz langsam und in dreifacher Wiederholung, um es glauben zu können, zu Gemüte führen.
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.