5. August 2016

Die jungen Totalitären und das Versagen der politischen Mitte

Erinnern wir uns noch einmal an die erste Runde der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten: Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer lag mit weitem Abstand zum parteiunabhängigen Grünen-Exponenten Alexander van der Bellen an der Spitze. Die ehemalige OGH-Präsidentin Irmgard Griss landete auf einem respektablen dritten Platz, während sich die Vertreter der Parteien der mittelgroßen Koalition, Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Andreas Khol (ÖVP), allein damit trösten konnten, immerhin noch mehr Stimmen erhalten zu haben als das Enfant terrible Richard Lugner.

In seinem vorstehend verlinkten Beitrag sprach der Verfasser dieser Zeilen davon, dass dieses Ergebnis "natürlich kein Zufall" gewesen sei, da nur noch die FPÖ und die Grünen "einen Gestaltungswillen und eine ideologische Tiefenschärfe" verkörperten, welche die sogenannten Altparteien nicht mehr besäßen. Dieser Befund ist zu korrigieren beziehungsweise zu präzisieren: Hofer gegen van der Bellen ist die zeitgeistkorrekte Paarung, während in den USA die eigentlich "richtige" Begegnung dadurch verhindert wurde, dass die Demokraten Hillary Clinton und nicht Bernie Sanders zu ihrem Bewerber um das Weiße Haus nominierten.
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Freilich: Man mag zu Recht einwenden, dass van der Bellen jedenfalls in seiner gegenwärtigen Positionierung wohl weniger weit links steht als Sanders und sich Hofer nicht so radikal wie Donald Trump geriert. Doch dürften die (österreichischen wie deutschen) Grünen in Bezug auf ihr - formulieren wir es wertfrei - Engagement für Minderheiten am ehesten mit Sanders vergleichbar sein, während Trump an alpenrepublikanischen Verhältnissen gemessen die größten Affinitäten zur FPÖ aufweist.

Blau versus Grün respektive Trump gegen Sanders - was ist nun das Besondere an diesen Antagonismen? Der Verfasser dieser Zeilen ist der Ansicht, dass die politische Frage, welche die Wahlen der nächsten Jahre entscheiden wird, die folgende ist: Wollen wir eine Gesellschaft, in der die Mehrheit eine Leitkultur vorgibt und diese kompromisslos durchsetzt oder möchten wir in halkyonischer Ruhe nebeneinander lebende Parallelgesellschaften? Jeweils mit Misstönen repräsentiert den ersten Entwurf niemand derart so unbeirrt wie die FPÖ/Trump, während die zweite Vision die der Grünen/Sanders' ist.

Um zu verstehen, was der Autor dieser Zeilen sagen möchte, ist es hilfreich, diesen auch auf ZEIT-Online erschienenen, von Rudi Novotny, Khuê Pham und Marie Schmidt verfassten Artikel zu lesen. Der Beitrag ist lang. Aber bitte nehmen Sie sich die Zeit für die Lektüre. Es lohnt sich. Das Stichwort ist victimhood culture, zu deutsch wörtlich: "Opferschaftskultur" oder freier und besser: "Opferkult". Damit ist eine Art Idiosynkrasie einer augenscheinlich mit einem erklecklichen Maß an Tagesfreizeit ausgestatteten Studentenelite gemeint, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Mikro-Aggressionen und "kulturelle Aneignung" aufzuspüren und deren Urheber dem digitalen Ostrazismus des Shitstorms zu überantworten.

Küchenpsychologisch formuliert lässt sich die victimhood culture als eine Art institutionalisierter Neurose beziehungsweise Paranoia verstehen: Es ist ein Blick auf die Welt, der jede Äußerung im bedenklichsten Sinn auslegt und mit einer Leiden schaffenden Leidenschaft danach trachtet, in allem eine Beleidigung der eigenen Identität zu erblicken. Generationen deutschsprachiger Kinder, die sich vor lauter Winnetou-Verehrung im Fasching eine Feder ins Haar gesteckt haben, sind der kulturellen Aneignung schuldig geworden. Und fragen Sie den Autor dieser Zeilen, wenn Sie ihm einmal jenseits von Eden begegnen sollten, ja nicht nach seiner Herkunft, nur weil Ihnen sein meridionaler accent spanisch vorkommt; denn das wäre eine unverzeihliche Mikro-Aggression.

Wenn die ZEIT-Redakteure die Opferkult-Anhänger im Hinblick auf deren Methoden des Stalinismus zeihen, so ist das vollkommen richtig. Umso weniger verständlich mutet es an, wenn Schmidt, Pham und Novotny "bis heute" diskutieren, welche "Haltung [...] man zu diesen neuen Radikalen haben" soll (Zitat aus dem Kasten "Die Recherche" am Ende des Artikels von Novotny/Pham/Schmidt, "Linke Bewegungen. Die neuen Radikalen", Die Zeit Nr. 30/2016). Für auch nur ansatzweise Liberale dürfte die Antwort klar sein: Die jungen Totalitären sind Feinde der Freiheit, mit denen es keinen wenn auch noch so kleinen gemeinsamen Nenner geben kann.

Erweist man den Neostalinisten nicht zu viel der Ehre, indem man sie nicht einfach ignoriert? Die Versuchung wäre freilich groß, die unfreiwillig satirischen Einlassungen dieser dogmatischen Studenteska links liegen zu lassen. Nur stellt sich dabei ein Problem: Der Opferkult hat schon längst in Bereiche ausgegriffen, die für das Wohl und Wehe dieses Staates durchaus von Bedeutung sind. Wenn ein Bundesjustizminister dem Druck der Aktivistinnen nachgibt und die Burka für textilarme Werbung fordert; wenn eine Bundesministerin für "Familie und Gedöns" (Gerhard Schröder - ist das noch eine Mikro- oder schon eine Makro-Aggression?) während eines laufenden Strafverfahrens einer mit Hashtag ausgestatteten und deshalb relevanten Unterstützergruppe zugunsten der Angeklagten beitritt, dann würde man eigentlich eine an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lassende Reaktion der vielbesungenen politischen Mitte auf diese ideologischen Positionierungen erwarten. Doch was findet tatsächlich statt: Beredtes Schweigen.

Die victimhood culture ist die Absage an eine integrierende und intgerierte Gesellschaft. In einer solchen kommt es nämlich ständig zu Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen. Wer etwas aus den Konsensdiktaturen des 20. Jahrhunderts gelernt hat, kann eine konfliktfreie Gesellschaft nicht als Ideal betrachten, führte der Wunsch danach unter Hitler, Stalin und Mao doch zur physischen Vernichtung derjenigen, die als Hindernis auf dem Weg in die vermeintlich schöne, neue Welt diffamiert wurden. Der Versuch, das Paradies auf Erden zu schaffen, ist untrennbar mit der abscheulichen Anmaßung verbunden, auch gleich das Jüngste Gericht hienieden selbst in die Hand zu nehmen.

Auf einer weniger existenziellen Ebene hinterlässt der Befindlichkeitsfuror ebenso seine Spuren: Wer will es zum Beispiel dem weißen, männlichen Arbeitgeber verdenken, wenn dieser ausschließlich weißes, männliches Personal einstellt, da er befürchten muss, dass ein Angehöriger einer als solcher akzeptierten Minderheit im Fall einer Auseinandersetzung die Opferkarte spielt? Wenn er nicht so ungeschickt ist, seine wahren Motive zu entblößen, so kann dem Arbeitgeber niemand einen Strick aus der Wahl seiner Mitarbeiter drehen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ins Übertriebene kippende Schutznormen - wie man sie insbesondere im Verbraucherschutz-, Miet- und Arbeitsrecht findet - letztlich dazu führen, dass die Begünstigten dieser Vorschriften schlechter dastehen, als dies ohne diese Bestimmungen der Fall wäre. Analoges gilt für die victimhood culture: Falls man vor Shitstorm, Schimpf und Schande nur noch dann sicher ist, wenn man den potenziell Beleidigten weiträumig aus dem Weg geht, haben wir eine segregative Gesellschaft.

Wie kommen nun Trump, Marine Le Pen, Strache und Hofer, Petry e tutti quanti ins Spiel? Es ist ein Problem der westlichen Politiklandschaften, dass Personen wie die vorgenannten derzeit die Einzigen sind, die sich dem Wahnwitz der victimhood culture glaubwürdig in den Weg stellen. Dies ist ein Armutszeugnis für die sogenannte Mitte des Parteienspektrums und - wenn es nicht so traurig wäre - eine Ironie der Geschichte: Gerade diejenigen, an deren lupenreinem Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis man durchaus zweifeln kann, erkennen die Fratze des Totalitarismus, auch wenn dieser nicht im Braunhemd, sondern in der "Nonkonformistenuniform" (Reinhard Mey, Annabelle) daherkommt.

Dem italienischen Schriftsteller Ignazio Silone wird das folgende Zitat zugeschrieben:
Quando tornerà il fascismo, non dirà "io sono il fascismo". No, dirà "io sono l'antifascismo".
Wenn der Faschismus wiederkommt, wird er nicht sagen: "Ich bin der Faschismus." Nein, er wird sagen: "Ich bin der Antifaschismus."
Wie beängstigend prophetisch diese Worte doch wirken.
Noricus

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