(Brendan O'Neill, The Spectator vom 22.11.2014)
Kommentar:
In seinem lesenswerten Artikel nimmt Brendon O'Neill die no platform policy an britischen Universitäten unter die Lupe und zeichnet ein düsteres Bild. Als Beispiel führt er an, dass er aufgrund radikalfeministischer Proteste als Teilnehmer einer geplanten Diskussion zum Thema Abtreibung ausgeladen wurde. Aufgrund einer fehlenden Gebärmutter wurde er als nicht berechtigt angesehen, sich zu diesem Thema zu äußern.
Gerade die Leuchttürme Oxford und Cambridge, die ich mir als Kontinentaleuropäer stets als Hort der freien Debatte vorgestellt habe, sind mittlerweile fest im Griff postmoderner Ideologien.
So at one of the highest seats of learning on Earth, the democratic principle of free and open debate, of allowing differing opinions to slog it out in full view of discerning citizens, has been violated, and students have been rebranded as fragile creatures, overgrown children who need to be guarded against any idea that might prick their souls or challenge their prejudices. One of the censorious students actually boasted about her role in shutting down the debate, wearing her intolerance like a badge of honour in an Independent article in which she argued that, ‘The idea that in a free society absolutely everything should be open to debate has a detrimental effect on marginalised groups.’Dieses Konzept, meist vereinfacht als "politische Korrektheit" zusammengefasst, ist im angelsächsischen akademischen Raum bereits in den 80ern entstanden und war ursprünglich eine sprachpädagogische Idee, um das Bewusstsein gegenüber der Ausgrenzung von Minderheiten zu schärfen.
So wurde an einer der weltweiten Hochburgen der Lehre das demokratische Prinzip der freien und offenen Debatte, der Möglichkeit für verschiedene Meinungen, ihren Disput vor aufmerksamen Zuschauern auszutragen, mit Füßen getreten. Studenten wurden zu zerbrechlichen Kreaturen und großen Kindern umgedeutet, die vor jedem Gedanken beschützt werden müssen, der an ihren Seelen nagen oder ihre vorgefassten Meinungen in Frage stellen könnte. Eine der Maulkörbe verteilenden Studentinnen prahlte sogar über ihren Beitrag zur Verhinderung der Diskussion und stellte ihre Intoleranz wie einen Orden zur Schau. In einem Independent-Artikel argumentierte sie wie folgt: "Die Vorstellung, dass in einer freien Gesellschaft wirklich alles Gegenstand einer offenen Debatte sein sollte, hat einen benachteiligenden Effekt auf Randgruppen".
Nun zeugt es nicht gerade von Ideenreichtum, in einem liberalen oder konservativen Blog gegen PC zu wettern. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Begriffe "PC" oder auch "(Selbst-)Zensur" die Vorgänge nicht mehr treffend beschreiben. Dass man nicht mehr "Neger" sagen sollte, selbst wenn sich kein Dunkelhäutiger davon beleidigt fühlte, war maximal nervig. Aber in der aktuellen Variante geht es nicht mehr um Minderheitenschutz, sondern um die Verhinderung der freien Meinungsäußerung. Das hat auch mit Zensur nichts zu tun, denn Zensur ist immer vertikal; ein Mittel der Mächtigen gegenüber den Ohnmächtigen. Was aber jetzt passiert, ist horizontal. Und deshalb viel gefährlicher, weil es den Widerstand erheblich erschwert. Aber wie kommt es dazu, dass die Meinungsfreiheit so an Bedeutung verliert, gerade dort, wo wir es nicht vermutet hätten?
Die aktuelle Denkweise - in der akademischen Sphäre sowohl im angelsächsischen als auch im kontinentalen Raum - ist sehr stark von der Postmoderne geprägt, vor allem vom Dekonstruktivismus. Der ist zwar in der Philosophie ziemlich tot, aber die ganzen an sich theorie- und empiriearmen Sozial- und Kulturwissenschaften gründen alle darauf. Es kostet viel an Nerven, sich mit diesem komplexitätsmaximierenden Begriffswust näher zu beschäftigen, aber zum Glück steckt so wenig dahinter, dass man die für unser Phänomen relevanten Prämissen auf ein paar Sätze eindampfen kann:
1. Der Zugang zur Welt besteht aus "Narrativen" und "Diskursen".
Das klingt zunächst einmal wunderbar offen und demokratisch. Ist es aber nicht. Denn zum einen wertet es die Fakten ab, und zum anderen gilt:
2. Diskurse und Narrative sind immer kontextabhängig, und der Kontext bildet ein Machtverhältnis ab.
Wenn man aber nun jede Art von Aussage nur als von kulturellen Konstrukten beeinflusst bewertet und hinter dieser Konstruktion eine Machtausübung sieht, bleibt kein Raum mehr für einen Austausch von Argumenten. Die Diskussion weicht der Diskursanalyse, d.h. der Beschreibung der Relation der anderen Aussage zur eigenen aus der Perspektive des Machtverhältnisses. Und damit ist auch die Idee der PC am Ende, denn der konkrete Schwarze, der möglicherweise einer tatsächlichen rassistischen Handlung eines konkreten Weißen ausgesetzt ist, wird zur abstrakten Größe innerhalb eines von der Macht des abstrakten Weißseins über das abstrakte Schwarzsein geprägten Kontextes.
Diese Denkweise - es ist ja nicht einmal eine Ideologie, weil sie so ideenlos ist - ist unemanzipatorisch, antiliberal, geradezu unmenschlich. Der einzelne Mensch existiert drin nicht, er hat keine Vernunft, keinen Verstand, keine Moral, sondern ist kulturell determiniert, entweder als Täter oder als Opfer.
Nun könnte man entgegnen, dass an der guten, alten, geradezu christlichen Haltung, auf Seiten der Schwachen zu stehen, ja gar nichts verkehrt ist. Und dass die Universitäten im Sinne der ganzheitlichen Bildung ja gut daran täten, ihre Studenten in dem Sinne zu prägen. Wenn es nur so wäre! Abgesehen davon, dass die "Mächtigen" sowieso die üblichen Verdächtigen sind - Amerikaner, Weiße, Männer, Heteros, Konzerne - geht es beim Eintreten für die Opfer niemals um konkrete Handlungen als vielmehr um die Einstellung. Es ist wichtiger, eine "Willkommenskultur" für Flüchtlinge zu befördern als tatsächlich Flüchtlingen die Hand zum Willkommensgruß zu reichen. Auch der Begriff des "Gutmenschen" ist somit nicht passend.
Es verwundert insgesamt nicht, dass diese Art, die Welt zu betrachten, so erfolgreich ist. Zum einen ist es die Einfachheit: Wenn man die grundlegenden Zusammenhänge einmal gehört hat, bedarf es keiner intellektuellen Großtaten mehr, um es anzuwenden. Außerdem steht man automatisch auf der richtigen Seite und kann sich dem Wettbewerb der Ideen bequem entziehen.
Obwohl es sich dabei nicht um eine Ideologie im klassischen Sinne handelt - dazu ist das Ganze zu abstrakt - hat der Dekonstruktivismus totalitäre Züge. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Auseinandersetzungen hochemotional geführt werden. Was von der dahinterliegenden Theorie eigentlich ein nettes akademisches Glasperlenspiel sein könnte, nimmt selbst alltägliche Wahrnehmungen in Beschlag; und die Täter-Opfer-Distinktion zieht sich durch alle Bereiche. Das Private wird politisch, und jede Handlung, jede Aussage macht sich dadurch bewertbar und angreifbar.
Für Meinungsfreiheit ist da kein Platz mehr.
Meister Petz
© Meister Petz. Titelvignette: The Newseum's Five (5) freedoms guaranteed by the First Amendment of the US Constitution. Autor: dbking. Lizenz: CC BY 2.0. Für Kommentare bitte hier klicken.