Können Sie auch so schlecht etwas wegwerfen? Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß Sie zur eher älteren Generation gehören.
Das Sammeln, das Aufheben, das Hamstern und Horten, das Nicht-Wegwerfen-Können sitzt denen in den Knochen, die erlebt haben, was es bedeutet, etwas nicht zu haben. Etwas vom Einfachsten nicht zu haben - genug zu essen, Heizmaterial im Winter, Kleidung und Unterkunft. Oder auch dasjenige, das als Luxus galt; Bücher, ein Radio, Schallplatten.
Wer vor ungefähr 1950 geboren ist - in Deutschland geboren ist, sollte ich hinzufügen -, der hat gelernt, daß diese Dinge zu besitzen nichts Selbstverständliches ist. Er hat selbst erfahren, er hat vor allem auch von seinen Eltern und Großeltern erklärt bekommen, wie wichtig es sein kann, etwas aufzubewahren, das man später brauchen kann. Oder es vielleicht tauschen kann gegen etwas, das man dringender braucht als das, was man zu tauschen bereit ist.
Man warf keine Lebensmittel weg; auch wenn sie schon angegammelt waren. Verschimmelte Stellen wurden weggeschnitten. Manches wurde durch ein kräftiges Aufkochen wieder genießbar gemacht. Und vieles konnte in der Natur gesammelt werden: Bucheckern, Kastanien, Hagebutten. Natürlich die Ähren, die auf den Feldern liegen geblieben waren, nachdem der Bauer diese abgeerntet hatte.
Man war Meister dessen, was man heute recycling nennt. Die erste Puppe, die meine Schwester bekam, war aus den Resten zerschlissener Kleidung gemacht. Ich hatte Hausschuhe aus dem Leder eines breiten Gürtels, den ein Urgroßvater als Turner besessen hatte ("Frisch, fromm, fröhlich, frei" - der Teil mit der Stickerei war bei der Verwertung übrig geblieben).
Begehrt für das Schneidern waren Uniformen, die Heimkehrer aus dem Feld mitgebracht hatten; vor allem Mäntel wegen des strapazierfähigen Materials. Auch Stahlhelme ließen sich mannigfach verwenden. Alte Wollsachen konnte man aufdröseln und aus den Wollfäden das stricken oder häkeln, das man brauchte.
Zeitungspapier wurde nicht weggeworfen, sondern fand seine Weiterverwertung. Meine Großmutter schnitt sorgsam daraus Handgerechtes fürs stille Örtchen zurecht und band es mit einer Schnur zusammen. Wir Kinder rührten aus eingeweichtem Zeitungspapier und Kleister Pappmaché, aus dem man zum Beispiel die Köpfe von Figuren für ein Kasperltheater basteln konnte.
Arno Schmidt hat in Brand's Haide (erschienen 1951) beschrieben, wie sich ein Heimkehrer in dem ihm als Unterkunft zugewiesenen leeren Abstellraum einrichtet:
Man ging, wenn man so will, überaus sorgsam mit allen "Ressourcen" um. Nur tat man das nicht aus Moral, sondern aus Not. Es gab keine "Wegwerfmentalität". Aber nicht, weil jemand gegen diese gepredigt hätte; sondern weil man sich das Wegwerfen nicht leisten konnte.
Also war es eine Lust, eine Befreiung, als man nach der Währungsreform endlich wieder konsumieren konnte. Und zwar frei konsumieren konnte; mit der Möglichkeit des Wählens und damit - was jedes Wählen einschließt - auch des Verwerfens.
Des Verwerfens auch in einem ganz wörtlichen Sinn: Lebensmittel konnte man jetzt wegwerfen; nicht nur, wenn sie verdorben waren, sondern auch schon, wenn sie nicht schmeckten. Jüngere Kinder bekamen ihre eigene Kleidung, statt die der älteren Geschwister auftragen zu müssen. Diese warf man weg. Man konnte es sich leisten, das alte Radio wegzuwerfen, wenn man ein neues, viel besseres gekauft hatte.
Man durfte endlich verschwenden. Das war lustvoll. Es war ein Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit. Es war schön, es war bequem, verschwenderisch zu sein.
Statt das Bier in schweren Flaschen herbei- und das Leergut dann wieder zurückzuschleppen, konnte man sich den Luxus des Dosenbiers leisten. "Ex und hopp" - wunderbar! Man mußte nicht mit der Einkaufstasche herumlaufen, sondern nahm das Eingekaufte in praktischen Plastiktüten mit. Später konnten sich die Muttis die Mühsal des Windelwaschens ersparen, wenn sie Wegwerfwindeln kauften.
Es entstand die Wegwerfgesellschaft. Eine bessere, eine schönere Gesellschaft. Kein Wegwerf-Artikel wurde ja irgendwem aufgezwungen. Wer sich für ihn entschied, der tat das, weil es der bessere Artikel, die bessere Lösung war. Er tat das als freier Bürger, als freier Konsument. Wer sich dieser Lust, dieser Freiheit des Wegwerfens nicht hingeben konnte oder wollte, weil in ihm die Mentalität des Aufhebens und Ausschlachtens zu tief saß, der war frei, das zu tun.
Die fünfziger und die sechziger Jahre waren, entgegen einer später sich ausbreitenden Legende, keine "bleierne Zeit". Sie waren eine Zeit wachsender Freiheit, wachsenden Wohlstands, einer immer größeren Lust am Leben. Der Schlager von 1957 "Es geht besser besser besser, immer besser besser besser" traf das Lebensgefühl dieser Jahre.
Die Umbruchszeit der späten sechziger und frühen siebziger Jahre änderte das sehr abrupt. Ich habe diesen erstaunlichen Umbruch in früheren Artikeln beschrieben und kommentiert (Die Nachkriegskinder; ZR vom 4. 5. 2008 und Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).
Es begann ab Ende der sechziger Jahre eine erste Generation sich zu artikulieren, die keine Zeit der Entbehrungen mehr gekannt hatte. Die Geburtsjahrgänge also ab ungefähr 1950, die, weil ihnen diese Erfahrung fehlte, die Freiheit des Konsumierens als "Konsumterror" mißdeuteten. Das Kaufen, Konsumieren und Wegwerfen wurde in einen Bereich gehoben, in dem es nichts zu suchen gehabt hatte: Dem der Moral.
Erst von alternativen Außenseitern, dann immer lauter von Vielen erhoben tauchte die Forderung auf zu verzichten. Nicht, weil es das nicht zu kaufen gibt, was man will. Sondern weil es moralisch schlecht sein sollte, sich das zu leisten, was man sich leisten kann.
Es stellten sich manche Verhaltensweisen der Zeit der Entbehrungen wieder ein. Man strickte sich wieder selbst seine Pullover, kehrte von den Bierdosen zu Glasflaschen zurück, man bemühte sich um Aufheben und Wiederverwenden. Es wurde wieder Obst eingekocht, man fuhr wieder Fahrrad wie die Großeltern, für die ein Auto ein Traum geblieben war.
Aber die Ähnlichkeit war und ist oberflächlich. Denn das alles, diese neue Askese, ist ja nicht notwendig. Diese Haltung des Nichtverschwendens wird mit - im Wortsinn - weit hergeholten Begründungen gerechtfertigt, die wechseln. Erst war es die Armut der "Dritten Welt", dann die Endlichkeit der Ressourcen und die Verschmutzung der Umwelt; aktuell ist es die dräuende "Klimakatastrophe".
Die narratives, die diese Lebenshaltung schmückenden und sie rechtfertigenden Glaubensinhalte, sind austauschbar. Die Haltung bleibt.
Warum diese Haltung? Ich weiß es nicht. Man kann da wohl nur spekulieren. Anfangs, bei den Achtundsechzigern, mag die Revolte gegen die Eltern das zentrale Element gewesen sein. Bald bekam die "Bewegung" einen immer mehr pseudoreligiösen Charakter.
Es ist, so scheint mir, eine Ersatzreligion, die uns das Verschwenden verbieten will. Die selbst ernannten Hohepriester wollen herrschen, indem sie die Moral bestimmen. Ich kann mit dieser Moral nichts anfangen; ich schätze ihre Priester überhaupt nicht. Ich mag das Verschwenden. Ich lobe mir die Verschwendung.
Das Sammeln, das Aufheben, das Hamstern und Horten, das Nicht-Wegwerfen-Können sitzt denen in den Knochen, die erlebt haben, was es bedeutet, etwas nicht zu haben. Etwas vom Einfachsten nicht zu haben - genug zu essen, Heizmaterial im Winter, Kleidung und Unterkunft. Oder auch dasjenige, das als Luxus galt; Bücher, ein Radio, Schallplatten.
Wer vor ungefähr 1950 geboren ist - in Deutschland geboren ist, sollte ich hinzufügen -, der hat gelernt, daß diese Dinge zu besitzen nichts Selbstverständliches ist. Er hat selbst erfahren, er hat vor allem auch von seinen Eltern und Großeltern erklärt bekommen, wie wichtig es sein kann, etwas aufzubewahren, das man später brauchen kann. Oder es vielleicht tauschen kann gegen etwas, das man dringender braucht als das, was man zu tauschen bereit ist.
Man warf keine Lebensmittel weg; auch wenn sie schon angegammelt waren. Verschimmelte Stellen wurden weggeschnitten. Manches wurde durch ein kräftiges Aufkochen wieder genießbar gemacht. Und vieles konnte in der Natur gesammelt werden: Bucheckern, Kastanien, Hagebutten. Natürlich die Ähren, die auf den Feldern liegen geblieben waren, nachdem der Bauer diese abgeerntet hatte.
Man war Meister dessen, was man heute recycling nennt. Die erste Puppe, die meine Schwester bekam, war aus den Resten zerschlissener Kleidung gemacht. Ich hatte Hausschuhe aus dem Leder eines breiten Gürtels, den ein Urgroßvater als Turner besessen hatte ("Frisch, fromm, fröhlich, frei" - der Teil mit der Stickerei war bei der Verwertung übrig geblieben).
Begehrt für das Schneidern waren Uniformen, die Heimkehrer aus dem Feld mitgebracht hatten; vor allem Mäntel wegen des strapazierfähigen Materials. Auch Stahlhelme ließen sich mannigfach verwenden. Alte Wollsachen konnte man aufdröseln und aus den Wollfäden das stricken oder häkeln, das man brauchte.
Zeitungspapier wurde nicht weggeworfen, sondern fand seine Weiterverwertung. Meine Großmutter schnitt sorgsam daraus Handgerechtes fürs stille Örtchen zurecht und band es mit einer Schnur zusammen. Wir Kinder rührten aus eingeweichtem Zeitungspapier und Kleister Pappmaché, aus dem man zum Beispiel die Köpfe von Figuren für ein Kasperltheater basteln konnte.
Arno Schmidt hat in Brand's Haide (erschienen 1951) beschrieben, wie sich ein Heimkehrer in dem ihm als Unterkunft zugewiesenen leeren Abstellraum einrichtet:
Eine Chaiselongue ohne Kopfteil und Federn, der auch der Bezugsstoff fehlt? Die Lehrermutter verkaufte mirs, und ein paar Bretter, die ich barsch zurecht schnitt und auf den (ganz soliden, nebenbei) Holzrahmen nagelte. Blieb sogar noch was übrig; wenn ich mein Koppel zerschneide, kann ich n Paar Holzlatschen draus machen (...)Alte Geräte hat man in dieser Zeit bis 1950 "ausgeschlachtet"; irgend etwas war immer darin, das man noch gebrauchen konnte. Jedenfalls vielleicht. Also erst einmal aufheben. "Wegwerfen kann man es immer noch".
Ich räumte meine Kiste aus (...); wenn ich auf dem "Bett" saß, war sie, auf den Schemel gestellt, ein Tisch. (...) Morgen mußte ich irgendwie ein Wandbrettchen machen. Und kalt wars in dem Stall; aber an einen Ofen war gar nicht zu denken; ich holte die 2 Stück Holz aus der Tasche, legte sie in die Stubenecke, und projizierte mir wehmütig den dazugehörigen Ofen herum, mit glimmenden Feuermäulchen.
Man ging, wenn man so will, überaus sorgsam mit allen "Ressourcen" um. Nur tat man das nicht aus Moral, sondern aus Not. Es gab keine "Wegwerfmentalität". Aber nicht, weil jemand gegen diese gepredigt hätte; sondern weil man sich das Wegwerfen nicht leisten konnte.
Also war es eine Lust, eine Befreiung, als man nach der Währungsreform endlich wieder konsumieren konnte. Und zwar frei konsumieren konnte; mit der Möglichkeit des Wählens und damit - was jedes Wählen einschließt - auch des Verwerfens.
Des Verwerfens auch in einem ganz wörtlichen Sinn: Lebensmittel konnte man jetzt wegwerfen; nicht nur, wenn sie verdorben waren, sondern auch schon, wenn sie nicht schmeckten. Jüngere Kinder bekamen ihre eigene Kleidung, statt die der älteren Geschwister auftragen zu müssen. Diese warf man weg. Man konnte es sich leisten, das alte Radio wegzuwerfen, wenn man ein neues, viel besseres gekauft hatte.
Man durfte endlich verschwenden. Das war lustvoll. Es war ein Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit. Es war schön, es war bequem, verschwenderisch zu sein.
Statt das Bier in schweren Flaschen herbei- und das Leergut dann wieder zurückzuschleppen, konnte man sich den Luxus des Dosenbiers leisten. "Ex und hopp" - wunderbar! Man mußte nicht mit der Einkaufstasche herumlaufen, sondern nahm das Eingekaufte in praktischen Plastiktüten mit. Später konnten sich die Muttis die Mühsal des Windelwaschens ersparen, wenn sie Wegwerfwindeln kauften.
Es entstand die Wegwerfgesellschaft. Eine bessere, eine schönere Gesellschaft. Kein Wegwerf-Artikel wurde ja irgendwem aufgezwungen. Wer sich für ihn entschied, der tat das, weil es der bessere Artikel, die bessere Lösung war. Er tat das als freier Bürger, als freier Konsument. Wer sich dieser Lust, dieser Freiheit des Wegwerfens nicht hingeben konnte oder wollte, weil in ihm die Mentalität des Aufhebens und Ausschlachtens zu tief saß, der war frei, das zu tun.
Die fünfziger und die sechziger Jahre waren, entgegen einer später sich ausbreitenden Legende, keine "bleierne Zeit". Sie waren eine Zeit wachsender Freiheit, wachsenden Wohlstands, einer immer größeren Lust am Leben. Der Schlager von 1957 "Es geht besser besser besser, immer besser besser besser" traf das Lebensgefühl dieser Jahre.
Die Umbruchszeit der späten sechziger und frühen siebziger Jahre änderte das sehr abrupt. Ich habe diesen erstaunlichen Umbruch in früheren Artikeln beschrieben und kommentiert (Die Nachkriegskinder; ZR vom 4. 5. 2008 und Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).
Es begann ab Ende der sechziger Jahre eine erste Generation sich zu artikulieren, die keine Zeit der Entbehrungen mehr gekannt hatte. Die Geburtsjahrgänge also ab ungefähr 1950, die, weil ihnen diese Erfahrung fehlte, die Freiheit des Konsumierens als "Konsumterror" mißdeuteten. Das Kaufen, Konsumieren und Wegwerfen wurde in einen Bereich gehoben, in dem es nichts zu suchen gehabt hatte: Dem der Moral.
Erst von alternativen Außenseitern, dann immer lauter von Vielen erhoben tauchte die Forderung auf zu verzichten. Nicht, weil es das nicht zu kaufen gibt, was man will. Sondern weil es moralisch schlecht sein sollte, sich das zu leisten, was man sich leisten kann.
Es stellten sich manche Verhaltensweisen der Zeit der Entbehrungen wieder ein. Man strickte sich wieder selbst seine Pullover, kehrte von den Bierdosen zu Glasflaschen zurück, man bemühte sich um Aufheben und Wiederverwenden. Es wurde wieder Obst eingekocht, man fuhr wieder Fahrrad wie die Großeltern, für die ein Auto ein Traum geblieben war.
Aber die Ähnlichkeit war und ist oberflächlich. Denn das alles, diese neue Askese, ist ja nicht notwendig. Diese Haltung des Nichtverschwendens wird mit - im Wortsinn - weit hergeholten Begründungen gerechtfertigt, die wechseln. Erst war es die Armut der "Dritten Welt", dann die Endlichkeit der Ressourcen und die Verschmutzung der Umwelt; aktuell ist es die dräuende "Klimakatastrophe".
Die narratives, die diese Lebenshaltung schmückenden und sie rechtfertigenden Glaubensinhalte, sind austauschbar. Die Haltung bleibt.
Warum diese Haltung? Ich weiß es nicht. Man kann da wohl nur spekulieren. Anfangs, bei den Achtundsechzigern, mag die Revolte gegen die Eltern das zentrale Element gewesen sein. Bald bekam die "Bewegung" einen immer mehr pseudoreligiösen Charakter.
Es ist, so scheint mir, eine Ersatzreligion, die uns das Verschwenden verbieten will. Die selbst ernannten Hohepriester wollen herrschen, indem sie die Moral bestimmen. Ich kann mit dieser Moral nichts anfangen; ich schätze ihre Priester überhaupt nicht. Ich mag das Verschwenden. Ich lobe mir die Verschwendung.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Antike Büste von Ianus, dem Gott des Übergangs und der Veränderung; Vatikan-Museum. Fotografie vom Autor Fubar Obfusco in die Public Domain gestellt. Bearbeitet.