9. Dezember 2010

Zitat des Tages: Nobelpreis für Julian Assange? WiKiLeaks, die Chinesen, der demokratische Rechtsstaat

Wäre Julian Assange ein Chinese, hätte ihm der Westen den Nobelpreis verliehen.

Der Nutzer "@Madversity" bei Twitter, zitiert von sueddeutsche.de.


Kommentar: Wäre Julian Assange ein Chinese, dann würde man ihn selbstredend genauso kritisieren wie jetzt den Australier Assange, wenn mit Hilfe dieses Chinesen die US-Diplomatie ausgespäht worden wäre.

Aber das meint @Madversity natürlich nicht. Er meint: "... hätte jemand chinesische Geheimnisse ausgespäht". Er will sagen, daß unterschiedlich geurteilt wird, je nachdem, wer Opfer eines solchen Geheimnisverrats ist.

So ist es. Und das nun allerdings zu Recht. Wenn eine Diktatur Verbrechen begeht und diese geheimhält, dann kann es durchaus legitim sein, diese herauszufinden und öffentlich zu machen. Hätte jemand zur Zeit des Holocaust Dokumente über Auschwitz zugespielt bekommen und sie im Westen veröffentlicht, dann hätte er dafür in der Tat den Nobelpreis verdient gehabt.

Es ist bezeichnend und auch deprimierend, daß @Madversity den Unterschied offenbar nicht sehen kann.

Gesetzesbruch kann legitim sein, eine Notwehr gegen eine Diktatur. Aber daraus folgt doch nicht, daß er auch in und gegenüber demokratischen Rechtsstaaten erlaubt ist; daß er auch dann legitim ist, wenn es überhaupt nicht darum geht, Verbrechen publik zu machen, sondern nur die Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen, daß jemand aus der FDP der US-Botschaft in Berlin 2009 über die Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und seiner Partei berichtet hat.



Nicht nur diese Blindheit gegenüber dem Unterschied zwischen Rechts- und Unrechtsstaaten, sondern auch das Verhalten von Anhängern Assanges in den letzten Tagen zeigt, daß sie offenbar unfähig sind, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.

Julian Lassange sind Konten gekündigt worden. Selbstverständlich nicht unter Rechtsbruch, sondern im Rahmen dessen, was den betreffenden Instituten erlaubt ist. Die Antwort der Unterstützer besteht in dem Versuch, die WebSites von MasterCard und Visa zu blockieren. Das ist ungefähr so, als würde jemand, dem eine Bank den Kredit sperrt, sich Steine nehmen und die Fenster der Bank einwerfen.

In der günstigsten Sichtweise ist dieses Verhalten infantil. Der Staat ist böse, die Kreditinstitute sind böse, also auf sie mit Gebrüll. Die Reaktion trotziger, schlecht erzogener Gören.

Man kann das aber auch als das Verhalten von Menschen verstehen, denen es darum geht, die staatliche und gesellschaftliche Ordnung anzugreifen mit dem Ziel, sie zu zerstören.

Am Ende würde dann freilich nicht mehr Freiheit stehen, sondern ein Chaos, das - so hat es jedenfalls bisher die Geschichte gezeigt - in die Diktatur mündet.



Im Magazin City Journal hat dazu Theodore Dalrymple Treffendes geschrieben:
In the fanatically puritanical view of WikiLeaks, no one and no organization should have anything to hide. It is scarcely worth arguing against such a childish view of life.

The actual effect of WikiLeaks is likely to be profound and precisely the opposite of what it supposedly sets out to achieve. Far from making for a more open world, it could make for a much more closed one. Secrecy, or rather the possibility of secrecy, is not the enemy but the precondition of frankness.

WikiLeaks will sow distrust and fear, indeed paranoia; people will be increasingly unwilling to express themselves openly in case what they say is taken down by their interlocutor and used in evidence against them, not necessarily by the interlocutor himself. (...) A reign of assumed virtue would be imposed, in which people would say only what they do not think and think only what they do not say.

In der auf eine fanatische Weise puritanischen Sicht von WikiLeaks soll niemand und keine Organisation etwas zu verbergen haben. Es lohnt sich kaum, eine so infantile Sicht auf das Leben zu widerlegen.

Die tatsächliche Auswirkung von WikiLeaks wird wahrscheinlich tiefgreifend sein, und das Gegenteil dessen, was angeblich bewirkt werden soll. Weit davon entfernt, eine offenere Welt zu schaffen, könnte es eine viel geschlossenere schaffen. Geheimhaltung, oder vielmehr die Möglichkeit einer Geheimhaltung, ist nicht der Feind der Offenheit, sondern ihre Voraussetzung.

WikiLeaks wird Mißtrauen und Angst säen, ja Paranoia; man wird immer weniger bereit sein, sich offen zu äußern, wenn das, was man sagt, vom Gesprächspartner notiert und gegen einen verwendet werden kann; wenn auch nicht unbedingt vom Gesprächspartner selbst. (...) Eine Herrschaft vermeintlicher Tugend würde durchgesetzt werden, in der die Menschen nur sagen, was sie nicht denken und nur denken, was sie nicht sagen.
Gewiß wird diese Befürchtung nicht gleich Realität, nur weil "Aktivisten" in ihrem Transparenz-Wahn jetzt Kreditinstitute angreifen und Sarah Palin daran hindern wollen, im Web ihre Meinung zu sagen.

Aber das Umschlagen der Freiheitsrhetorik in Gesetzlosigkeit, der Gesetzlosigkeit in totalitäre Tendenzen wird durchaus schon sichtbar.

Wer totale Offenheit erzwingen will, schafft die Voraussetzung für totale Kontrolle. Kontrolle durch Menschen, die ihre Möglichkeiten skrupellos nutzen; wie an den Hackerangriffen der letzten Tage zu besichtigen ist.

Man kann sich fragen, ob es wohl erträglicher wäre, unter der Herrschaft von Julian Assange und seinen Anhängern zu leben, oder dann nicht doch noch lieber unter derjenigen der chinesischen Kommunisten.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Thomas Pauli.