28. Mai 2009

Leben wir in einem Multiversum? Über die ständige Erweiterung unseres Weltbilds; im Wortsinn (Teil 2)

Die Umbrüche im Bild von der Beschaffenheit des Universums, die ich im ersten Teil nachgezeichnet habe, erstreckten sich oft über einen langen Zeitraum. Schon früh wurde eine Vermutung geäußert; aber dann dauerte es noch lange, bis sie so gut belegt war, daß sie zum gesicherten Wissen wurde.

Die Idee, daß die Spiralnebel nicht Bestandteile der Milchstraße sind, sondern eigene Milchstraßen, formulierte schon 1755 Immanuel Kant in seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" ("Fixsternensystemata, solche Milchstraßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ... die in verschiedenen Stellungen gegen das Auge mit einem ihrem unendlichen Abstande gemäß geschwächten Schimmer elliptische Gestalten darstellen"). Aber erst in den zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts gelang der eindeutige empirische Nachweis, daß Kant Recht gehabt hatte.

So könnte es auch mit der Idee sein, die jetzt zu besprechen ist; der Idee, daß unser beobachtbares Universum nicht das einzige ist; daß es nur ein Teil eines umfassenderen Multiversums ist.

In gewisser Weise liegt diese Idee in der Logik der Entwicklung unseres Weltbilds, in der erst die Erde, dann die Sonne, dann unsere Milchstraße sich lediglich als ein Teil - von den anderen nicht verschieden - eines jeweils übergeordneten Systems erwiesen. Wenn man das weiterdenkt, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es nicht auch für das beobachtbare Universum gelten könnte.

Freilich scheint hier die Kluft zwischen der Idee und dem Nachweis ihrer Richtigkeit besonders groß zu sein; denn wie will man etwas nachweisen, das definitionsgemäß nicht beobachtbar ist? Nun, vielleicht geht das doch. Jedenfalls gibt es jetzt Ansätze dazu.



An der Arizona State University gibt es einen interdisziplinären, sehr breit angelegten Forschungs- Schwerpunkt "Origins" (Anfänge), der sich mit Fragen wie dem Ursprung des Universums und der Entstehung des Lebens befaßt. Anfang April dieses Jahres fand in seinem Rahmen ein dreitägiges Symposion statt. Eines seiner Themen lautete "The Universe, Multiverse, Physical Laws" - Das Universum, Multiversum, physikalísche Gesetze.

Zu diesem Symposium und allgemein seiner Thematik ist in der aktuellen Ausgabe von Science News (Band 175, Nr. 12, 6. Juni 2009) ein Artikel von Tom Siegfried erschienen, durch den ich auf diese aktuelle Diskussion aufmerksam geworden bin.

Ihr Hintergrund sind eine Reihe von Beobachtungen, die seit den siebziger Jahren zu vielen Debatten Anlaß gegeben haben; sogenannte anthropische Koinzidenzen. Damit ist gemeint, daß unser Universum just so beschaffen ist, daß in ihm der Mensch entstehen konnte. Hätten Naturkonstanten nur geringfügig andere Werte, als sie tatsächlich haben, dann gäbe es keine Menschen, die sie als Wissenschaftler messen können, weil beispielsweise keine Sterne und Planeten hätten entstehen können. (Einen guten Überblick findet man z.B. auf der WebSite von Andrew Thomas).

Was hat das zu bedeuten? Im wesentlichen sind drei Antworten gegeben worden:
  • Es hat gar nichts zu bedeuten, sondern ist trivial. Die bedingte Wahrscheinlichkeit, daß ein Universum, in dem Menschen leben, so beschaffen ist, daß in ihm Menschen leben können, ist 1. Wäre das Universum anders, dann gäbe es uns eben nicht.

  • Zweitens gibt es den Schluß auf ein Design; auf etwas oder jemanden, der planmäßig das Universum so angelegt hat, daß der Mensch entstehen konnte.
  • Diese beiden Antworten sind offensichtlich wissenschaftlich unergiebig; sie ermöglichen keine Forschung, um sie zu überprüfen. Anders die dritte Antwort:
  • Es könnte sein, daß unser beobachtbares Universum nur eines unter vielen ist. Eben just jenes, in dem sich Leben entwickeln konnte. Das ist die Idee des Multiversums.
  • Zunächst erscheint auch das als eine wilde, nicht testbare Spekulation. Aber das ist offenbar nicht so.

    Denn diese Theorie wird inzwischen von namhaften Physikern und Kosmologen vertreten; zum Beispiel von Alan Guth, der am Massachusetts Institute of Technilogy (MIT) forscht und auf den die heute weithin akzeptierte Theorie der Inflation, der schnellen Ausdehnung des Universums als Folge des Urknalls, zurückgeht.

    In dieser Inflation, so meint Guth inzwischen, sind einzelne "Blasen" entstanden, in denen die Ausdehnung der Raumzeit langsamer voranging, so daß sich Materie zusammenballen konnte. Eine dieser Blasen ist unser beobachtbares Universum.

    Diese Theorie trifft sich mit der String- Theorie. Andrei Linde von der Stanford University, auch er ein Pionier der Theorie der Inflation, sagte auf dem Symposion in Arizona, daß die String- Theorie eine unendliche Anzahl solcher Blasen vorhersage, die zwar denselben allgemeinen physikalischen Gesetzen unterworfen seien, aber mit unterschiedlichen Varianten ("different realizations") dieser Gesetze.

    Alles nur Kopfgeburten der theoretischen Physik? Oder gibt es Brücken zur Empirie? Guth, Linde und andere, wie Alex Vilenkin von der Tufts University, suchen solche Brücken zu schlagen.

    Aus der Theorie des Multiversums lassen sich Vorhersagen über die durchschnittliche Temperatur ableiten, und da die Wahrscheinlichkeit am größten ist, daß unser Universum ein durchschnittliches ist, sollte die Temperatur, die wir in ihm messen, nah an der berechneten liegen.

    Auch für die Intensität der Dunklen Materie und die Anzahl der Quarks lassen sich Vorhersagen ableiten. Erste Berechnungen deuten darauf hin, daß sie stimmen könnten. Die Theorie des Multiversums ist heute eine ernstzunehmende Theorie, auf deren Grundlage intensiv geforscht wird.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Spiralgalaxie NGC 3627 (M66), aufgenommen vom Weltraumteleleskop Spitzer. Von der NASA in die Public Domain gestellt.