15. Dezember 2007

Der Aufstieg des Christoph Blocher und sein Hintergrund. Ein Gastkommentar von Manfred Messmer

Am Tag drei nach dem demokratischen Putsch der Vereinigten Bundesversammlung (Stände- und Nationalrat der Schweiz) gegen Bundesrat Blocher und die SVP ist die Konfusion über das so noch nie Dagewesene noch gross.

Überrascht waren alle über die Abwahl Herrn Blochers, am meisten diejenigen, welche das Ganze inszeniert hatten. Und wenn man die jubelnden Parlamentarier nach der Bekanntgabe des Resultats am Bildschirm sah, wie sie sich in die Arme fielen, fühlte man sich an eine dieser Friedensdemos erinnert. Endlich musste man sich nicht auf das Aushängen von bunten Fahnen und das Aufstellen von Lichterketten in kalter Nacht beschränken - nein, hier hatten die Guten den Bösen gestürzt.

Soviel zur Gefühlsduselei, die hier im Spiel war. Die SVP und Herr Blocher haben sich in den 90er Jahren aufgemacht, das politische System der Schweiz grundlegend zu verändern. So lautet die gängige Rede, und das glauben auch viele in der SVP.

Doch ich bezweifle, dass diese Partei, respektive deren geistiger Übervater Blocher, tatsächlich solches alleine, ohne Zeitumstände, überhaupt zustande brächten. Bekanntlich sind politische Grosswetterlagen so unberechenbar wie das Weltklima.

Seien wir deshalb zumindest in "Zettels Raum" ehrlich: Niemand hat derzeit nichts in der Hand. Wer heute siegt, ist morgen der Verlierer. Kleinste Veränderungen an einem unbedeutenden Gesetzesentwurf schlagen an unbeachteter Stelle hohe Wellen. Oder anders gesagt: Politik ist ein Mikadospiel.



Will man die schweizerische Politik verstehen, muss man etwas tiefer eintauchen in die Volksseele der Alpenrepublik und zunächst lernen, dass es so etwas wie die Schweiz gar nicht gibt. Das Land trat ja 1992 auf der Weltausstellung in Barcelona sinnigerweise mit dem Slogan „La Suisse n’éxiste pas“ an, was den Machern nicht zuletzt von den Bannerträger der SVP, die sich damals unter der Führung eines gewissen Herrn Blocher aufmachten, die politische Landschaft umzukrempeln, harsche Kritik eintrug.

Die Schweiz ist eine Willensnation. Deshalb heisst sie auch offiziell "Schweizerische Eidgenossenschaft". Und nicht nur so, sondern gleichwertig auch noch so: "Confédération Suisse", "Confederazione Svizzera", "Confederaziun Svizra". Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind die offiziellen Amtssprachen, die in den zur Schweiz zusammengeschlossenen 26 Kantonen - die Grenzen wurden 1848 vom Wiener Kongress gezogen - gesprochen werden. Seither gilt auch die immerwährende bewaffnete Neutralität.

Doch die deutsche Bezeichnung des Landes trifft den Kern der Schweiz weit besser als der Begriff „Konföderation“ (Zusammenschluss selbständiger Einheiten) in den lateinischen Sprachen. Genossenschaft - das ist Freiwilligkeitsprinzip und Selbstverantwortung sui generis. Und auf das Hochhalten dieser Prinzipien wird der Eid, der Schwur geleistet, seit 1291. Das ist der zentrale Mythos der Schweiz, der schweizerisch bescheiden von einer Wiese verkörpert wird, wo im Sommer Kühe weiden und im Winter Ruhe einkehrt, dem Rütli.

26 Kantone (Gliedstaaten), das bedeutet 26 Schulsysteme, 26 Bauverordnungen, 26 Steuersysteme, 26 Regierungen und Verwaltungen, 26 Polizeicorps, 26 Rechtssysteme, 26 Parlamente, 26 Gesundheitswesen und so weiter und so fort.

Und bis hinein in die 60er Jahre, als die Schweiz mit 600.000 Mann noch über eine der grössten Armeen der Welt verfügte, gab es noch kantonale Regimenter und Truppen. Das war die "Armee'61", und die Jahreszahl besagt auch, dass die Schweizer Armee ihre Blüte erreichte, als die eine Hälfte der Schweiz, nämlich die Frauen, weder das Stimm- noch das Wahlrecht hatte; und dies weder in den Gemeinden, noch in den Kantonen, und schon gar nicht auf nationaler Ebene.



Und damit sind wir beim Kernpunkt des vielbeschworenen schweizerischen Konkordanzsystems angelangt. Das System beruhte auf einer männlichen Bevölkerung, die im Alter von 20 bis über 50 (Offiziere) Militärdienst zu leisten hatte; auf in militärischen Wiederholungskursen konditionierten Männern, denen jährlich Gehorsam eingeimpft wurde. Auf Männern, die, so justiert an die Regeln des Oben und Unten, politische Entscheidungen fällten.

Männer, die daran glaubten, daß der da vorne, der im Militär die Befehle gab und im Alltag die Lohntüte, es schon richten werde. Damals wurde die Parteizugehörigkeit vom Vater auf den Sohn vererbt.

Eine typische Schweizer Karriere bestand bis in die 80er Jahre aus dem Dreiklang von Militär, Wirtschaft und Politik. So sassen denn die Chefs grosser Versicherungskonzerne für die damals staatstragende FDP im Nationalrat und führten als Milizoffiziere Regimenter oder trafen sich in Generalstabskursen. So ein strammer Schweizer Mann war so sein halbes Leben mit den Kollegen seines Jahrgangs und seines Kantons über das Militär verbunden.

Karrieren in der Privatwirtschaft wurden ebenso im jährlichen Wiederholungskurs oder in Generalstabsübungen entschieden wie die Preise fürs Bier oder die Autoversicherung. Und es war selbstverständlich, dass der Milizoffizier nicht nur für den jährlichen Militärdienst freigestellt wurde (unter Lohnfortzahlung), sondern dass er in grösseren Unternehmen und bei höheren Rängen auch auf ein Sekretariat in der Firma zurückgreifen konnte. Gleiches galt auch für Milizparlamentarier.

Die Schweizer Wirtschaft wurde durch Kartelle geprägt, was sich noch heute in den hohen Preisen gegenüber dem Ausland auswirkt. Wer vom Bund eine Einfuhrbewilligung für den Import von italienischer Salami bekam (das ist kein Witz), erhielt so etwas wie die Lizenz zum Gelddrucken. Der Streit über den freien Import von Wein dauerte Jahre.

Das alles ging den Rhein runter, als Ende der achtziger Jahre die Berliner Mauer fiel, als damit der Schweiz der Feind im Osten abhanden kam und den Europäern und Amerikanern das Interesse an der Schweiz verloren ging. Im November '89 war auch für die Schweiz der Zweite Weltkrieg zu Ende.

Die 90er Jahren waren denn auch geprägt, von einem wirtschaftlichen Niedergang, hohen Staatsdefiziten, von Arbeitslosigkeit (seit den dreissiger Jahren nicht mehr erlebt) und dem Schleifen der Kartelle. Mit dem Einzug der Marktwirtschaft wurde die Armee verkleinert, wurden Offiziers- und Politkarrieren in den Unternehmen nicht mehr unterstützt. Ausländische Chief Executive Officers hatten kein Verständnis dafür, wenn Kaderleute für Wochen nicht verfügbar waren.



Zu jener Zeit begann der Aufstieg des Christoph Blocher, Chef und Besitzer der Ems- Chemie und selbstverständlich Regimentskommandant, der sich aus eigener Kraft von ziemlich unten nach ganz oben gekrampft (schweizerisch für „schwer arbeitend“) hatte. Und das ist nun einer der vielen Widersprüche dieses Mannes: Er verkörpert noch immer diesen Typus des „Armee’61“- Schweizers und ist gleichzeitig mit seinem am modernen Management orientierten Politstil, seinem unbändigen Willen zur Veränderung einer der zeitgeistigsten Politiker der Schweiz.

Mit ihren Marketingmethoden, die jeder Product Manager im Schlaf herunter singen kann, hat die Partei in den Oktober- Wahlen dreissig Prozent der Wählerstimmen geholt, mehr als jemals eine Partei zuvor. Wir haben es überdies mit einer völlig neuen Medienwelt zu tun. Statt verschlafener Parteiblätter, wie früher, ist Instant Messaging angesagt. Die SVP ist die bislang einzige Partei, welche die volle Klaviatur der sich in einem rasanten Wandel befindlichen Medienwelt beherrscht. Sie ist die einzige Partei, die sich als Kommunikations- Unternehmen begreift.

Es sind überraschenderweise die Links- Fortschrittlichen, die konservativ verbunkert an der Schweiz der Armee’61, am Konkordanzsystem, das in den 50ern des letzten Jahrhunderts zementiert und erstmals vor vier Jahren zugunsten der SVP etwas verändert wurde, festhalten wollen. Und es ist der Armee’61- Verkörperer Blocher, der genau dieses System für überlebt deklariert und zu einem System von Regierung und Opposition wie in anderen Ländern auch finden will.

Er ist zudem ein vehementer Hüter der Volksrechte, was für ihn der zentrale Grund dafür ist, gegen den Beitritt der Schweiz in die EU zu kämpfen, während die derzeit jubelnden Hüter der Konkordanz am liebsten schon morgen der Union beitreten und dafür auch "gewisse Volksrechte" preisgeben würden. Wenn Blocher von "Volk" redet, dann begreift er dies nicht "völkisch", sondern basisdemokratisch.

Natürlich ist es so, dass Herr Blocher über ein gerüttelt Mass an Ego verfügt. Da steht er einem Herrn Mitterand, einem Herrn Schröder, einer Frau Thatcher in nichts nach. Die Letztere und Winston Churchill sind denn auch seine Leuchttürme. Dass die Schweiz aus einem altem Gessler- Reflex heraus keine überragenden Figuren mag, den Diminuitiv nicht nur in der Sprache hätschelt, muss man hinnehmen. Auch das hat sich über die Jahrhunderte eigentlich bewährt. Herr Blocher hat mit dem Diminuitiv, besonders was seine Person anbelangt, nichts am Hut.



Wie geht es nun weiter? Es wird zwar viel vermutet, aber eigentlich weiss das derzeit kein Mensch.

"Die vermeintlichen Retter der Konkordanz wirkten deshalb schon am Tag nach dem Verdikt gegen Blocher ziemlich weltfremd, als sie nach dem Modus Vivendi mit einer SVP in der Opposition gefragt wurden. Wenn diese Sozialromantiker glauben, es seien neue Mehrheiten ohne die SVP denkbar, wenn nur die Linke auf Steuererhöhungen verzichte und die Mitte im Gegenzug keinen 'Steuer- und Sozialabbau' mehr betreibe, machen sie ihre Rechnung ohne das Volk, die wahre Opposition in der Schweiz. Denn mit solcher Politik wäre man rasch wieder bei der Larifari-Politik der neunziger Jahre mit ihren Schuldenbergen“, schreibt heute die NZZ in einem Leitartikel.

Das Verdienst von Herrn Blocher ist, dass er diese Larifari- Politik beendet hat. Und weil man ihn zwar aus der Regierung entfernt hat, aber nicht aus der Politik, wird der politische interessierte Schweizer auch weiterhin auf Trab gehalten werden. Die Parteien melden steigende Mitgliederzahlen.

Manfred Messmer ist ein Schweizer Journalist und Gründer der Agentur messmerpartner, dessen Blog Arlesheim Reloaded. Mäuse schultern Elefanten immer lesenswert ist. Ich habe ihn um diesen Gastkommentar gebeten - als kompetente Ergänzung zu der Diskussion, die mein Artikel zur aktuellen Entwicklung in der Schweiz ausgelöst hat. - Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.