21. Juli 2007

Gedanken beim Wiederlesen von Karl May

Die meisten von uns haben ihre Erfahrungen mit Karl May als Kinder und Jugendliche gemacht und dann als Erwachsene die Bände höchstens noch einmal in die Hand genommen, um sie zu verschenken oder zu verkaufen.

Aber eine Minderheit bleibt Karl May auch als Erwachsene treu. Darunter durchaus mancher respektable Wissenschaftler, wie ein Blick auf die WebSite der Karl-May-Gesellschaft zeigt; die Liste des gegenwärtigen Vorstands findet man hier. Hans Wollschläger ist ja leider kürzlich verstorben.

Nicht wenige sind durch Arno Schmidt wieder zu Karl May sozusagen zurückgeführt worden.

Er hat ihm 1963 ein skurriles Werk gewidmet: "Sitara und der Weg dorthin". Darin etwickelte er ein Verfahren, das er dann später in "Zettels Traum" in großem Stil auf Edgar Allan Poe anwandte: Aus scheinbar harmlosen Texten sexuelle Anspielungen und Nebenbedeutungen herauszupräparieren, manchmal einen ganzen Subtext.

Das ist amüsant zu lesen. Belegbar ist dergleichen selten; aber Schmidt war ja auch Schriftsteller und kein Philologe oder Psychoanalytiker.

Jedenfalls wird man unterhaltsam durch das Werk Mays geführt. Das große Verdienst Schmidts war es aber wohl, auf die beträchtliche künstlerische Qualität des May'schen Spätwerks aufmerksam gemacht zu haben (vor allem der späteren Bände des "Silberlöwen" und von "Ardistan und Dschinnistan").



Ich habe jedenfalls damals begonnen, Karl May wieder zu lesen und tue es auch immer wieder einmal, wenn "leichte" Lektüre brauche. Im Augenlick lese ich "Von Bagdad nach Stambul" (siehe Titelvignette).

Es spielt überwiegend im Irak. Und viele Passagen klingen so, als bezögen sie sich auf die aktuelle Lage im Irak.

Man erfährt viel über die ethnische Vielfalt des Landes; über Stammesbindungen. ("Sein Auge ist überall, denn er lebt mit aller Welt in Streit und Unfrieden, nur mit den Angehörigen seines Stammes nicht" heißt es über den Beduinen.) Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten spielt eine große Rolle, der Einfluß Persiens.



Das Buch, das dritte aus dem "Orientzyklus" ist, wie dieser ganze Zyklus selbst, eine Art Odyssee. Gestrickt nach dem Grundmuster solcher Bücher, wie auch der "Don Quijote"; es ist auch das Muster von Filmen wie "Apocalypse Now".

Eine Gruppe strebt einem Ziel zu (Bei May muß oft jemand befreit oder gefangen werden, oder es gilt einen Schatz zu bergen). Auf dem Weg dorthin reiht sich Abenteuer an Abenteuer; aufgereiht wie Perlen auf einer Kette. Im Grunde ist die Reihenfolge nebensächlich. Solche Bücher haben nicht die komplexe Struktur eines Romans.



Bei May ist die Zahl der Grundsituationen sehr bescheiden: Gefangennahme, Befreiung (eine Obsession dieses ehemaligen Zuchthäuslers). Gefechte und Wortgefechte. Reiten, Reiten, Reiten. Anschleichen, Verstecken. In den Reiseerzählungen (ursprünglich hießen sie "Reiseerinnerungen") eine stark verminderte Dosis der Intrigen und Verbrechen, die den Stoff der Kolportage- Romane bildeten.

Aber May verstand es, diese Grundmuster immer wieder überraschend zu variieren.

Die besseren Werke sind voller lokaler Details, treffender Charakterisierungen. Die vielen geographischen Angaben, immer exakt, vermitteln Authentizität ebenso, wie das kleine sprachliche Feuerwerk, das May ständig veranstaltet. Da wird Arabisch und Kurdisch und Persisch parliert; so wie in anderen Werken Englisch, Französisch, Spanisch, gar Russisch und Chinesisch.



Warum hat May sich die erhebliche Mühe gemacht, diese Einsprengsel aus Sprachen, von denen er keine richtig konnte, einzubauen? Weil, denke ich, dadurch, ebenso wie durch die lokalen und historischen Details, beim Leser die Realitäts- Illusion verstärkt wird.

Eine alte Tradition, ein altes Stilmittel - man denke an die Beschreibung der Schiffe bei Homer, an die seitenlangen Aufzählungen des Proviants im "Robinson Crusoe". Oder an die Akribie, mit der Flaubert den Verlauf einer Arsenvergiftung beschrieben hat.

Natürlich wissen wir als Leser, daß das nicht wirklich geschehen ist. Aber es war - bis zum Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts, wo es sich radikal änderte - die selbstverständliche Als- Ob- Lesehaltung, daß uns real Geschehens berichtet wird.

Insofern halte ich den Vorwurf an Karl May, er habe "geschwindelt", für albern.

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