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13. Oktober 2008

Marginalie: Marcel Reich-Ranicki langweilt sich. Und provoziert einen Eklat. Besuch des alten Herrn. Ein Erklärungsversuch

"Ich fand es empörend, dass ich während dieses langen Abends die ganze Zeit auf einem harten Stuhl sitzen musste und man mich bis zum Schluss warten lassen wollte. Nachdem ich schon rund zwei Stunden ausgeharrt hatte, sagte mir der Intendant Schächter, es dauere noch fünfzehn Minuten, dann nochmal fünfzehn Minuten, dann sprach er von dreißig Minuten. Da wollte ich weg, ich wollte gehen. Ich konnt‘s nicht mehr aushalten."

So schilderte Marcel Reich-Ranicki dem Interviewer Hubert Spiegel von der FAZ sein Leiden, bevor ihm endlich der Ehrenpreis des Deutschen Fernsehens verliehen wurde.

Oder vielmehr verliehen werden sollte. Denn er lehnte ihn ja bekanntlich ab.



Während ich dies schreibe, läuft im Hintergund die Aufzeichnung der betreffenden Sendung, der "Verleihung des Deutschen Fernsehpreises". Es ist so wie immer: Lang, langweilig, langatmig wie alle solche Preisverleihungen.

Da feiern sie sich halt selbst, die Medienschaffenden. Eigentlich könnte man die Preisträger auch zuvor bekanntgeben und ihnen in der Sendung diese Glasstange nur noch überreichen. Aber dann wäre es noch langweiliger. Also wird "nominiert" und dann - Surprise, Surprise - der Name des oder der Glücklichen einem Umschlag entnommen. Wie beim "Oscar".

Die Spannung ist freilich künstlich. Es ist ungefähr so aufregend wie jene Frage, die bei Arno Schmidt ein Wirt an seinen Gast richtet: "Bier oder Bier?".

Wen interessiert es, wer die beste Nebenrolle gespielt oder den angeblich besten Dokumentarfilm gedreht hat? Allein die Betreffenden, deren Marktwert damit steigt. Allenfalls die Insider, die damit vielleicht was zum Klatschen haben. Das Publikum in der Regel nicht; seltene Fälle ausgenommen. Heute zum Beispiel war ich gespannt, ob Karin Baal einen Preis bekommen würde, den sie meines Erachtens mehr als verdient gehabt hätte.



Aber ansonsten sind solche Sendungen nun mal flach, ohne kulturellen Anspruch und von minimalen Show- Wert. Das war immer so. Es liegt in der Natur der Sache. Daß sie langweilig sind - daran ist so wenig etwas zu ändern wie daran, daß in den Zoo- Sendungen immer so viele Tiere herumlaufen.

Auch ist das Fernsehen bekanntlich keine Bildungseinrichtung, sondern ein Teil der Unterhaltungsindustrie.

Also werden überwiegend unterhaltende Sendungen prämiert. Also werden Darsteller aus Sendungen nach dem Geschmack der Massen ausgezeichnet und nicht Bühnenschauspieler, die ihre künstlerische Sternstunde hatten, als 3Sat eine Ibsen- Inszenierung am Münchner Residenztheater übertrug.

Gegeben diese Randbedingen, war die Sendung auch heuer manierlich. Die Pausen wurden nicht vom Fernsehballett gefüllt, es spielten nicht die Original Oberkrainer, und schlechtere Laudatoren habe ich auch schon erlebt. Noch nicht mal geweint wurde (wenn mir nicht vielleicht verstohlene Tränen entgangen sind), und keiner der Preisträger dankte Vater, Mutter und Religionslehrerin.

Und Reich-Ranicki, nachdem man ihn von seinem Leiden auf dem harten Stuhl endlich erlöst hatte? Er wurde, als seine Zeit gekommen war, mit Standing Ovations gefeiert. Thomas Gottschalk lobte ihn über den grünen Klee ("Herr Professor Reich- Ranicki, in meinem Namen darf ich Ihnen sagen, daß ich Sie verehre. Im Namen des Deutschen Fernsehens darf ich Ihnen mitteilen, daß Sie geehrt werden").

Reich-Ranicki lachte dazu. Immer noch fröhlich, wenn auch etwas abgespannt ausschauend, wurde er zum Rednerpult geleitet und genoß sichtlich den Applaus.

Dann versteinerten sich seine Züge. Und er sprach die Philippika, deren Inhalt man in dem FAZ- Interview nachlesen kann. Darin der Satz: "... aber ich möchte auch ganz offen sagen: Ich nehme diesen Preis nicht an".



Was ist da in den Mann gefahren? Hatte er denn nicht gewußt, wie solch eine Veranstaltung abläuft? Hatte er sich bisher Illusionen über die Qualität des Deutschen Fernsehens gemacht? Hatte er, genervt vom langen Sitzen, die Contenance verloren?

Ich glaube das alles nicht. Ich möchte eine andere Erklärung anbieten. Vielleicht stimmt sie nicht, aber sie erscheint mir plausibel: Es war ein Besuch des alten Herrn.

Wenn jemand auf die neunzig zugeht, dann wächst zwar, wenn er ein bedeutender Mann ist, die Verehrung. Aber es wächst auch die fürsorgliche Herablassung, die man dem gebrechlicher Werdenden entgegenbringt.

Reich-Ranicki wird gebrechlicher. Er merkte - das jedenfalls ist meine Erklärung - , wie man über ihn zu verfügen gedachte: Erst mal läßt man den Greis dasitzen. Dann wird er ans Pult geführt, erhält gebührend Applaus und darf ein paar freundliche Dankesworte sagen. Und wird wieder abgeführt von der Bühne. Exist MRR.

Das wollte er nicht mit sich geschehen lassen, der MRR. So denke ich es mir: Wie jene Claire Zachanassian, die, hochbetagt, bei Dürrenmatt über ihr altes Dorf hereinbricht und den Einwohnern zeigt, wo der Hammer hängt.

Er hat sie alle verblüfft, der gebrechliche Greis. Er hat ihnen die Meinung gesagt. Er hat sich nicht zum Objekt ihrer Veranstaltung machen lassen.

Und der Lohn kam stante pede: Gottschalk machte einen Vorschlag zur Güte, und alle die Mächtigen des Fernsehens, die da im Publikum saßen - fast alle, um genau zu sein - mußten notgedrungen zusagen, sich demnächst in einer Sendung (einer Art Ringschaltung, von privat bis öffentlich- rechtlich) von MRR die Leviten lesen zu lassen.

Und der alte Herr blühte auf und genoß den Triumph, daß sie sich alle ihm unterwarfen, wie in Dürrenmatts Stück die Einwohner von Güllen sich der Claire Zachanassian unterwerfen .

Gut, nicht ganz so. Ich übertreibe natürlich. Nur ein bißchen aufschrecken wollte der Greis das lahme Publikum samt der TV- Machthaber. Das ist ihm gelungen.

Chapeau, MRR!



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8. Mai 2007

Marcel Reich-Ranicki über Arno Schmidt: Anmerkungen zu einer Bemerkung

"Für viele Intellektuelle - vor allem Schriftsteller - gilt Arno Schmidt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Warum können Sie so wenig mit seiner Literatur anfangen?" fragt Axel Fröschner Marcel Reich- Ranicki in der FAS vom vergangenen Wochenende. Und MRR antwortet, nachdem er auf einen Aufsatz hingewiesen hat, in dem er sich schon früh und eingehend mit Arno Schmidt befaßt hatte:
Wahr ist, daß ich kein Enthusiast Arno Schmidts bin und es mit Sicherheit nicht mehr werde. Daß ich aber kaum etwas mit seinem Werk anfangen könne, dürfte doch wohl übertrieben sein. An zwei Erzählungen von Arno Schmidt erinnere ich mich oft und gern: "Die Umsiedler" und "Seelandschaft mit Pocahontas".
Hm, das wäre ungefähr so, als würde ein Philosoph sagen: An zwei Werke von Kant erinnere ich mich oft und gern - die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" und die "Träume eines Geistersehers".

Denn als Arno Schmidt diese beiden Erzählungen schrieb, war er noch in seiner sozusagen "vorkritischen" Phase. Er schrieb zwar schon damals - wie von Anfang an - eine sehr konzentrierte, anspielungsreiche, den Leser fordernde Prosa. Aber seinen eigenen - einen sehr eigenen - Stil fand er doch erst einige Jahre später; in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre.

Das "Steinerne Herz" und dann vor allem "Kaff, auch Mare Crisium" waren Texte, die vom Leser ein ständiges, sagen wir, Mitarbeiten verlangten. Viel mehr dann noch die Typoskripte. Da erst wurde Schmidt zu dem Autor, der einen singulären Beitrag zur deutschen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts geleistet hat.



Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es mir anfangs mit "Zettels Traum" gegangen ist. Die erste Seite habe ich nicht "gelesen", sondern es war eher eine Mischung aus Entziffern, Assoziieren, Rätsellösen und auch Ratlosigkeit. Warum sind Nebel "schelmenzünftig"? Warum machen Kühe nicht "muh" sondern "ana moo moo"? Was sollten diese Reihen von XXXen?

Manches konnte ich verstehen; vieles erraten. Aber viel blieb auch offen. Es ging mir ein wenig so wie mit Flauberts "Salambô", als ich diesen Roman auf Französisch las. Anfangs schlug ich jede mir fremde Vokabel in diesem in einer fremden Welt spielenden Text nach; dann merkte ich, daß man ihn auch dann genießen kann, wenn man nicht jedes Wort versteht.

Allmählich ahnte ich, daß Flaubert auch von seinen französisch- sprachigen Lesern gar nicht erwartete, daß sie alle diese Begriffe aus der Antike, aus der Kultur der Karthager kannten. Ähnlich hat es Arno Schmidt in "Kosmas, oder vom Berge des Nordens" gemacht.

Auch die Fremdheit, die Un- oder Halbverständlichkeit von Begriffen, ja von ganzen Aussagen, kann von einem gewieften Autor beim Leser planmäßig hervorgerufen und insofern in gewisser Weise als Stilmittel eingesetzt werden. Wenn wir als Kinder Märchen gelesen haben, dann war diese Unverständlichkeit allgegenwärtig und machte den Text erst recht reizvoll.



Das Spiel mit der Nichtverständlichkeit kann also ein Stilmittel sein. Nur muß der Autor es dosiert und überlegt spielen.

Er kann es einmal - wie Flaubert im "Salambô", wie Schmidt im "Kosmas" - einsetzen, um eine fremde Welt noch fremder erscheinen zu lassen. Er kann es aber auch - und das hat Schmidt von der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre an zunehmend getan - als ein Mittel verwenden, um das Lesevergnügen generell zu steigern.

Hat man sich erst einmal eingelesen, hat man, wie Schmidt gern sagte, sein "Gehirn in die richtigen Falten gelegt", dann erlebt man bei der Lektüre dieser Texte des "reifen" und des "späten" Schmidt ein ständiges intellektuelles Vergnügen weit über das hinaus, was die Lektüre jedes gelungenen Romans bietet.

Man bewegt sich ja geistig nicht nur im Geschilderten, im Denotativen. Sondern die Sprache wird selbst ständig zum Gegenstand der Aufmerksamkeit; denn man versucht Anspielungen und Mehrdeutigkeiten zu verstehen, freut sich an Sprachwitzen und Kalauern, muß gar mehrere, auch optisch getrennte, Textstränge miteinander verbinden, aufeinander beziehen. Manchmal ähnelt das Lesen eher dem Betrachten einer Grafik oder dem Durchmustern einer Landkarte.

Mal erschließt sich eine Textstelle sofort, mal erfordert das einige Konzentration, mal bleibt etwas offen und unverstanden. Es ist eine ständige Wellenbewegung, ein Schaukeln sozusagen auf einem unruhigen Meer, dessen "déroulement infini" Baudelaire in einem seiner schönsten Gedichte mit dem menschlichen Geist verglichen hat.



Warum hat sich dieses exquisite intellektuelle Vergnügen einem so eminent intelligenten und gebildeten Mann wie Marcel Reich-Ranicki nicht erschlossen? Ich werde mich hüten, das zu beantworten. Aber ein wenig spekulieren mag ich schon.

Mag sein, daß zum Vergnügen an der Sprache, am ja nachgerade graphischen Stil von Schmidt eine gewisse intellektuelle Konstitution gehört - der Spaß am Rätseln, am Spielen, am Hin- und Herwenden, am Neuverknüpfen von Gedanken und am Herauskramen dessen, was man weiß, aus den Untiefen des Gedächtnisses.

Eine, sagen wir, ein wenig Lichtenberg'sche Geistesverfassung. Ich könnte mir denken, daß dem auch in seinem Humor immer ernsthaften MRR dieses Spielerische, ja Kindliche nicht liegt.

Mag aber auch einfach sein, daß Reich-Ranicki, dieser, sagen wir, unersättliche, nimmermüde Leser, nie die Muße hatte, sich in Schmidt einzulesen.

Denn das muß man: Sich - neudeutsch gesprochen - "auf Schmidt einlassen".

Wer das tut und sich damit Zugang zu diesem einzigartigen Lesevergnügen schafft, der fühlt sich dann leicht ein wenig als Eingeweihter. Es gibt in der Tat so etwas wie eine "Schmidt- Gemeinde", eine manchmal schon recht hermetische.

Aber nette Leute sind's. Jedenfalls, soweit ich sie kennengelernt habe.