29. August 2021

Symboldbild 3.2 - Noch einmal zu Afghanistan





Ein Beiseit vorweg: Die Dezimale zeigt an, daß es sich wie im Fall von Software-Releases nicht um eine neue Vollversion, sondern um eine Nachmeldung zu dem vor einer Woche behandelten Versagen unserer Politik in Afghanistan handelt. Trotzdem macht die Treffsicherheit, mit der die sonst zu nichts mehr fähigen Politiker des Westens immer wieder aufs Neue sind, hierfür sinnträchtige Auftritte vor der Weltöffentlichkeit zu inszenieren.

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Es ist mißlich, wenn die eigene, aus Gründen bruchstückhafte Erinnerung nicht genügend Anhaltspunkte liefert, um eine Frage zu klären, und die üblichen Wasserstellen im Weltnetz hier keine weiterführende Handreichung bieten. So kann ich denn nicht genau sagen, welcher sowjetische Propagandafilm mir im Lauf der letzten Woche einige Male ins Gedächtnis gekommen ist. Genauer gesagt: eine bestimmte Szene aus diesem Streifen. (Vielleicht ist ja der eine oder andere Leser in der Lage, meinen lückenhaften Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen.) Aber ich habe den betreffenden Film vor fest 30 Jahren gesehen, in einer spätnächtlichen Ausstrahlung des ZDF, in unsynchronisierter Fassung mit Untertiteln. Da war, bevor ich mich ein wenig mit der russischen Sprache befaßt habe; mit einmal die kyrillischen Buchstaben konnte ich zu jener Zeit lesen. Bei diesem Film handelte es sich um eine Ausgrabung in den damals, zum Höhepunkt von Glasnost‘ weitgehend zugänglichen russischen Archiven. Nach Aussage des Ansagers (ja, so etwas gab es damals im Fernsehen noch!) war der als Monumentalstreifen angelegte Film kurze Zeit nach seiner Kinopremiere der Zensur zum Opfer gefallen und seither in Vergessenheit geraten. (Dieses Schicksal traf solche Großproduktionen nicht selten: auch der letzte Science-Fiction-Film der Stalinzeit, „Die Kosmische Reise“, Космический рейс, 1936 durch das größte Filmstudio der UdSSR, Mosfilm, unter der Regie von Wassili Schuralow gedreht, der letzte Stummfilm der russischen Filmgeschichte und mehr als deutlich von Fritz Langs „Frau im Mond,“ sagen wir, „inspiriert,“ traf dieses Schicksal zwei Wochen nach seiner Moskauer Kinopremiere, einschließlich des Vergessenwerdens.)

WARUM der Bannstrahl der Zensur den späteren Film traf, ist leicht verständlich. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, des „Großen Vaterländischen Kriegs“ entstanden, also Ende 1945 oder 1946 produziert, wird dort in kurzen exemplarischen Szenen die Geschichte des Kriegs umrissen – aber anders als in den „offiziellen“ Produktionen ist der Film über weite Strecken als leichte Unterhaltung, ja als Musical gestaltet: zu Beginn sieht man eine Brigade Kolchosbauern singend bei der Ernte; als am Ende die T-34-Panzer vor dem Berliner Reichstagsgebäude ausrollen, springt ein Rotarmist heraus und beginnt zur Ziehharmonikabegleitung Kasatschok zu tanzen … Der Kontrast zum schweren, bleiern lähmenden Pathos von Filmen wie Освобождённая земля / Die befreite Erde (Regie: Alexander Medwedkin, 1946) oder Великий перелом / Der Wendepunkt (Regie: Fridrich Ermler, 1945) könnte größer nicht sein. Und dieser Machart verdankt sich auch die oben erwähnte Szene: Im Frühjahr 1939 begehrt dort der Moskauer Botschafter in Paris Audienz vom französischen Premierminister Edouard Daladier, um ihn zu warnen: er solle dem Abkommen von München nicht vertrauen; Hitlers Diktatur plane einen Krieg und einen Angriff nicht nur auf Russland, sondern auch auf Westeuropa und wolle Frankreich besetzen; die einzige Lösung sei, sich zusammenzuschließen und darauf vorbereitet zu sein (der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 war also, wie man sieht, aus der offiziellen Geschichtsversion getilgt).

Daladier ist in dieser Szene als groteske Karikatur gezeichnet: im Morgenmantel, ein Glas Cognac in der Hand, offensichtlich schwer betrunken, während hinter ihm in seinem Büro eine lärmende Party über die Bühne geht, dargestellt von einem kleinwüchsigen, grell geschminkten Knallchargenspieler, der sichtlich mit Hinblick darauf ausgesucht wurde, daß seine Physiognomie jenem Zerrbild entsprach, mit dem die Nazi-Karikaturisten (und später auch die Zeichner der sowjetischen Propaganda) etwa die Juden entstellten. Die Blindheit, die Ahnungslosigkeit der wirklichen Lage, die „französische Überheblichkeit,“ die hier die Folie abgeben, sind bis zum Anschlag überdreht. Nur: von solchen Propaganda-Machwerken erwartet man es nicht anders. Nicht erwartet wird hingegen, daß reale Politiker im realen Leben sich aufführen, als würden sie wetteifern, wer einem solchen Zerrbild möglichst nahe kommt.

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Man mag mir an dieser Stelle vorwerfen, daß ich mich hier mit Einzelheiten aufhalte, nicht mit dem Versagen unserer politischen Kaste in einer akuten Krise. Aber diese Krise, dieses eklatante Versagen ist seit nunmehr zwei Wochen jedem klar sichtbar, es ist Thema Nr. 1 auf allen Kanälen – übrigens ohne jede Aussicht, daß „unser Vietnam“ zu einer Besserung oder auch nur Konsequenzen für die Verantwortlichen führen wird. Ganz im Gegenteil: Auf die Meldung der BILD-Zeitung (die sich, wie an dieser Stelle bereits erwähnt, aufgrund des Totalausfalls unserer Medien an der kritischen Informationsfront mittlerweile zu einem der führend investigativen Outlets gemausert hat), von heute Mittag, daß unter den 3700 afghanischen Staatsbürgern, die die Bundeswehr seit dem 17. August aus Kabul ausgeflogen hat, nur etwa 100 „Ortskräfte,“ zusammen mit 370 Familienangehörigen gewesen seien, reagierte „Außenminister Heiko Maas (SPD)“ mit der vollmundigen Ankündigung, noch „mehr als 10.000 Ausreisewillige“ aufzunehmen. Deren Familienangehörige eingerechnet nannte er eine Zahl von 40.000. Hat Herr Maas vergessen, daß der letzte Flug der Bundeswehr von Kabul gestern erfolgt ist? Daß es leicht verwegen erscheint, sich angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit auf die Zusagen der Taliban zu verlassen? Gibt es jetzt einen „Islamismus light,“ gewissermaßen eine zivilisierte Mutation des Glaubensfanatismus, der die Buddhas von Bamiyan sprengte? Unsere Politiker werden nicht müde, zu betonen, daß selbstverständlich jeder ein Recht habe, in den sicheren Westen zu gelangen, ohne Prüfung der Identität; eine Nachprüfung erfolge dort. Klar ist, daß unter den jetzt herrschenden Umständen niemand von diesen Leuten nach Afghanistan zurückgeschickt wird, auch wenn die Identitätsprüfung bedenklich ausfallen sollte. Auch „Rangier- und Verschiebeaktionen“ mit Drittstaaten dürften auszuschließen sein. Wer immer es aus Afghanistan jetzt nach Deutschland schafft, wird den gesamten Rest seines Lebens hier verbringen. Und das ist, ungeachtet, der bedrückenden Bilder aus Kabul, kein Anlaß zur Freude. Von einer Bevölkerung, von denen nur die Hälfte der Männer lesen können und nur 3 von 10 Frauen, von einer Landbevölkerung, die ob alt oder jung, Zeit ihres Lebens nur die Bedingungen und die Weltsicht eines Islam kennengelernt hat, den man nicht „mittelalterlich“ nennen sollte, weil das eine handfeste Beleidung des christlichen Mittelalters darstellt (dem wir immerhin die Kathedralen der Gotik, die Hanse, den Gottesfrieden der Treuga Dei, den Minnesang, den Investiturstreit und die „Summa Theologia“ des doctor angelicus Thomas von Aquin verdanken). Von denen 40 Prozent der Ansicht sind, Selbstmordanschläge seien ein probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ansichten. 80 Prozent dieser Leute sind dafür, Rechtsstreitigkeiten sollten allein von „geistlichen Gerichten“ entschieden werden dürfen, 99% wollen sich allein nach den Geboten der Scharia ausrichten, 61 befinden, daß diese Regeln der Scharia in gleichem Maß für alle „Ungläubigen“ zu gelten haben, 85 Prozent sehen in der Steinigung die angemessene Strafe für Ehebruch, 80 Prozent befürworten die Todesstrafe für den Abfall vom Islam und der Übertritt zu einem anderen Glauben, 84 Prozent lehnen es ab, wenn die Gesetze des Landes, in dem sie sich aufhalten – bislang fast ausschließlich eben Afghanistan – nicht der Scharia entsprechen. So verständlich es ist, wenn jetzt, vor allem von Politikerseite betont wird, daß Deutschland eine Verantwortung für die Afghanen trägt, die in den letzten zwei Jahrzehnten mit Deutschen zusammengearbeitet haben und die jetzt durch die Taliban vom Tod bedroht sind: deutsche Politiker tragen aber ebenso eine Verantwortung für die Sicherheit deutscher Staatsbürger – auch wenn es geradezu „rechts“ und „ewiggestrig“ scheinen will, das nur zu erwähnen. Lösbar ist dieser Konflikt nicht (und wenn, dann nur mit hypothetischen Mitteln, etwa einer strikten Segregation und fortlaufenden Überwachung, die einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht zu Gebote stehen). Daß unsere Classe politique ihr Heil, wie üblich darin sieht, vorzugeben, hier gebe es keinerlei künftiges Konfliktpotential, darf allerdings niemanden überraschen. Sie verhält sich nur wie seit Jahrzehnten üblich.

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Aber zurück zum Thema: zu Symbolpolitik. Da wäre zum einen der sagen wir merkwürdige Empfang, den Bundesministerin der Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer, Flammkuchenbäckerin aus Passion, vor zwei Tagen den letzten auf Afghanistan zurückkehrten Bundeswehrsoldaten im usbekischen Taschkent gegeben hat. Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, daß ich auch einmal, lange ist es her und die Mauer stand noch und schien auf viele Jahrzehnte festgemauert, meinen Dienst in dieser Armee abgeleistet habe. Ich erwarte von solchen formalen Empfängen und Truppenabnahmen die Einhaltung des Formalen, die Ausrichtung nach den dafür erlassenen Vorschriften. Ich erwarte NICHT, daß der pro forma Oberkommandierende der Streitkräfte dem ranghöchsten Offizier vor Ort bei dieser Gelegenheit um dann Hals fällt, wie es sich „AKK“ mit Brigadegeneral Arlt nicht nehmen ließ. Mag sein, daß das signalisieren sollte: wir sind alle nur Menschen, eine Symbolik des Trostes. Aber genau das ist bei solchen Gelegenheiten fehl am Platz: das Formale, die Ausrichtung der Dienstgrade, die Wendung, das Marschieren: das ist kein Selbstzweck an sich, sondern symbolisiert, daß der Einzelne sich hier dem Vorgegebenen unterordnet, daß er eben nur eine kleine Einheit ist und als Individuum während der Zeit der Dienstausübung außen vor bleiben muß, und die gestellte Aufgabe darüber steht. Uniformen, Hoheitsabzeichen stehen schon vom Äußerlichen für dieses Verständnis ein. Zwar gibt es im Verlauf des Dienstes immer wider Situationen, an denen dieser Komment durchbrochen wird – aber gerade solche formalen Anlässe sind darauf angelegt, dergleichen Irritationen prinzipiell außen vor zu halten. Nun hat Frau Kramp-Karrenbauer zwar keinen militärischen Dienstrang (darin dürfte ein gewichtiger Grund für den Niedergang unserer Armee zu sehen sein), aber im Rahmen einer solchen Formalität steht es ihr nicht an, sich davon auszunehmen.



Noch irritierender allerdings finde ich ein Detail auf diesem peinlichen Foto. Und auch das hängt mit dem Thema „Uniform,“ zusammen, mit der angemessenen Kleidung für einen solchen formellen Anlaß. Nun wird niemand verlangen, daß „AKK,“ da sie ja keinen Dienstgrad innhat, sich in Uniform zeigt. Aber auf diesem Bild sieht man an ihrem linken Handgelenk ein seltsames Armband mit einer Reihe von schwarzen, einer gelben und einer roten Kugel. Es handelt sich um Holzperlen. Und das Schmuckstück, das sie bilden, ist dieses:



Und die Beschreibung lautet: „Kraftvolles Chakra-Armband mit 7 Halbedelsteinen und Holzperlen.“ Chakras, das weiß man, seit die 1968er Hippies nach Indien pilgerten, um die esoterische Weisheit mit der Haschischpfeife zu suchen, sind vermeintliche „Kraftzentren“ in einem imaginären Nervengewebe, aller empirischen Medizin unbekannt, deren Stimulation durch Atemanhalten und Bauchnabelbetrachtung den so Nicht-Betrachtenden aller irdischen Bedürfnisse enthebt und ihn zum Ausgleich 100 Jahre alt werden läßt. Daß unsere Oberkommandierende es bei einer solchen Gelegenheit für angemessen hält, sich mit solchen Blumenkinder-Attributen zu präsentieren, darf als ein überaus sicheres Stilempfinden für den wahren Zustand unserer politischen Elite gewertet werden. (Der kleine Zyniker, der hier ja stets mitschreibt, befindet: nun, Afghanistan gehörte ja zu den Sehnsuchtsorten jener Hippies. Und da sich manche Betrachter gewundert haben, daß die Bundeswehr immerhin in der Lage war, vier flugfähige Airbus-Maschinen für die „Operation Luftbrücke“ aufzubieten, fügt er hinzu: vielleicht erklärt so etwas den deplorablen Zustand unserer Luftstreitkräfte. Vielleicht setzt man dort auf „yogisches Fliegen.“ CO2-neutral wäre es jedenfalls.)

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Unsere Politiker sind freilich nicht ein einzigen Schlafmützen. Seit gestern kursiert in den Medien – und nicht nur in denen der sozialen Art – ein Video von Zusammentreffen von Präsident Biden mit dem neuen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, auf dem der POTUS minutenlang in seligen Schlaf versunken scheint, während Bennett sein Statement über die Freundschaft und Verbundenheit der beiden Länder in die Mikrofone der Weltöffentlichkeit diktiert. Auch dies würde, wenn es denn ein einzelnes Vorkommnis wäre, noch nicht alarmierend sein. Mittlerweile reiht es sich aber nahtlos in die schier endlose Kette von Vorfällen ein, die darauf hindeuten, daß der „mächtigste Mann der freien Welt“ nicht mehr in der Lage ist, sein Amt in verantwortungsvoller Weis auszuüben. In der Presse waren vorgestern überall seine Worte an die Adresse der Verantwortlichen für den Terroranschlag am Kabuler Flughafen zu lesen: „Wir werden es euch nicht vergessen. Wir werden euch jagen und wir werden euch dafür bezahlen lassen.“ Das klingt nach den üblichen markigen Worten, die zumal US-Präsidenten bei solcher Gelegenheit zu Gebote stehen. Wer allerdings auf CNN die Art und Weise verfolgt hat, wie Biden diese Worte aussprach, dem dürfte eher die Fahrigkeit und Mattigkeit im Gedächtnis geblieben sein, kraftlos und ohne jede Energie, die wie nichts sonst signalisierten: hier hat eine Weltmacht, die vor der Steinzeit kapituliert hat, nichts mehr zu bieten außer leeren Phrasen.



In der "Times" findet sich heute übrigens eine sehr anschauliche Darstellung, welches Abschiedsgeschenk der chaotische Abzug aus Afghanistan unter "Sleepy Joe Biden" (fürwahr!) für die neuen Ordnungskräfte im Land konkret gewesen ist.

U.E.

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