14. Juli 2021

Symbolbild II: "Der Dank des Vaterlandes"



Motto: „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.“

Vor ein paar Wochen schrieb ich an dieser Stelle, daß die Politik in diesem Land, wie es scheint, zu nichts mehr fähig außer dazu, für ihre Versagen vor den Aufgaben eines Staates mit traumwandlerischer Sicherheit symbolische Gesten und Sinnbilder zu finden. Ich schrieb es nicht zum ersten Mal – seit nun sechs Jahren ist es so etwas wie ein Basso continuo, ein Generalbaß, der sich in meinen Begleitungen zu der Politik in diesem Land zeigt. Auch bei der Rückkehr der letzten Bundeswehrsoldaten vom Einsatz in Afghanistan, dem Kommando Spezialkräfte (KSK) in den niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf, vor nun zwei Wochen, am 30 Juni, wurde dies wieder einmal deutlich. Weder die oberste Dienstherrin der Soldaten, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, noch die Bundeskanzlerin oder der Bundespräsident als Vertreter dieser Regierung, kein Bundestagsabgeordneter, kein Staatssekretär hat es für nötig gefunden, den Abschluß des fast zwei Jahrzehnte dauernden längsten Nachkriegseinsatzes deutscher Soldaten im Ausland zu würdigen.

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Zwar hat das Bundesministerium der Verteidigung, als Reaktion auf einige verschnupfte Kommentare in einigen Zeitungen („Fußballspieler, die ein Achtelfinale verstolpert haben, kann man so behandeln – nicht aber Soldaten, die ihr Leben einsetzten, um den Auftrag von Regierung und Parlament zu erfüllen,“ schrieb etwa Bertold Köhler in der F.A.Z.), bekanntgegeben, es sei noch eine öffentliche Würdigung vorgesehen – ohne sich freilich auf einen Termin festzulegen. Auch dazu ist es bislang nicht gekommen. Wenn überhaupt, hätte dies zeitlich nah an den Abschluß des Einsatzes stattfinden müssen, und nicht Wochen oder gar Monate danach. Der Termin war seit geraumer Zeit bekannt, so daß sich die staatlichen Würdenträger durchaus in personeller und zeitlicher Hinsicht darauf hätten einstellen können – wenn sie es denn gewollt hätten. Dies ist auch der Grund, warum ich bislang noch nichts zu diesem Thema geschrieben habe: ich habe gewartet, ob „die Politik“ es für nötig befindet, diesen Faux pas – und es ist einer – zu korrigieren. Es geht nicht nur um die Anerkennung des Einsatzes jener „letzten Aufrechten,“ sondern all der 16.000 Soldaten, die dem Auftrag des Staates nachgekommen sind, und den 59 von ihnen mit dem Leben bezahlt haben. Das ist das Risiko dieses Berufs (und es ist in diesem Fall im Wortsinn ein Beruf: für den Auslandeinsatz werden nur Berufs- und Zeitsoldaten, die sich freiwillig dazu gemeldet haben, abgestellt): daß der Einzelne in Ausübung seiner Dienstpflicht im schlimmsten Fall mit dem Leben dafür bezahlt. Für Polizisten und Feuerwehrleute, überhaupt Rettungskräfte aller Art, gilt das gleiche. Im Gegenzug hat ihnen die Achtung und der Respekt des Staates, in dessen Auftrag sie sich einsetzen, sicher zu sein. Mehr und mehr gewinnt man als Betrachter den Eindruck, daß davon keine Rede mehr sein kann. Daß die Bundesregierung sich mittlerweile in die Sommerpause begeben hat, ohne sich hier zu einer symbolischen Geste zu verstehen, könnte einen Zyniker zur Abwandlung des alten Juristen-Spruchs Anlaß geben: Fiat Urlaub, et pereat mundus. Daß „dieser Staat“ es auch mehr als zwei Wochen nach dem islamistischen Amoklauf im Würzburg mit drei bestialisch abgeschlachteten Frauen es nicht für nötig befunden hat, hier in Gestalt seiner führenden Vertreter die Opfer angemessen zu würden, fügt sich nahtlos in dieses Bild.

Zudem ließ das Verteidigungsministerium wissen, die Soldaten selbst hätten eine „stille Ankunft“ gewünscht. Halten zu Gnaden: aber das klingt schon nach Sarkasmus – und zwar von Seiten der Verantwortlichen. Niemand erwartet bei einer solchen Gelegenheit einen großen Festakt, „mit klingendem Spiel.“ Die Präsenz des Staates, in Gestalt eines oder mehrerer seiner ranghohen Vertreter, ein paar kurze, angemessene Worte – mehr braucht es nicht. (Andererseits, so meint der kleine Zyniker, kann man angesichts der gestanzten, hohlen, mechanisch und unehrlich daherkommenden Phrasen, mit denen unsere Politiker bei solchen Gelegenheiten glänzen, darin auch eine Wohltat sehen.)

Es könnte aber auch sein, daß sich hinter dieser offiziellen Gleichgültigkeit, diesem „symbolischen Schulterzucken“ noch etwas anderes verbirgt. Nämlich das Eingeständnis, die Einsicht, daß dieser Einsatz, diese 20 Jahre an Bemühungen, sinnlos waren. Seit Monaten befinden sich die Taliban in Afghanistan auf dem Vormarsch, eine Provinz nach der anderen fällt unter ihre Kontrolle, während sich die Truppen (man ist versucht, „Truppen“ in Anführungszeichen zu setzen) der korrupten, unfähigen und im Rest des Landes praktisch nicht präsenten Zentralregierung in Kabul zu Tausenden ins benachbarte Pakistan absetzen: eine Situation, die fatal an die Ereignisse in Südvietnam nach dem Abzug der letzten amerikanischen Truppen 1973 erinnert. Wie es aktuell hwißt, kontrollieren sie mittlerweile 85 Prozent des afghanischen Territoriums. Es ist nur eine Frage von Wochen, höchstens Monaten, bis im Land wieder der Zustand herrscht, der vor dem Einsatz der westlichen Allianz Anfang 2002 vorherrschte.

Und ebenso deutlich ist, daß man schon vor zehn Jahren, ja eigentlich schon von Anfang an, als Ende Oktober 2001 die „Operation Enduring Freedom“ anlief, zu diesem Schluß hätte kommen können. Daß Afghanistan ein Land ist, daß keinerlei Tradition einer Staatenbildung, einer übergreifenden Klammer über die Loyalität zu Stämmen und Clans hinaus aufweist, sondern nur eine archaische Kultur der Gewalt, die weder durch übergreifende, Identität von außen stiftende Institutionen noch durch den inneren Kompaß der Religion gebändigt und zivilisiert wird. Daß der Islam mit seinen unverrückbaren Setzungen, mit dem archaischen Kult der „Ehre,“ in der die Ausgrenzung alles als „unbotmäßig“ Empfundenen, aller Wehrlosen – aller Wehrlosen, aller Frauen, aller „Ungläubigen“ und ihrer Zeichen Tradition sind, Tradition waren und es auch in Zukunft sein werden. Nicht die zusammenstürzenden Türme des World Trade Center sind das Sinnbild für den ewigen Zustand dieses Landes, sondern die ein halbes Jahr von „Nine-Eleven“ von den Taliban pulverisierten Buddhas von Bamiyan. Und dies ist der entscheidende Faktor, der dazu geführt hat, daß alle Versuche fremder Mächte, das Land unter die eigene Kontrolle zu bringen, zum Scheitern verurteilt waren – von den Truppen Alexanders des Großen von mehr als 2000 Jahren über die Niederlage der britischen Truppen der East India Company im ersten afghanisch-englischen Krieg (1839-42) bis zur Invasion sowjetischer Soldaten im Jahr 1979. Ohne eine komplette Besatzung, eine strikte Kontrolle mit harten Sanktionen und ein rigoroses Umerziehungsprogramm – wenn schon nicht der gesamten Landbevölkerung, so doch aller Funktionsträger – war das Vorhaben, hier „moderne“ staatliche Strukturen zu schaffen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und nach allen Erfahrungen nach der „Entkolonisierung“ der britischen, französischen, niederländischen Besitzungen wäre auch ein solches Programm aussichtslos gewesen.

Es stimmte eben schon im Jahr 2002 nicht, als der damalige Verteidigungsminister Peter Struck von der SPD (so lange ist dies schon her!) erklärte, „unsere Werte“ würden jetzt „auch am Hindukusch verteidigt.“ (Der kleine Zyniker, der mir beim Tippen über die Schulter sieht, ergänzt: mittlerweile verteidigen dafür im Gegenzug die Afghanen „ihre Werte“ an Rhein und Ruhr.)

Überhaupt „Nine-Eleven“: wie es scheint, ist die Erinnerung an die Ereignisse des 11. September 2001 in dem, was man das „kollektive Gedächtnis“ nennen könnte, seltsam blaß, nachgerade irreal geworden. Ei Jahrzehnt lang sah es so aus, als sei dies das Sinnbild, die Symbol, das den „wirklichen“ Beginn des 21. Jahrhunderts markieren würde: der Kampfansage des militanten Islam an den Westen, seine Werte, seine Lebensart überhaupt, vergleichbar nur mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941. Aber als Bild, als Symbol, das über dieses einzelne Ereignis hinausragt, ist die Erinnerung daran flüchtig geworden. Das 2014 an der Stelle der alten Zwillingstürme eröffnete One World Trade Center hat erst gar keine symbolische Wirkung entfaltet – wie sie etwa die ursprünglichen Bauten bei ihrer Eröffnung im Jahr 1976, im Jahr der 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit der Vereinten Staaten, als damals höchste Wolkenkratzer der Welt von Anfang an aufwiesen (diese Symbolkraft war es ja, die dazu führte, daß Osama bin Laden, Mohammed Atta und die anderen Terroristen sie als Ziel gewählt hatten). Es wirkt wie ein isoliertes merkwürdiges, ja bizarres Ereignis, ohne Zusammenhang und Folgen, darin einer Naturkatastrophe nicht unähnlich. Die Folgeereignisse aus dem sich anschließenden „Krieg gegen den Terror“ – die Gefangenen in den „Freiluftkäfigen“ von Guantanamo Bay, die grotesken Demütigungen in Abu Ghraib, sogar der Aufstieg des „Islamischen Staates,“ der durch das Machtvakuum nach dem Sturz Saddam Husseins erst möglich wurde: all das scheint aus diesem „kollektiven Gedächtnis“ gelöscht.

Auch dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr selbst eignet eine solche „irreale“ Aura. Während der letzten zehn Jahre konnte es einem – über all den Fehlleistungen und dem Versagen des deutschen Regierungshandelns sei dem „Atomausstieg“ – so vorkommen, als sei er nicht mehr real, höchstens eine abstrakte Größe, aber weitgehend aus dem täglichen Bewußtsein gelöscht. Die vorgeblichen Skandalbilder, die sich daran knüpften – das Posieren deutscher Soldaten mit Schädeln aus einem Wüstenfriedhof (2006), die Bombardierung zweiter Tanklastwagen (2009) und die Äußerungen der damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, daß beim Einsatz de Militärs auch deutsche Interessen zu berücksichtigen seien, die 2010 zu seinem Rücktritt führten, nachdem die Medienmeute über ein solches Aussprechen absoluter Selbstverständlichkeiten einen Sturm im Wasserglas inszeniert hatte – all das gehört in ein anderes Jahrzehnt. (Nebenbei: der anschließende Niedergang der deutschen Politik unter Frau Merkel, die für viele Betrachter mit ihren Äußerungen zur Causa Sarrazin – „nicht hilfreich!“ – beginnt, könnte womöglich zeitlich eher die Causa Köhler als Startschuß haben.)

PS. Heute hat das Bundesministerium der Verteidigung bekanntgegeben, daß nun doch eine dem Anlaß entsprechende Veranstaltung stattfinden wird – nämlich ein Großer Zapfenstreich vor dem Reichstagsgebäude am 31. August. Also zwei Monate nach der Rückkehr der letzten Soldaten – und erst, nachdem es nicht nur in Zeitungen und Journalen, sondern auch von Seiten der Bundestagsabgeordneten Protest gegen die ostentative Mißachtung durch das Ministerium und die Regierung gegeben hatte. Vielleicht ist es einmal an der Zeit, diese Ministerien, diese Regierung in der Tatsache zu schulen, daß nicht dieser Staat mit seinen Bürgern zu dem Zweck existiert, um ihnen Gelegenheit zu geben, „den Willi-Wichtig geben zu können,“ oder, weniger salopp ausgedrückt: sich in ihrer Rolle als Ministerial-Darsteller gefallen zu können, sondern daß ihre Aufgabe und Pflicht darin besteht, für Staat und Staatsvolk als oberste Diener ihr Bestes zu geben. So wie es Aufgabe des Soldaten ist, seinem Vaterland zu dienen und es zu schützen. Der kleiner Zyniker wirft ein, daß ein solches Unterfangen bei unserem politischen Personal zwar löblich, aber aller Wahrscheinlichkeit nach aussichtslos sein dürfte, da diese Riege schon beim Hören des Wortes „Vaterland“ eine posttraumatische Störung erleiden würde - und nicht erst, wenn sie auf den Namen Habeck hört.



U.E.

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