Heute soll an dieser Stelle der vorerst letzte Hinweis in dieser kleinen Serie von Jubiläumshinweisen erfolgen, die die Laune der Chronologie in dieser Woche bereithält, nachdem in den letzten drei Tagen auf John Collier, Mynona und Napoleon verwiesen wurde. Heute vor 150 Jahren, am 6. Mai 1871, wurde nämlich im München Christian Morgenstern geboren. Und im Gegensatz zu seinem Zunftkollegen Salomo Friedländer und Collier ist der Dichter der "Galenlieder" un keineswegs zu den Verschollenen und Vergessenen der Literaturgeschichte zu zählen - auch wenn seit mittlerweile 100 Jahren alle Kritiker regelmäßig mutmaßen: wird Morgenstern eingentlich noch gelesen? Zudem stimmt es ja: zu ihrer Zeit bekannte, vielegelesene komische Poeten bleiben nicht lange im Gedächtnis der nachfolgenden Lesergenerationen erhalten. Julius Stettenheim, dessen "Persona" "Wippchen" angeblich von jedem Kriegsschauplatz seit dem deutsch-östereichischen Krieg von 1866 in Knittelversen berichtete, ist so verschollen wie die Gelegenheitsverse, die Frank Wedekind eine Generation später für den Münchner "Simplicissmus" lieferte. Selbst Joachim Ringelnatz oder Klabund (etwa mit seinem "Kinder-Verwirr-Buch" von 1931 dürften heute eher passionierten Lyrik-Lesern oder Fans der Roaring Twenties geläufig sein als dem allgemeinen Publikum. Wobei natürlich die Frage ist, was von der "leichten Muse" aus der literarischen Produktion der letzten 200, 250 Jahre überhaupt noch "päsent" ist. In diesem Phänomen dürfte sich der Wandel des Mediengebrauchs ebenso spiegeln wie das Vergehen der Zeit: lange Zeit war es normal, daß "klassische" Jazz-Stücke von der Swing-Ära an bis etwa zu Dave Brubeks "Take Five" in dieser Weise beim Hörpublikum in dieser Weise "präsent" waren; oder den Kanon der Ohrwürmer von Elvis, den Beatles bis zu dem großen Stars Ende der 1970er Jahre: seitdem hat der Wiedererkennungswert solcher Evergreens, ob nun als Musikstück, als ikonischer Filmauftritt oder als Merkvers rapide abgenommen.
Bei den drei Dichtern deutschsprachiger komischer Gedichte, vor allem Nonsenspoesie, die sich wirklich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, handelt es sich um Wilhelm Busch, Robert Gernhardt und Christian Morgenstern. Die saloppen, satirischen Zeitgedichte von Erich Kästner und Mascha Kaleko mögen immer noch ihre Leser haben, aber zu einer allgeneimen Scheidemünze im Zitierkarussel des Alltags haben sie es denn doch nicht gebracht. Ob Robert Gernhardts Gedichte auch in einem Viertel- oder einem halben Jahrhundert dazu gehören, läßt sich noch nicht sagen. Vielleicht sind sie dann so verschollen die Fritz Graßhoffs "Halunkenpostille" aus den 1950er Jahren. Aber Morgensterns Verse haben bislang dem Zahn der Zeit recht gut getrotzt. Das heißt: nicht alle. Zum Hausschatz sind nur seine Nonsens-Verse, seine Sprachspielereien wie der "Galgenlieder" und "Palmström" geworden. Die "ernsthaften" Verse, die den größeren Teil seines lyrischen Schaffens ausmachen, sind heute so unbekannt und ungelesen, wie sie es zu ihrer Zeit auch schon waren. Hätte Morgenstern nur "Aus Phanta's Schloß" oder die Innerlichkeits-Esoterik "Wir fanden einen Pfad" geschrieben: er wäre heute so vergessen wie hunderte andere wilhelminische Gelegenheitspoeten auch.
Morgensterns Vorliebe für Sprachspielereien, für Kalauer und grotekse Kobolzereien mit der Logik hat ihm noch in einer anderen Hinsicht eine Sonderstellung in der deutschen Lyrik eingebracht. In aller Regel werden deutsche Gedichte außerhalb des deutschsprachigen Raums überhaupt nicht zur Kenntnis genommen: Sie werden nicht übersetzt, nicht gelesen. (Nicht ganz zu Unrecht gilt deutsche Dichtung in aller Welt als unbeholfen, dunkel und weitgehend witzlos). Das gilt nun für Verse, für Lyrik in allen Sprachen überhaupt. Einzelne Glückfälle an Nachdichtungen bestätigen als Ausnahme die Regel (etwa Eugen Buschs Nachdichtung von Puschkins "Eugen Onegin," dem man ungestraft nachsagen kann, daß es das russische Original übertrifft). Aber gerade deutsche Verse finden keine Resonanz. Manche Gedichte von Heinrich Heine stellen in diesem Fall die besagte Ausnahme (gerade in den Nachdichtungen auf Russisch). Aber "deutsche Lyrik" ist und bleibt unbekannt und unerschließlich, wenn man kein Deutsch versteht. Morgensterns Jonglieren mit der Sprache selbst hat nun immer wieder Nachdichter, Übersetzer und Gleichgesinnter zu dem Versuch angeregt, es ihm gleichzutun und ihn in angemessener Weise in andere Idiome zu übertragen. Und überraschenderweise ist es selbst da gelungen, wo man bei ersten Überschlag vermuten würde: das sei ein Ding der unmöglichkeit. Etwa bei den Konjugationen des "Werwolfs."
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!
Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:
»Der Werwolf«, – sprach der gute Mann,
»des Weswolfs« – Genitiv sodann,
»dem Wemwolf« – Dativ, wie man's nennt,
»den Wenwolf« – damit hat's ein End'.
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!
Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb's in großer Schar,
doch „Wer“ gäb's nur im Singular.
Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.
Wie will man das einigermaßen in ein anderes Odiom schmuggeln? Wo etwa, wie A.E.W. Eitzen, der sich 1946 nicht für einen englischen "Werewolf" entschied, sondern einen "Hoopoe," einen Wiedehopf, aufgrund des Gleichklang mit "who":
The Hoopoe
One night, a hoopoe left his tree,
His wife and child, and when he found
A Boardschool Master’s burial mound,
Begged: “Would you mind inflecting me?”
The Boardschool Master, with a sob,
Mounted his tinplate tablet-knob.
The hoopoe crossing patiently
His wings before the dead man, he
Said: “Whoopoe, the subjective case,
Possessive, in the second place,
Whosepoe’s; objective, as they call
It, whompoe; well, and that is all.”
The hoopoe, flattered by the grammar,
His eye-balls rolling, then did stammer:
“If now the plural you would add,
I should be singularly glad.”
The Boardschool Master owned, however,
He had not heard of such things, never!
He knwe, quite numerous poes are,
But “who?”, that’s always singular.
The hoopoe rose, with tears defiled,
(if he had but no wife and child!!),
Yet, being no professor, went
Away with thanks, if not content.
Oder Alex Gross, der sich 1957 für die Bebehaltung des "Wer"-wölfischen entschied:
THE WEREWOLF
A Werewolf, troubled by his name,
Left wife and brood one night and came
To a hidden graveyard to enlist
The aid of a long-dead philologist.
"Oh sage, wake up, please don't berate me,"
He howled sadly, "Just conjugate me."
The seer arose a bit unsteady
Yawned twice, wheezed once, and then was ready.
"Well, `Werewolf' is your plural past,
While `Waswolf' is singularly cast:
There's `Amwolf' too, the present tense,
And `Iswolf,' `Arewolf' in this same sense."
"I know that--I'm no mental cripple--
The future form and participle
Are what I crave," the beast replied.
The scholar paused--again he tried:
"A `Will-be-wolf?' It's just too long:
`Shall-be-wolf?' `Has-been-wolf?' Utterly wrong!
Such words are wounds beyond all suture--
I'm sorry, but you have no future."
The Werewolf knew better--his sons still slept
At home, and homewards now he crept,
Happy, humble, without apology
For such folly of philology.
Oder André Thérive, der sich sprachspielerisch für den Bezirk Louga im Senegal entschied, um den Gleichklang zum "Werwolf," dem "loup-garou" beizubehalten:
Le loup-garou
Un loup-garou, certain soir, ce dit-on
quitta sa femme et son petit ménage.
Il vint s'asseoir pour raisonner son nom
sur le tombeau d'un régent de village.
Le bon régent se dressa, s'appuya
au zinc rouillé de la demeure plate.
Devant le mort le loup, joignant ses pattes
dévotement, cet oracle écouta:
«Les lougas roux, - adjectif épithète;
quand ils sont noirs, - adjectif attribut;
un louga blanc, la syntaxe est parfaite;
des lougas bleus, l'accord est absolu.»
La loup flatté d'apprendre la grammaire,
reprit alors, roulant des yeux chagrins:
«Je voudrais, maître, excusez ma prière,
savoir ce que je fais au féminin.»
«Monsieur, trancha feu le maître d'école,
je n'en sais rien; car les gens comme vous,
certes nombreux, hantent nos nécropoles,
mais masculins, d'un seul genre. Et c'est tout.»
L'autre se lève, aveuglé par les larmes,
car il aimait sa femme et ses enfants.
Mais il s'en fuit (l'ignorance désarme)
en exprimant ses meilleurs sentiments.
Anschließend sei nur vermerkt, daß bei all den Anspielungen und Zitaten, die nicht nur der "Werwolf," sondern die Galgenlieder als Ganzes im Deutschen erfahren haben, die überraschendste - und gekonnteste Hommage wohl die ist, die der Mathematiker - und Programmierer Karl Nickel 1977 unter seinem Namenskürzel KLEN unter dem Titel "Palmstrm als Programmier" publiziert hat, in der er nicht nur ein halbes oder ganzes Dutzend dieser Gedichte, sondern 70 von ihnen an die Bedingungen der frühen EDV-Ära angepaßt hat - was mit den Lockkartenprgammierungen und Banddruckern nach über 40 Jahren Distanz seinerseits ein fast so vorsintflutliches - Entschulidung: wilhelminisches Gepräge angenommen hat wie das Original. Natürlich hat es auch den "Werwolf" erwischt: die ERmeth war der erste Großrechner der schweizer Eidgenössischen Technischen Hochschule.
DIE ERMETH
Die ERMETH eines Tags entwich
aus der Museums Rechner-pool
zu eines Hochschullehrers Stuhl
und bat ihn: "Bitte, wandle mich!"
Der Herr Professor nahms Barett,
erstieg drauf das Kathederbrett
und ordnend des Talares Falten,
begann er, seines Amts zu walten.
"Die ERMETH" - so begann der Greis,
"die SIEMETH" - daß es jeder weiß,
"die ESMETH" - wie mans eben nennt,
"doch damit hat's noch nicht ein End."
"Die WIRMETH" - denn wir dienen allen,
"Die IHRMETH" - Ihr selbst zu Gefallen,
"Die SIEMETH" - grad nochmal wie eben,
"nun mußt du dich zufrieden geben."
Die ERMETH dankte ihm voll Glück,
und kehrt' zum Ruheplatz zurück
(sie diente Generationen)
befreit von ihren Frustrationen.
Oder das Möwenlied ("Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen...")
KOMPUTERLIED
Computer sehen alle aus,
als ob sie Otto hießen.
Gar mancher haßt sie - welch ein Graus -
wenn sie ihn jäh verließen.
Ich hasse keinen bis ins Mark,
ich werd sie nie verdammen -
ernähre vielmehr sie mit stark
verschachtelten Programmen.
O Mensch, du wirst nie nebenbei
Computers Speed erreichen.
Wofern du Otto heißest, sei
Zufrieden, ihm zu gleichen.
Oder (um das Galgenlied aufzugreifen, dem Morgensterns bekanntester Verse entstammt):
DIE UNMÖGLICHE TATSACHE
Palmström, reifer schon an Wissen,
lösend Programmierprobleme
wird von dem Betriebssysteme
'rausgeschmissen.
"Wie war" (spricht er, sich genierend,
sein Programm reaktivierend)
"möglich dieser interrupt
immer hat's doch sonst geklappt?
Ist's die Sprache, der Compiler,
uns'rer Syntax eh'rner Pfeiler,
Ward' das operating syst-
em geändert? Oder ist
es den Standardsubroutinen
nicht erlaubt mehr, uns zu dienen
rekursiv - ganz kurz und stur:
lag's an der Programmstruktur -?
Sitzend an dem Terminale
prüft er Bücher, Manuale...,
bald schon weiß er, was er glaubt:
DER Befehl war dort erlaubt!
Und er kommt zu dem Ergebnis:
"Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil," so schließt er messerscharf,
"nicht sein KANN, was nicht sein DARF."
U.E.
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