3. Mai 2021

John Collier, "Zum Nachspülen" (1941)





Nervös wie ein junges Kätzchen stieg Alan Austen die finsteren, knarrenden Treppen in einer Adresse in der Nähe der Pell Street hinauf und brauchte lange Zeit, bis er im Finsteren den Namen, den er suchte, auf einer der Türen ausgemacht hatte.

Er stieß die Tür auf, so wie es ihm gesagt worden war, und fand sich in einem winzigen Zimmer wieder, das außer einem Küchentisch, einem Schaukelstuhl und einem gewöhnlichen Stuhl unmöbliert war. An einer der gelblichen Wände hingen ein paar Regalbretter, auf denen vielleicht ein Dutzend Flaschen und Gläser standen. Ein alter Mann saß im Schaukelstuhl und las eine Zeitung. Alan überreichte ihm wortlos die Karte, die ihm gegeben worden war.

"Setzen Sie sich, Mr. Austen," sagte der alte Mann in ausgesucht höflichem Ton. "Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen."

"Stimmt es," fragte Alan, "daß Sie ein Mittel anbieten, das ganz außergewöhnliche Wirkungen hat?"

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"Guter Mann," gab der alte Mann zurück, "mein Angebot ist zwar nicht reichhaltig - ich verkaufe keine Abführmittel oder Mittel gegen Zahnschmerzen - aber in seinem Rahmen bietet es allerlei. Ich darf wohl sagen, daß nichts von dem, was ich anbiete, 'gewöhnliche' Wirkungen zeigt."

"Sehen Sie..." fing Alan an.

"Zum Beispiel dies hier," unterbrach ihn der Alte und griff nach einer Flasche auf dem Regal. "Hier haben Sie eine Flüssigkeit, die klar wie Wasser ist, fast keinen eigenen Geschnack besitzt, und im Kaffee oder Wein oder anderen Getränken nicht herausgeschmeckt werden kann. Es gibt auch keine Methode, sie bei einer Autopsie nachzuweisen."

"Wollen Sie damit sagen, daß das Gift ist?" rief Alan erschrocken.

"Sie können es auch ein Putzmittel für Handschuhleder nennen," sagte der Alte ungerührt. "Vielleicht kann man damit Leder reinigen. Ich hab's nie ausprobiert. Oder ein Lebensputzmittel. Manchmal brauchen Leben eine Reinigung."

"Ich suche nichts dergleichen," sagte Alan.

"Das ist sicher auch besser so," sagte der Alte. "Wissen Sie, wie hoch der Preis ist? Für einen Teelöffel voll berechne ich fünftausend Dollar. Und keinen Cent weniger."

"Ich hoffe, ihre anderen Mixturen sind nicht ganz so teuer," sagte Alan beunruhigt.

"Aber natürlich nicht," sagte der Alte. "Es wäre sinnlos, so viel Geld etwa für einen Liebestrank zu fordern. Junge Leute, die einen Liebestrank brauchen, verfügen meistens nicht über solche Summen. Wenn's anders wäre, hätten sie keinen Bedarf für einen Liebestrank."

"Da bin ich erleichert," sagte Alan.

"Ich sehe es so," sagte der Alte, "ich sorge dafür, daß meine Kunden zufrieden sind mit dem, was ich ihnen verkaufe, und wenn sie dann wieder etwas brauchen, kommen sie wieder. Auch dann, wenn es sie mehr kostet. Notfalls sparen sie sogar dafür."

"Sie verkaufen also Liebestränke?" fragte Alan.

"Wenn ich keine Liebeszauber anbieten würde, hätte ich Ihnen das eben nicht erzählt," sagte der Alte und griff nach einer anderen Flasche. "Solche Vertraulichkeiten kann man sich nur erlauben, wenn man den Wunsch des Kunden auch erfüllen kann."

"Und dieser Trank," sagte Alan, "ist er nicht ... nicht ... nur ..."

"Nein, nein," sagte der Alte. "Die Wirkung ist von Dauer, und geht weit über eine heftige Leidenschaft hinaus. Aber die ist auch dabei. Oh ja! Und auch die ist von Dauer."

"Du meine Güte!" sagte Alan, und versuchte, sich den Anschein von kühl distanziertem Interesse zu geben. "Wie interessant!"

"Aber bedenken Sie auch die seelische Seite," sagte der Alte.

"Aber gewiß doch," sagte Alan.

"Gleichgültigkeit," sagte der Alte, "verwandelt sich in Hingabe. Zorn weicht der Anbetung. Geben Sie der jungen Dame eine winzige Dosis - der Geschmack fällt in Orangensaft, Suppe oder in Cocktails nicht auf - und egal wie lebenslustig und flatterhaft sie auch ist, das wird sich ändern. Sie wird nichts mehr als Sie und sonst nichts mehr begehren."

"Das kann ich kaum glauben," sagte Alan. "Sie geht so gerne auf Parties."

"Die werden ihr nicht mehr zusagen," sagte der Alte. "Sie wird Angst haben, daß Sie dort hübsche Frauen kennenlernen könnten."

"Sie wird wirklich eifersüchtig sein?" rief Alan entzückt. "Auf MICH?"

"Aber ja. Sie wird Ihr ein und alles sein wollen."

"Oh, das ist sie schon. Nur hat sie für mich nichts übrig."

"Das wird sie, wenn Sie ihr erst das hier verabreicht haben. Sie wird sehr viel für Sie übrig haben. Sie werden das Einzige sein, daß sie im Leben interessiert."

"Wundervoll!" rief Alan.

"Allerdings," sagte der Alte. "Sie wird sich nach allen Kräften um Sie kümmern. Sie wird niemals zulassen, daß Sie erschöpft sind, daß Sie einem kalten Luftzug ausgesetzt sind, daß Ihnen das Essen nicht schmeckt. Wenn Sie eine Stunde zu spät nach Hause kommmen, wird sie Panik bekommen. Sie wird dann Angst haben, Sie könnten entführt worden sein, oder daß Sie dem Lockruf einer Sirene erlegen sind."

"Ich kann mir das bei Diana gar nicht vorstellen!" rief Alan vor Freude überwältigt.

"Sie brauchen Ihre Phantasie nicht zu bemühen," sagte der Alte. "Und was die Verlockungen der Sirenen angeht: da es so etwas ja gibt - sollten Sie doch einmal der Versuchung nachgeben, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Am Ende wird sie Ihnen doch verzeihen. Sie wird natürlich furchtbar verletzt sein - aber letztlich wird sie Ihnen verzeihen."

"Das wird niemals vorkommen!" sagte Alan hitzig.

"Natürlich nicht," sagte der Alte. "Aber falls doch, so besteht kein Anlaß zur Sorge. Sie wird sich nie im Leben von Ihnen scheiden lassen. Oh nein! Und sie wird Ihnen natürlich niemals Anlaß zur Sorge geben. In keinerlei Hinsicht."

"Und was," fragte Alan, "kostet dieses Wundermittel?"

"Es ist nicht ganz so teuer wie der Handschuhreiniger," sagte der Alte, "oder der Lebensreiniger, wie ich ihn nenne. Nein. Der kostet fünftausend Dollar, und keinen Cent weniger. Für derlei muß man älter als Sie sein. Dafür muß man sparen."

"Und der Liebestrank?" fragte Alan.

"Ach, der," sagte der Alte, zog die Küchentischschublade auf und holte ein kleines, ziemlich schmutzig aussehendes Fläschchen hervor. "Der kostet nur einen Dollar."

"Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin," sagte Alan, während er zusah, wie der Alte das Fläschchen füllte.

"Ich bin gerne zu Diensten," sagte der Alte. "Dann kommen die Kunden wieder, später im Leben, wenn sie es zu mehr Wohlstand gebracht haben, und teurere Dinge wünschen. Hier, bitte sehr. Sie werden sehen, daß es ausgesprochen wirkungsvoll ist."

"Nochmals vielen Dank," sagte Alan. "Leben Sie wohl."

"Au revoir," sagte der Alte.

* * *

John Collier, am 3. Mai 1901 - also vor genau 120 Jahren - im Stadtteil Brixton in London geboren und 1980 in der Schweiz gestorben, zählt zu einer Spezies von Autoren, die, wie es scheint, sich hauptsächlich auf die englischsprachige Literatur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert: die knappe, sardonische, auf eine Pointe hin gebaute Kurzgeschichte. Neben Collier ist andere bekannte Spezialist für diese Texte Roald Dahl; im deutschen Sprachbereich wäre hier Kurt Kusenberg zu nennen, ansonsten fallen noch Namen wie Stanley Ellin ein; der erste Vertreter dieser Erzählweise dürfte O. Henry gewesen sein. Die Literaturkritik hat diese reine Unterhaltung nie wertgeschätzt: bei aller zynischen Sicht auf die Umtriebe der Menschen fehlt solche Texten - naturgemäß - der Sinn für das Tragische. Bei aller Bissigkeit fallen sie ins Ressort der leichten Komödie.

Collier, der 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarb und in den 1940er Jahren die Drehbücher für einige Screwball-Komödien verfaßte, begann seine literarische karriere mit zwei kleinen Romanen, die sich wesentlich von seinen späteren Erzählungen unterscheiden: His Monkey Wife, or Married to a Chimp (1930) ist eine Gesellschaftskomödie, die ihren Handlungsaufbau zur Karikierung der Reaktionen der Hautevolée benutzt (ähnlich wie Herbert Rosendorfers Roman Deutsche Suite von 1972, der die gleiche Versuchsanordnung verwendet), und Tom's A-Cold (1933), eine melancholisch grundierte Zukunftsvision eines dystpoischen England, in dem die Menschen vor der Umweltverschmutzung ihre Zulfucht in unterirdischen Riesensiedlungen gesucht haben.

Collier's frühe Kurzgeschichten waren ideal für die Zeitschrift "The New Yorker," der damals noch eine distanziert-abgeklärte Sicht auf die Umtriebe der modernen Großstadtbewohner pflegte - wie etwa auch die Stammautoren der Zeitschrift, James Thurber und Dorothy Parker. Auch "The Chaser" ist dort zuerst erschienen, in der Ausgabe vom 28. Dezember 1940. In Buchform gesammelt erschien sie ein Jahr darauf in dem Band Presenting Moonshine, und wiederum zehn Jahre später bildete sie die Coda in Colliers repräsentativer Sammlung von 50 Erzählungen Fancies and Goodnight. An diesem Band läßt sich gut die spätere Wertschätzung nicht nur Colliers, sondern allgemein von Stories dieser Art erkennen: bis 1969 folgten sieben weitere Nachdrucke bei verschiedenen Verlagen; dann 1980 und 1981 zwei Buchklubausgaben (der Literaturzyniker würde von "Resteverwertung" sprechen) und dann erst wieder 2003 eine "Ausgrabung" im Rahmen der auf Hebung solch verlorener Schätze spezialisierten Reihe der New York Review of Books. (Fun fact, wie man auf neudeutsch sagt: diese Ausgabe verwendete als Umschlagbild ein Gemälde von Neo Rauch.)

"The Chaser" (in der englischen Zeitschriftenveröffentlichung in The Argosy als "Love Potion" erschienen) zählt zu dem kleinen Subgenre des "magischen Ladens," jener obkuren Boutiquen, auf die der Kunde unverhofft stößt und die Magisches, Unwahrscheinliches oder sonstwie übernatürlich Bedenkliches offerieren. In der Regel sind diese Lokalitäten nicht mehr auffindbar, wenn der Kunde sie wieder aufsuchen will. Dieser Punkt entfällt in diesen Fall natürlich. Das erste dieser Ladenlokale findet sich, soweit auf die Schnelle eruierbar, bei H. G. Wells, in der Erzählung "The Magic Shop" (The Strand Magazine, Juni 1903). Seitdem wird der Topos immer wieder einmal aufgegriffen, etwa in Nelson S. Bonds "The Bookshop" (1950), Theodore Sturgeons "Shottle Bop" (1941), Fritz Leibers "Bazaar of the Bizarre" (1963), William F. Wus "Hong's Lost and Found Emporium" (1985) oder Bruce Sterlings "The Little Magic Shop" (1987). Auch wenn Autoren ansonsten "Fantasy" (was im Englischen ja allgemein das Gebiet des Phantastischen umfaßt) meiden, so scheint es, als sei jeder Autor einmal im Leben in Versuchung, eine solche Geschichte zu verfassen. Der andere Topos dieser Art, an dem ein Autor so scheint es, einmal versuchen muß betrifft den "Pakt mit dem Teufel." (Mir ist durchaus bewußt, daß "Little Shop of Horrors" - sowohl die erste Filmversion von 1960 wie auch die Musicalversion von 1986 - tangential dem Thema "magischer Einzelhandel" zuzuordnen ist.) Als Roman hat das Thema in Stephen Kings Needful Things / In einer kleinen Stadt (1991) Ausdruck gefunden. "An sich" ist es ja nur für die Kurzstrecke geeignet, da der Besuch und die Konfrontation mit dem Übernatürlichen sich nicht über hunderte von Seiten strecken lassen und die Wiederholung dem Erzählzweck wiederspricht.



U.E.

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