7. März 2021

Der letzte Beatnik. Zum Tod von Lawrence Ferlinghetti





(Lawrence Ferlinghetti in San Francisco, im November 1996)

Zu den Besonderheiten der Literaturentwicklung im 20. Jahrhundert - aber auch in der Kunst allgemein, zählt das regelmäßige Aufkommen radikaler Bewegungen, sich selbst absolut setzender Schulen. Nicht, daß es "Schulen" oder "Bewegungen" nicht auch schon davor, beginnend mit dem frühen 19. Jahrhundert, gegeben hätte - in der Kunst steht das Aufkommen des Impressionismus dafür, oder die Plein-Air-Malerei der "Schule von Barbican". Im Bereich der Literatur fällt etwa in England die "School of Spasmodic Poetry" in den 1830er Jahren darunter, deren Markenzeichen Bombast und frenetische Hektik bei der Gestaltung möglichst breitwandformatiger Sujets war. Aber das waren kleine, persönlich nicht miteinander verbandelte Schnittmengen von artistischen Einzelkämpfern. Den "Cenacles" (wie in jenen Jahren, nach dem Vorbild von Joris-Karl Huymsmans solche Künstler-und-Bohême-Klüngel genannt wurden) des 20. Jahrhunderts kamen die Präraffaeliten ab 1860 wohl am nächsten: eine kleine Gruppe von maximal einem halben Dutzend artistischen Frontkämpfern, in engem Kontakt und Rivalität verbunden und mit einem ästhetischen Credo, das dem zu ihrer Zeit tonangebenden künstlerischen Richtmaß eine radikale Kampfansage entgegen setzt. Nicht zuletzt gehört zum Umfeld eines solchen "Aufbruchs" auch eine wohlwollende Begleitung durch die Medien: im neunzehnten Jahrhundert die breit gestreuten Salonberichte über die Jahresausstellungen, wie sie bei Charles Baudelaire nachzulesen sind. Aber etwas ganz Entscheidendes unterscheidet all die Stürme im ästhetischen Wasserglas von ihren Nachfolgern aus den Jahren kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der "Swinging Sixties".

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Es ist dies der Anspruch auf Alleinherrschaft. Der Reklamation, den "alten Stil," den überkommenen Plunder der bisherigen Kunstausübung, des bisherigen Dichtung, abzuräumen und an ihre Stelle Vorgaben zu setzen: Themen, Darstellungsweisen und Einstellungen zu bestimmen: wir haben den Heiligen Gral gefunden; nur unsere Themenwahl und unser Stil wird der Neuen Zeit, dem technischen Fortschritt, der radikal veränderten Sicht auf die Welt und - nicht LAST, sondern zuallererst FIRST - unserer politischen, radikal umstürzlerischen Einstellung gerecht. Aus dieser Haltung speist sich die Bekämpfung des "bürgerlichen Bildungsromans," der chromatischen Melodien, der gegenständlichen Kunst, der Ornament und der traditionellen Architektur. Aber der "International Style" nach Mies van der Rohe und le Corbusier ist so international wie flächendeckend wie der Verzicht auf die Gegenständlichkeit in der Malerei.

Kennzeichnend für die radikalen Kleingruppen, die sich daranmachen, ihrer Zeit einen radikalen Bruch mit der Tradition vorzugeben ist, das sie einen kleinen Zirkel bilden, ein halbes Dutzend gegen die Welt Verschworener unter einem alles dominierenden Rudelführer. Und daß die Proklamation der neuen ästhetischen Credos mit einem Manifest erfolgt. Und es ist typisch, daß zur Zeit dieser Proklamation noch kein einziges Werk vorzuweisen ist, das den Maßgaben der dort grell und apodiktisch dekretierten Richtlinien entspricht.

Das erste - und zweitbekannteste - Manifest dieser Art war das "Manifesto del Futurismo," zuerst auf Italienisch in der Gazzetta dell'Emilia in Bologna am 5. Februar 1909 und zwei Wochen darauf in französischer Fassung in "Le Figaro" veröffentlicht, mit dem Filippo Tommasi Marinetti den radikalen Bruch mit aller bisherigen Kunst und Literatur verkündete und den Futurismus begründete (Marinettis Roman "Mafarka il Futurista" wurde nur geschrieben, weil es keine Texte gab, die sein Credo der hysterischen Überhöhung der Technik, der Gewalt, des Krieges und der Geschwindigkeit-um-ihrer-selbst-willen illustrierte.)

Auch André Breton und Philippe Soupault, die fünfzehn Jahre später das erste Manifest des Surrealismus in die Welt setzten, hatten mit diesem nicht ganz unerheblichen Manko zu kämpfen, daß sie zwar balkengroß einen "reinen psychischen Automatismus," die Herrschaft des Traum und des Unterbewußtseins vekündeten, der die Befreiung der Kunst von allen bisherigen Fesseln bedeutete, aber (außer dem Verweis auf die Pittura metafisica Giorgio de Chiricos und die Prosagedichte der "Chants de Maldoror" des Comte de Lautreamont) nichts anzubieten hatten, an dem das geneigte pp. Publikum (wenn es sich nicht von der radikalen vorausgehenden Beschimpfung als reaktionäre bürgerliche Elemente hatte abschrecken lassen) sehen konnte, was auf den freigeräumten Trümmerhalde stattdessen errichtet werden sollte. Erst die Collagen, die Max Ernst ein Jahr später, 1925, in seiner Serie "La femme cent têtes" aus Stahlstichen von Enzyklopädien und illustrierten Magazinen montierte, schafften hier Abhilfe.

Die Dadaisten, deren Clownereien 1917 im Zürcher Cabaret Voltaire ihren Auftakt nahmen, verharrten aus diesem Grund ganz in der Negativität, in greller Persiflage und Albernheit.

* * *

Es lassen sich, phänomenologisch betrachtet, eine erstaunliche Reihe von Gemeinsamkeiten aufzählen, die all diesen radikalen Umwertern gemein sein - von den russischen Kubofuturiststen unter Wladimir Majakowski (die explizit an Marinetti anknüpften), ob Maximilian Hardens Beiträger zu seiner Zeitschrift "Die Zukunft" bis hin zu ihren spätesten Wiederauflagen im Situatinismus und Fluxus in der 1950er Jahre und, in literatirscher Form, im Bereich der Science Fiction in der "New Wave" in den spätern 60ern unter dem Oberkommando von Michael Moorcock und dem "Cyberpunk" wieder 20 Jahre darauf, als dessen Spritus Rector Bruce Sterling agierte.

Es sind dies: ein kleiner, elitärer und von immenser Rivalität zerrissener Zirkel mit höchstens einem halben Dutzend Mitglieder. Ein absolut gesetzter ästhetischer und literarisch verbindender Regelkanon, bei gleichzeitiger Betonung, daß jeder Regelkanon "bürgerlich" und tödlich sei. Eine radikale Absage an alles bisher Gewesene - mit der Ausnahme einige Pionierwerke, in der man die eigene Ästhetik, noch unausgereift, vorweggenommen sieht. Die radikale Absage an alles "Bürgerliche," "Traditionelle" - bei gleichzeitigem bestehen darauf, die jetzt einzig gültigen, für alle künsterlerische Produktion maßgebenden Regeln aufgestellt zu haben. Eine Absage an alles lebensplanerische Kalkül: jede Rücksicht darauf wird als "Ausverkauf", als "Verrat" gesehen. (Man sieht daran, daß auch der Punk, wie er sich bei den Sex Pistols und Ramones zwischen 1976 und 1978 manifestierte, diesen Gesetzmäßigkeiten gehorcht.) Die Ausrichtung an den Vorgaben eines Obergurus, wobei Abweichung zur Exkommunikation führt. Der Natur nach führt die Ausrichtung am "Neuen," "Radikalen" unweigerlich zu einer inneren Nähe zu radikalen linken politischen Programmen und einer vehementen Befürwortung utopischer, "progressiver" Versprechungen - während man selbst einen völlig unabhängigen, an nichts gebundenen Anarchismus für sich proklamiert.

Und, wie schon erwähnt: eine ausführliche Medienbegleitung, die dem "Neuen," dem Anklagend-Rebellischen gegen alles "Spießertum" ein Echo bei genau diesen verachteten Spießern verschafft. (Anhand oben aufgezählten Bestimmungsmerkmale läßt sich recht gut eine Unterscheidung zu den "üblichen" Künstlerzirkeln treffen: der "Bloomsbury-Kreis" um Virginia Woolf zählt so wenig dazu wie die Partygirls um Anais Nin. Hingegen darf man sowohl Frank Lloyd Wrights Architektenschule in Taos im amerikanischen New Mexico und Ayn Rands andächtig lauschende Jüngerschaft dazurechnen - bevor sie exkommuniziert wurden.)

Typisch sind auch die kurze Lebenszeit dieser Bewegungen: sie gleichen Meteoren, die grell aufflammen und spurlos verlöschen, wenn sie ihre Leuchtspur über das mediale Firmament gezogen haben. Sei es, weil die Gruppen an ihren inneren Widersprüchen zerfallen, sei es, weil der politische Progressivismus die anarchische Ungebundenheit torpediert; sei es, weil Themenwahl und Verfahren alsbald in leere Wiederholung münden. Der Surrealismus verlor seinen Kern, als Breton sich um 1930 zum Parteigänger des stalinistischen Sozialismus wandelte (was zum Bruch mit seinem Mitgründer Soupault führte); der Futurismus, dem Marinetti das Motto "Noi vogliamo glorificare la guerra - sola igiene del mondo - il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore" vorgegeben hatte, verendete auf den Schlachtfeldern des Isonzo; der Cyberpunk à la "Neuromancer" fand sein Ende, als Computerspiele wie Myst und SimCity die Ästhetik der "Schwarzen Serie" im Reich der Bits und Bytes ersetzten. Zwar mögen die Protagonisten noch weiterhin auf bewährte Weise in ihrem Winkel werkeln - Salvador Dalí pflegte das Markenzeichen "Dalí" ja noch bis zu seinem Tod im Jahr des Mauerfalls. aber sie werden zu Kuriosa; nicht zur Speerspitze des Neuen.

Das Verfallsdatum ist solchen Bewegungen eingeschrieben. Marinetti hat dem Rechnung getragen, als er 1909 im Manifest des Futurismus schrieb: "I più anziani fra noi, hanno trent’anni: ci rimane dunque almeno un decennio, per compier l’opera nostra. Quando avremo quarant’anni, altri uomini più giovani e più validi di noi, ci gettino pure nel cestino, come manoscritti inutili." ("Die Ältesten von uns sind keine 30 Jahre alt; uns bleibt mindestens ein Jahrzehnt, um unser Werk zu schaffen. Wenn wir 40 sind, mögen uns Andere, Stärkere als wir wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werden."( (Nebenbei: als Marinetti dies schrieb, stand er einen Monat vor seinem 33. Geburtstag.)

* * *

Und diese Meteorhaftigkeit, dieses schnelle Verglühen - das eben nicht nur Poètes maudits, sondern auch den Mouvements maudits eignet - führt zu einem seltsamen Eindruck, wenn ihr letzter überlebender Vertreter, "der letzte seiner Art," die irdische Bühne verläßt. Zumal, weil solche Repräsentanten des "Trau' keinem über 30!" ("Hat einer dreißig Jahr vorüber, /dann ist er schon so gut wie tot! / Am besten wär's, euch zeitig totzuschlagen!" heißt es schon im ersten Teil des "Faust" in "Auerbachs Keller") oft ein biblisches Alter erreichen. Nicht nur der Weltlauf hat sich, nach 60, 70, 80 Jahren mehrfach grundlegend gewandelt und gebrochen. Auch Kunst und Literatur haben sich neu orientiert, gewandelt, haben aus dem einstmals Grundstürzenden ein Kuriosum werden lassen, von dessen Vorhandensein 9 von 10 der Nachgeborenen nicht einmal mehr wissen, daß es einst ein Skandalon dargestellt hat. Es ist wie das Abtreten eines Dinosauriers, der nicht nur eine, sondern ein halbes Dutzend Sintfluten überlebt hat.

II.

So war es beim "letzten Futuristen," Carlo Ludovico Bragaglia, der im Januar 1998 im Alter von 103 Jahren in Mailand starb. Bragaglia war war zwei Generationen von Italienern als Regisseur von gut 30 Filmkomödien bekannt, hatte sich aber schon im Alter von 16 Jahren Anrecht auf Mitgliedschaft im Kreis der Futuristen erworben, als 1911 für die erste Gruppenaustellung in Mailand mit seinem älteren Bruder Anton Giulio die Technik der "fotodinamica" entwickelte, bei denen mit Mehrfachbelichtungen Bewegungsabläufe auf einem Bild fixiert wurden und damit in der Photographie ins Sichtbare transformierte, was Giacomo Balla und Umberto Bioccioni mit ihrer Malweise abbildeten.

So war es auch beim "letzten Surrealisten" (genauer: der letzten SurrealistIN) - bei Dorothea Tanning, die im Januar 2012 ein halbes Jahr vor ihrem 102. Geburtstag in New York starb - der letzten Lebensgefährtin Max Ernsts, deren Gemälde "Birthday" von 1942 den Zeitpunkt markiert, an dem die weiter in diesem Bereich tätigen Künstler ihrer eigenen Ästhetik folgten und nicht mehr den Vorgaben eines Programms - in dem also der ursprüngliche Auftrag, sich so und nicht anders auszudrücken, entfiel. Surrealismus war von da an nur noch ein Stil, ein Darstellungsmodus, keine Vermittlung von Erfahrungen, die anderen Stilen nicht gegeben war.

* * *

III.

Und so ist es im Fall des "letzten Beatniks," Lawrence Ferlinghetti, der vor zwei Wochen, am 22. Februar 2021, einen Monat vor seinem 102. Geburtstag in Bronxville im amerikanischen Bundestaat New York gestorben ist.

Beatniks? Wer war das nochmal? Existentialisten mit Barrett und Bongotrommeln in dunklen Kellerkaschemmen? Free Jazz und Hard Bop, mit Plattenhüllen im kantig-flächigen Stil von Blue Note? Genau dies (obwohl der von den Beats selbst präferierte Soundtrack ihres Lebens eher von Chet Baker als von Charlie Parker stammen dürfte.) Jenes spezifische Aussteigertum mit genau zwei eng umgrenzten Lokalitäten - dem Greenwich Village in New York und dem Norden San Franciscos. Jene kurzlebige Manifestation einer "Gegenkultur" gegen die als so spießig-rückständig verschrieenen Fünfziger Jahre, die, anders als die Pariser Szene der Rive Gauche um Sartre, de Beauvoir und allerhand namhafte Protagonisten der französischen Intellektuellenszene nach dem Krieg sich tatsächlich aus ein paar namenlosen, verkrachten Existenzen rekrutierte, buchstäblichen Außenseitern, von denen heute niemand mehr etwas wüßte, hätte ihr Treiben nicht doch gegen Ende des Jahrzehnts einen Nerv der Zeit getroffen, der als radikale Absage an den konformistischen Zeitgeist, das Gefühl, im "Schatten der Bombe" zu leben und den als skrupellos empfundenen Machenschaften und korrupter Politik nur als Verschiebemasse zu dienen. Von ihren Pariser Pendants unterschieden sich Burroughs, Kerouac & Co. freilich in einem ganz entscheidenen Punkt: sie glaubten nicht an die Erlösung durch die Versprechen des Sozialismus, sondern durch radikal individuelle Verwirklichung der eigenen momentanen Befindlichkeit. Und sie sind nicht durch ihre Werke im Gedächtnis geblieben, die ihr Gepräge einem bestimmten Milieu, einer bestimmten Haltung verdanken - wie etwa Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" - sondern ihrer ziellosen, unsteten Lebensführung, von denen die Texte, die die schmalen Bändchen auf den Regalen füllen, nur ein Schatten sind.

Die tatsächlichen literarischen Hervorbringungen solcher Bewegungen erweisen sich bei der nachholenden Lektüre, aus der Distanz von einem halben oder ganzen Jahrhundert, in aller Regel nicht nur als wenig ergiebig, sondern als manifeste Enttäuschung. Die Programme der Dadaisten im Cabaret Voltaire wirken ebenso albern wie ermüdend wie das "O Mensch"-Pathos der Expressionisten. Von den expressionistischen Gedichten, die Kurt Pinthus vor genau 100 Jahren als Quintessenz dieser Stilrichtung in seiner Anthologie "Menschheitsdämmerung" gesammelt hat, dürften 85% schlicht unlesbar sein (und der Verdacht liegt durchaus nahe, daß sie sich vor 100 Jahren um keinen Deut anders lasen). Als literarische Marksteine der Beat-Bewegung gelten, durchaus zu Recht, drei Texte: Kerouacs literarisches Roadmovie "On the Road" (1975), Allen Ginsbergs "Howl and Other Poems" (1956) und William S. Burroughs "The Naked Lunch" (1959). Es ist nicht so, daß die ersten beiden Texte nicht passagenweise einen kleinen Sog entfalten - jenes Kribbeln in der Wirbelsäule, das nach Vladimir Nabokov das Zeichen für wirkliche Literatur darstellt - und selbst Burroughs grotesk-abstoßende Drogenhalluzination kann absatzweise als brutal-skatologisches Pandämonium einen perversen Reiz entfalten. Aber als Ganzes, als Texte mit Wirkung auf den Leser, hinterläßt dies alles einen Eindruck von beständiger gewollt-überdrehter Gereiztheit, einen vollkommenen Mangel an Selbstreflektion und einer Selbstbezüglichkeit, die atemverschlagend ist. Es ist von massiver Ironie, daß diesen Texte, die dem "spießigen, selbstsüchtigen, lebensfeindlichen" Geist der "muffjen Fuffzijer" Hedonismus und Lebensgier entgegensetzen in maximaler Dosis entgegensetzen wollten, selbst genau diese Verkrampftheit und Unlust aus jeder Pore dampft. (Eine ähnliche Erfahrung macht durch, wer sich, aus einem Halbjahrhundert Distanz, die Bebilderung dieses "Traums von der wirklichen Freiheit" für die nachfolgende Generation zum ersten Mal ansieht, nämlich Dennis Hoppers "Easy Rider." Die Lebensuntauglichkeit und Unfrohheit von Hoppers Kleinganoven wirken auf Nachgeborene nicht wie ein Abgesang auf den Traum von der freien Landstraße, sondern wie dessen verkrampfte Parodie.)

* * *

IV

Um nun aber endlich auf den "letzten Beatnik" Ferlinghetti zu kommen. Wie etwa Gregory Corso oder Gary Snyder zählt er hinter der genannten Trias Kerouac - Bulloughs - Ginsberg zur zweiten Riege der literarischen Vertreter dieser Bewegung. Das ändert nichts an der Tatsache, daß sein erster Gedichtband, "A Coney Island of the Mind," 1955 erschienen, mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren eine der am meisten verkauften englischsprachigen Gedichtsammlungen des 20. Jahrhunderts darstellt. Aber auch hier gilt: von den einzelnen Gedichten hat es keine Zeile ins literarische Gedächtnis, in der Schatz der geläufigen Zitate geschafft. (Das dürfte bei den Beats auf Ginzburgs Zeile "I saw the best minds of my generation destroyed" aus dem "Geheul" beschränkt sein oder Burroughs Definition dessen, was sein Titel "Naked Lunch" denn bedeute: "a frozen moment when everybody sees what is at thhe end of every fork."). Aber als Buchhändler und vor allem als Verleger dieser Texte kommt ihm eine kaum zu überschätzende Rolle.



Ferlinghetti, Ende März 1919 in Yonkers in Bundestaat New York geboren, wuchs unter der Obhut einer Tante zunächst in Paris auf. Sein Vater war kurz vor seiner Geburt gestorben und seine Mutter sah sich nicht in der Lage, noch ein fünftes Kind allein großzuziehen. Diese Erfahrung der Heimtlosigkeit und Unstetheit hat ihn sein Leben lang geprägt. Nach Kriegsdienst im Pazifik (wo er im zerbombten Nagasaki stationiert wurde, was aus ihm nach eigener Aussage "im Handumdrehen einen Pazifisten machte," und einem Studium an der Sorbonne fand er 1953 zu einer Lebensaufgabe, als er im Norden San Franciscos, wo er seit 1951 wohnte, die Buchhandlung City Lights Bookstore eröffnete - die erste Buchhandlung überhaupt, die nur Taschenbücher im Angebot hatte. Die Taschenbuchreihen, die nach dem Krieg zahlreiche Verlage für Nachdrucke in ihr Program genommen hatten, galten als preisgünstige Reiselektüre, die man nach der Bahnfahrt im nächsten Papierkorb entsorgte. 1954 begann Ferlinghetti, sich als Verleger zu betätigen; die Reihe der schmalen Bändchen mit ihrem rechteckigen Design, das an nichts so sehr erinnert wie die ikonischen Plattenhüllen des Labels Blue note (die Assoziation weiter oben kam nicht von ungefähr) diente der Präsentation ausgefallener Avantgardeliteratur, darunter zahllose Titel der Beat Era: die ersgten sieben Gedichtgbände Ginzbergs (vor allem "Howl"), Gregory Corsos "Gasoline" (1958), Denise Levertovs "Here and Now" (1958) oder Frank O'Haras "Lunch Poems" (1964).



Daß dabei eine radikale linke politische Ausrichtung vorherrschte, versteht sich angesichts der Geschichte der literarischen Avantgarde im 20. Jahrhundert eigentlich von selbst. Ferlinghetti selbst verstand sich zeitlebens politisch als dem Anarchismus nahestehend und verkaufte in City Lights Bookstore auch die Zeitschriften, die von italienischen anarchistischen Zirkeln in Kalifornien herausgegeben wurden. Eine hübsche - aber absolut erwartbare - Ironie liegt darin, daß Nancy Peters, die Ferlinghetii 1971 als Verkäuferin eiinstellte und 1984 die Geschäftsführung von ihm übernahm, Ende der 1990er Jahre elektronische Diebstahlsicherungen und Übeerwachungskameras installierte, um den Bestandsschwund in Grenzen zu halten. Wenn es um den eigenen Llebensunterhaltgeht, pflegen auch hartgesottene Anarchisten die Ordensregel ihres Glaubens, Proudhomme's "Le proprieté est vol!" noch einmal zu überdenken.

Daß sich im Programm von City Lights Books ein dem extrem linksradikalen Spektrum zuzuordnender Autor wie Noam Chomsky ebenso findet wie ein als Plakat gedrucktes Gedichts von Ferlinghetti aus dem Jahr 1961 mit dem Titel "A Thousand Words for Fidel Castro," darf in keiner Weise überraschen. Dergleichen entspricht vielmehr konsequent der Einstellung aller überzeugten Progressisten - jedenfalls soweit sie nicht an die starren Vorgaben einer formalisierten Ideologie gebunden sind - "Politik" als unreflektierten Herzensimpuls zu verstehen, unbekümmert um alle historische Erfahrung. Wäre die Linke imstande, den zwangshaft totaliären Charakter ihrer ersehnten Paradiese zu erkennen, wäre sie keine Linke.

In dem Milieu, in dem Ferlinghetti und das City Lights Bookstore existier(t)en, kann nicht davon die Rede sein, daß die linken utopischen Visionen, jene Quintessenz der "Sixties," nach "Vietnam", nach dem Rücktritt Nixons, nach dem Amtrantritt Ronald Reagans, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus im Osten, nach dem Tod Fidel Castros - und welche Wegmarken man auch immer nehmen mag, ein Ende fanden - so, wie anderenorts die Zeit der Blumenkinder und Rockfestivals spätestens Mitte der 70er Jahre anderen Befindlichkeiten Platz machen mußte. So wie man in der Londoner Baker Street 221B immerfort das Jahr 1895 schreiben wird, wird man dort, so wie auch in der Rigaer Straße in Berlin, stets unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus leben.

Das darf nun nicht den Blick auf die unbestrittenen Qualitäten Ferlinghettis verstellen -auf eine Rolle als einer der Impulsgeber in einer markanten, wenn auch wie stets folgenlosen Bewegung noch in der Rolle, zu der Ferlinghetti zunehmend fand, nachdem ebendiese Sixties die vorher Dreißigjährigen der Beat Generation im Papierkorb der Kulturgeschichte entsorgt hatten: als Original.

* * *

V.

Für die meisten Zuschauer dürfte die einzige mediale Begegnung mit Ferlinghetti an einer Stelle erfolgt sein, die im Gedächtnis geblieben ist, aber nicht mit seinem Namen verknüpft wurde (woher auch? Der Gastauftritt ist gering, liegt lange zurück und der eingeblendete Name sagte niemandem etwas). Es handelt sich um ein kurzes Intermezzo in Martin Scorseses Konzertmitschnitt über den letzten Auftritt der einzigartigen Rockkombo The Band im November 1976 im Fillmore West in San Francisco und der zwei Jahre später in die Kinos kam. Die Gruppe um Robbie Robertson, Levon Helm und Richard Manuel hatte sich zuerst um 1966 als Begleitgruppe Bob Dylans einen Namen gemacht, als dieser das sparsam-akustische Folksong-Ambiente ad acta legte und fortan die "elektrische Violine auf der Desolation Row" spielte, wie er 1965 auf dem Album "Highway 61" nun, sagen wir: sang. Mit den an den folkloristischen Traditionen angelehnten schweren Instrumentierungen und Themen, die so gar nichts mit dem Sex & Drugs & Rock'n'Roll-Komplex der hedonistischen Hippiezeit zu tun hatten, um so mehr aber mit der Beschwörung eines mythisch-ländlichen Amerika, hatte sich die Gruppe in den folgenden Jahren eine ganz eigene Nische in dem Bereich geschaffen, den man damals noch nicht "Americana" nannte. Mindestens 20 Jahre lang war ihr musikalisches Gedenken an den amerikanischen Bürgerkrieg, "The Night They Drove Old Dixie Down," so etwas wie die inoffizielle Hymne der Südstaaten - vielleicht ist sie es immer noch.

Und zum Abschluß ihres gemeinsamen Wege luden sie Gastmusiker ein, die ebenjenem Geist in ihrer Musik Referenz erwiesen - das strikte Gegenteil des zu jener Zeit grassierenden Samstagabendfiebers des Discomusik. Neil Young, Van Morrison, Bob Dylan himself, Joni Mitchell (daß hier der nördliche Nachbar Kanada als das heimliche musikalische Herz Amerikas aufschien, ist kein Zufall: außer Robbie Robertson stammten alle Mitglieder von The Band aus Kanada). Und mitten in diesem musikalischen Reigen erfolgte ein kurzer, nur minutenlanger Auftritt eines schon etwas älteren Herrn in Holzfällerkluft, der das Publikum aufforderte: "Lasset uns beten!" und eine Parodie auf das Vaterunser vortrug:

After this manner, let us pray:
Our father, whose art's in heaven -
Hollow be thy name
Unless things change.
Thy wigdom come and gone.
Thy will will be undone
On earth - as it isn't heaven.
Give us this day our daily bread
(at least three times a day).
And forgive us our trespasses
As we would forgive those lovelies
Whom we wish would trespass against us.
And lead us not into temptation
Too often on weekdays.
But deliver us from evil
Whose presence remains unexplained
In thy kingdom of power and glory

Oh man!

("Loud Prayer")



Bei diesem Vorbeter mit dem würdigen Prophetenbart handelte es sich um Lawrence Ferlinghetti.

Wenn man bedenkt, daß dieser Auftritt des damals 56-Jährigen (also weit jenseits des damaligen Ablaufdatums für Rockstars - die Rolling Stones zählten mit Mitte 30 seinerzeit schon zum alten Eisen!) nun mittlerweile auch schon 45 Jahre zurückliegt, läßt sich vielleicht erahnen, was ich oben mit "einem halben Dutzend Sintfluten" gemeint habe.

* * *

Carlo Ludovico Bragaglia hat 1997, im Jahr vor seinem Tod, im Alter von 102 Jahren seinen letzten Prosaband veröffentlicht: "Bragaglia racconta Bragaglia. Carosello di divagazioni, saggi e ricordi." Dorothea Tanning, die erst im hohen Alter zum Schreiben gekommen war, publizierte ebenfalls im Jahr vor ihrem Tod, 2011, ihren zweiten Gedichtband "Coming to That." Ihre ersten beiden Buchveröffentlichungen waren autobiographische Schilderungen über das Leben mit Max Ernst, dessen zweite Frau sie 1946 geworden war ("Birthday," 1986 und "Between Lives - An Artist and Her World," 2001). Und Ferlinghettis letztes Buch erschien im April 2019, einen Monat nach seinem 100. Geburtstag: "Little Boy" - ein unklassifizierbarer Wortstrom, der wie eine Autobiographie anhebt und nach gut zwei Dutzend Seiten in eine uferlose Kaskade von Wortreihungen, Assoziationen und Fetzen von Reflektionen ausufert, fast ohne Punkt und Komma, ein Wörterhort ("word-hoard"), ein semantischer Maelstrom, der alle Ufer sprengt:

"AND Little Boy, grown up after an endless series of confusions transfusions transformations instigations fornications confessions prognostications hallucinations consternations confabulations collaborations revelations recognitions restitutions reverberations misconceptions clarifications elucidations simplifications idealisations aspirations circumnavigations realisations radicalisations and liberations, Grown Boy came into his own voice and let loose his word-hoard pent up within him."


Wer einwendet, eine solche Wörterlawine, die alles mitreißt und jeden Sinn alsbald unter sich begräbt, sei doch unlesbar und nur passeganweise zu ertragen, hat natürlich recht. Und doch geht ein solcher Einwand als Sinn (oder "Sinn") solcher Texte vorbei. Dasselbe gilt etwa auch für Arno Schmidts "Zettels Traum," für Harry Mulischs "De Verteller," für das Großwerk dieser Art, James Joyces "Finnegans Wake" von 1939 und sogar schon für das Urbild solcher semantischer Ruinenlandschaften, der "Hypnerotomachia Polifili" des Francesco Colonna von 1499, an dessen sechssprachiger Traumallegorie jede Rezipientengeduld Schiffbruch erleidet. Der Sinn, der Zweck solcher Texte ist es gerade nicht, erfaßt und verstanden zu werden. Sie sind Wörtertornados, semantische Orkane, in deren Tosen der Leser hin und wieder undeutlich einen Umriß von Sinn aufschimmern sieht, wenn er sich darauf einläßt und sich dem Chaos ausliefert. Und "Little Boy" ist mit seinen 170 Seiten noch die kleinformatigste dieser literarischen Zumutugen. Das wortwörtlich wahnwitzigste Unterfangen dieser Art, das je unternommen worden ist, war "The Familiar" von Mark Z. Danielewski, dessen erster Band im Mai 2015 beim New Yorker Verlag Pantheon Books erschienen ist und der in insgesamt 27 Bänden von jeweils 880 Seiten neun Stränge von - ja, was? - eines "Weltromans"? der "Abenteuer eines jungen Mädchens"? eine Weltverschwörung in Stil Thomas Pynchons? - schildern sollte. Mit seinen typographischen Tricks, seinen unendlichen Querverweisen hat dieser Torso hier wohl das nicht mehr zu überbietende Gardemaß an Unlesbarkeit gesetzt. Die Publikation sollte sich bis 2022 hinziehen. Im November 2017 hat der Verlag nach der Veröffentlichung des fünften Bandes, "Redwood," die Veröffentlichung aus Mangel an Leserinteresse endgültig beendet.



U.E.

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