2. Januar 2021

Arnold Bennett, "Mitternacht im Grandhotel Babylon" (1905)





(Das Savoy Hotel in London, das Bennett als Vorbild für das Grandhotel Babylon diente.)

I.

"Also gut," begann der Arzt. "Manche hier sind der Ansicht, daß ich mich in letzter Zeit ziemlich bedeckt gezeigt habe. Kann sein. Trotzdem werde ich euch jetzt - nur euch hier in der Runde - alles über den Fall erzählen, der mich beschäftigt hat. War nicht der seltsamste, der mir je untergekommen ist. Ihr wißt, daß ich so allerlei erlebt habe; jeder Fall ist auf seine Art interessant. Aber Giftmorde haben etwas Besonderes an sich, und dieser hier war der Merkwürdigste von allen. Kommt nicht oft vor, daß jemand, der einen Mord mit Gift ausführen will, einen Arzt ruft und ihn dann zu diesem Zweck einspannt, ohne daß er davon etwas ahnt. Aber genau das ist hier passiert. Es kommt auch nicht oft vor, daß ein Giftmörder ein Gift wählt, das ausgefallen ist, das kaum nachzuweisen ist, und das in jeder Apotheke ohne Rezept erhältlich ist. Aber genau das ist mir passiert. Ihr könnt euch darauf verlassen, daß mir das eine Lehre war. Mir ist hier zum ersten Mal wirklich aufgegangen, welche Möglichkeiten sich einem wirklich gerissenen Mörder hier im zwanzigsten Jahrhundert bieten. Es gibt ja die Berichte über die raffinierten Giftmorde im Mittelalter. Bah! Alles zweitklassig! Damals verstand niemand genug davon im Vergleich zu dem, was ein wirklich raffinierter Mörder heute erreichen kann; sie besaßen das nötige Wissen einfach noch nicht. Und das andere, was mir auffiel, ist, wie nützlich ein großes Hotel in London für einen modernen Mörder ist. In einem großen Hotel kann man sich alles erlauben, und es fällt niemandem auf. Man verläßt es, man kommt herein; niemand nimmt groß davon Notiz; man ist nur jemand in der Menge der Gäste. Sobald man oben in den Zimmerfluren ist, ist man vor Verfolgung und Beobachtung so sicher wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Man kann zwei Zimmer buchen, unter verschiedenen Namen, in verschiedenen Stockwerken. Die Leitung und das Personal merken davon nichts; niemand, der im zweiten Stock zu tun hat, weiß, wer im dritten wohnt; oder im vierten. Man kann hin und her pendeln, daß selbst Inspektor Anderson vor einem unlösbaren Rätsel stehen würde. Sobald man auf seinem Zimmer ist, sitzt man da so sicher wie ein Baron im Mittelalter auf seiner Burg - sogar noch sicherer. In der fraglichen Nacht hielten sich mehr als tausend Gäste im Grandhotel Babylon auf (im Goldsaal fand ein Ball statt, und es gab mehrere Bankette), und mitten unter dieser Menge spielte sich eine schreckliche Tragödie ab, ohne daß es jemand geahnt oder mitbekommen hätte, und ich wurde da hineingezogen. Also hört gut zu.

­ II.



Ich wurde gegen neun Uhr abends ins Grandhotel Babylon gerufen. Zimmer 63 im zweiten Stock, mir wurde der Name Russell genannt. Eine gutgekleidete Frau von etwa dreißig, mit einem Gesicht, das eher charaktervoll und intelligent als hübsch wirkte, öffnete die Tür der Suite. Mir gefiel ihr Gesicht; der Ausdruck von Ehrlichkeit und Aufgewecktheit sagte mir zu.

"Guten Abend, Doktor," sagte sie, mit einer angenehmen tiefen Stimme, während sie mich in einen ausgesprochen luxuriösen Salon führte. "Ich heiße Russell, ich möchte, daß Sie eine junge Freundin von mir untersuchen, die sich nicht wohlfühlt." Sie zögerte sich und wandte sich an einen alten Herrn mit einer Glatze, der aus einem der Fenster das Dämmerpanorama der Themse betrachtete. "Der Rechtsanwalt meiner Freundin, Mr. Dancer," erklärte sie. Mr. Dancer und ich verbeugten uns.

"Ich hoffe, daß es nichts Ernstes ist," bemerkte ich.

"Nein, nein!" sagte Mrs. Russell.

Sie schien mir trotzdem äußerst nervös und besorgt zu sein, als sie vor mir ins Schlafzimmer ging, das dem Salon in nichts nachstand.

Auf dem Bett lag eine bildhübsche junge Frau. Ihe dürft gerne lachen, aber sie war wirklich wunderschön. Als ich eintrat, lächelte sie leicht. Ihr Gesicht war blaß, und auf ihrer Stirn standen winzige kalte Schweißperlen. Ich konnte aber auf den ersten Blick erkennen, daß es nichts Ernstes war, und sprach sie deshalb in entsprechendem Ton an.

"Haben Sie das Gefühl, daß Sie frei atmen könnten, aber daß es Sie umbringen würde, wenn Sie das wirklich tun?" fragte ich, nachdem ich sie untersucht hatte. Sie lächelte erneut und nickte. Mrs. Russell lächelte ebenfalls, sichtlich erfreut, daß ich so schnell eine Diangnose stellen konnte.

Meine Patientin litt an an einem leichten Anfall von Pseudoangina pectoris, weiter nichts. Nicht Angina Pectoris - die tritt zumeist im Alter auf. Pseudo-Angina ist etwas anderes. Bei Leuten, die an Herzschwäche leiden, kann das durch Verdauungsbeschwerden ausgelöst werden. Die Symptome umfassen Herzrhythmusstörungen, starke Schmerzen im Brustbereich, Angst davor, auch nur die kleinste Bewegung zu machen, und Niedergeschlagenheit. Die junge Frau zeigte alle diese Symptome, und sie hatte Kopfschmerzen und Dicrotismus des Pulses - ein doppelter Pulsschlag statt des einen üblichen; der oft in solchen Fällen auftritt. Es stellte sich heraus, daß sie zu schwer zu Abend gegessen hatte, und daß sie schon früher unter solchen Anfällen gelitten hatte.

"Waren Sie schon in Behandlung?" fragte ich.

"Ja," sagte Mrs. Russell. "Aber der Arzt konnte heute abend nicht kommen, und deshalb haben wir nach Ihnen geschickt, weil Sie so nahebei wohnen."

"Es besteht keine Gefahr - sie brauchen sich keine Sorgen zu machen," resümierte ich. "Ich stelle Ihnen sofort ein Rezept aus."

"Trinitrin?" wollte Mrs. Russell wissen.

"Ja," antwortete ich, ein wenig erstaunt, daß sie so gut Bescheid wußte. "Hat Ihnen das Ihr Hausarzt bereits verschrieben?"

(Ich sollte vielleicht erklären, daß es sich bei Trinitrin um Nitroglyzerin in nichtexplosiver Form handelt.)

"Ich glaube schon, daß es Trinitrin war," antwortete Mrs. Russell, mit leichtem Zweifel. "Könnten Sie das Rezept jetzt gleich ausstellen, dann lasse ich gleich einen Hotelboten losschicken. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Doktor, wenn Sie solange noch hierblieben könnten, bis - ob Sie noch bleiben würden."

"Sicher!" sagte ich. "Ich bleibe gern noch ein bißchen. Aber ich kann Ihnen versichern," fügte ich hinzu, und sah ihr ins ängstliche und besorgte Gesicht, "daß es keinerlei Grund zur Sorge gibt."

Sie lächtelte zustimmend. Aber ich konnte sehen, daß ich sie nicht überzeugt hatte. Mich beschlich der Verdacht, daß sie wohl vielleicht doch nicht so aufgeweckt war, wie ich zunächst vermutet hatte. Meine Patientin, die jetzt keine Schmerzen mehr verspürte, lag ruhig und mit geschlossenen Augen da.

III.

Vergeßt nicht den alten Rechtsanwalt mit der Glatze im Salon.

"Ich nehme an, daß Sie oft ins Grandhotel Babylon bestellt werden, Sir, da Sie ja nun einmal nur um die Ecke wohnen," bemerkte er in ziemlich förmlicher Weise. Er hatte eine große Nase und die Angewohnheit, einen über den Brillenrand hinweg mit aufgesperrtem Mund anzuschauen, wenn er etwas gesagt hatte. Wir saßen allein im Salon. Ich wartete darauf, daß die Medizin besorgt wurde, und worauf er wartete, konnte ich nicht sagen.

"Mitunter. Nicht oft," gab ich zurück. "Ich bin öfter im Majestic hier in der Nähe zu finden."

"Aha, soso," brummte er.

Es war mir klar, daß er auf seine steife, formale Art höfliche Konversation treiben wollte, und auch, daß ihm die Zeit hier im Salon lang wurde. Ich fing also an, ihm erklären, um was sich sich handelte, und begann, mich vorsichtig nach meiner Patientin und Miss Russell zu erkundigen.

"Sie haben, nehme ich an, bemerkt, daß es sich bei der jungen Dame um Miss Spanton handelt, Miss Adelaide Spanton?"

"Was? Doch nicht DIE Spanton?"

"Genau die, Sir. Die Tochter von Edgar Spanton, meinem verstorbener Klienten, dem großen Zeitungsmagnaten."

"Und diese Miss Russell?"

"Sie war früher einmal die Goiuvernante von Miss Adelaide. Jetzt ist sie ihre Freundin, und hängt sehr an der jungen Dame. Es handelt sich um ein selbstloses Interesse, soweit ich das beurteilen kann, obwohl viele Leute das natürlich anders sehen. Miss Adelaide ist von sehr schüchternem und zurückhaltendem Wesen, und sie besitzt keine weiteren nahen Verwandten mehr. Außer Miss Russell hat sie sonst niemanden auf der Welt, wenn ich es einmal so ausdrücken darf."

"Aber sicherlich ist Miss Spanton sehr vermögend?" wollte ich wissen.

"Sie treffen ins Schwarze, Sir. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag wird sie die Alleinerbin des gesamten Vermögens ihres Vaters sein. Vielleicht haben Sie den Presseberichten entnommen, daß ich seinen Nachlass auf drei Millionen Pfund taxiert habe."

"Und wann begeht Miss Spanton ihren einundzwanzigsten Geburtstag?" fragte ch.

Der alte Rechtsanwalt sah auf seine Uhr.

"In etwas weniger als drei Stunden. Um Mitternacht beginnt ihr zweiundzwanzigstes Lebensjahr nach den Bestimmungen des Gesetzes."

"Ich verstehe," sagte ich. "Jetzt wird mir klar, warum Miss Russell so besorgt war, und warum ich sie gar nicht beruhigen konnte. Zweifellos hat sie sich in in einen Zustand von Nervosität hineingesteigert. Und darf ich fragen, was passiert - ich meine, was passiert WÄRE - falls Miss Spanton etwa zugestoßen wäre, bevor sie ihre Volljährigkeit erreicht hätte?"

"Der gesamte Nachlass hätte einem Vetter zugestanden, einem Mr. Samuel Grist aus Melbourne. Ich nehme an, daß Ihnen der Name etwas sagt. Es heißt, daß er einer der führenden Theaterbesitzer in Australien sein soll. Unter uns gesagt, darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß Mr. Grists Ruf zweifelhaft ist - vielleicht haben Sie davon gehört - windige Geschäfte und Eskapaden. Nun ja. Es handelt sich bei ihm aber um den einzigen noch lebenden Verwandten meines ehemaligen Klienten, Miss Adelaide ausgenommen. Ich bin ihm noch nie persönlich begegnet; er verläßt Australien nie."

Ich mußte lachen. "Heute nacht enden also alle Hoffnungen, die sich Mr. Grist vielleicht gemacht hat."

"Genau so ist es," pflichtete der Rechtsanwalt bei. "Und der Grund für Miss Russels Besorgnis entfällt dann auch. Ich kann Ihnen versichern: seit dem bedauerlichen Tod von Mr. Spanton ist sie für meine junge Klientin so etwas wie Vater und Mutter zusammen gewesen. Eine patente Frau, diese Miss Russell! Man sollte ihr das Übermaß ihrer Besorgnis nachsehen. Sie hat mich gebeten, bis Mitternacht hierzubleiben, um Zeuge von Miss Spantons, nun, Lebendigkeit zu sein, und um Miss Spantons ein paar Dokumente unterzeichnen zu lassen. Sir, es würde mich nicht überraschen, wenn sie Sie auch gebeten hätte, so lange zu bleiben. Sie trifft alle Vorsichtsmaßnahmen, die ihr einfallen."

"Ich fürchte, daß ich nicht bis zwölf bleiben kann," sagte ich. Unsere Unterhaltung geriet ins Stocken, und ich verfiel ins Nachdenken.

Ich will gerne zugeben, daß ich von dem, was ich den romantischen Aspekt der ganzen Angelegenheit nennen möchte, recht beeindruckt war. Ich dachte an den alten Spanton, der mit weniger als nichts angefangen hatte, und als Besitzer von drei Tageszeitungen und fünfundzwanzig Zeitschriften und Magazinen gestorben war. Ich dachte an Spanton, Ltd., und ihre gewaltigen Redaktionen, die sich rings um den halben Salisbury Square ziehen. Ich hatte sogar eine Ausgabe der Sondernummer der "Evening Gazette" in meiner Tasche. Erinnert sich einer von euch noch daran, wie Spanton mit der "Evening Gazette" anfing? Von der ersten Nummer wurden dreihunderttausend Exemplare verkauft. Und jetzt war der alte Spanton tot - ihr wißt, daß ihn der Alkohol ins Grab gebracht hat, und jetzt war niemand aus dieser Familie mehr am Leben, außer dem jungen Mädchen, das hier im Bett lag, und dem Menschen in Australien. Und all die Spanton-Redakteure, und die Spanton-Korrektoren, und die Spanton-Journalisten, die Zeichner und Schriftsetzer, und die Spanton-Druckpressen, und die Spanton-Papiermühlen, und die Spanton-Zeitungsboten, sie alle waren rund um die Uhr damit beschäftigt, dieses Mädchen mit achtzigtausend Pfund pro Jahr zu versorgen. Und sie lag hier, schwach und niedergeschlagen und hatte niemanden - außer Miss Russell, und diesem Menschen in Australien, der womöglich auf ihren Tod hoffte. Und niemand im ganzen Hotel ahnte etwas von dieser von dieser hochromantischen, ich hätte fast gesagt rührenden, Situation. Ich dachte an die drei Millionen Pfund, die Miss Spantons Zukunft darstellten, und ich fragte mich, ob diese drei Millionen sie glücklich machen würden.

"Hier ist die Medizin, Doktor," sagte Miss Russell, die ins Zimmer geeilt kam, und gab mir die Flasche mit dem Etikett der Apotheke. Ich ging mit ihr ins Schlafzimmer. Der schönen Adelaide Spanton ging es bereits besser, und sie sagte, daß sie sich auch so fühlte, als ich die Medizin zumaß - zwei Minim einer einprozentigen Lösung von Trinitrin (auch als Nitroglyzerin bekannt); das übliche Mittel gegen Pseudo-Angina.

Miss Russell nahm mir die Flasche aus der Hand, verkorkte sie und stellte sie auf den Toilettentisch. Kurz darauf verließ ich das Hotel. Der Rechtsanwalt hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen, daß mich Miss Russell bitten würde, noch zu bleiben, was mir leider nicht möglich war. Ich versprach ihr aber, in einer Stunde wiederzukommen, und versicherte ihr nochmals, daß sie sich keinerlei Sorgen zu machen brauchte.

IV.

Als ich das Hotel wieder betrat, war es halb elf.

"Zweiter Stock!" sagte ich beiläufig zum Liftboy, und er ließ uns emporsausen; die Aufzüge im Babylon sind schnell.

"Hier, Sir!" sagte er, und ich trat auf den Flur.

"Ist das wirklich der zweite Stock?" fragte ich überrascht.

"Bitte um Verzeihung! Ich hatte 'siebter Stock' verstanden."

"Lieber Junge, Sie solllten längst im Bett sein!" war meine Antwort. Ich wollte gerade wieder den Aufzug betreten, als ich sah, wie Miss Russell weiter hinten durch den Flur eilte. Ich rief ihren Namen, falls sie mit mir nach unten fahren wollte, aber sie hörte mich nicht. Ich folgte ihr, weil ich mich fragte, was sie wohl hier im siebten Stock suchte. Sie öffnete eine Tür und verschwand in einem der Zimmer.

"Nun?" hörte ich eine finstere Stimme im Zimmer rufen, und die Tür schloß sich, fiel aber nicht ins Schloß.

"Ja, siebter Stock war richtig!" rief ich dem Liftboy zu, und er verschwand mit seinem Aufzug.

Die Stimme aus dem Zimmer hatte mich erschreckt. Sie gab mir wild zu denken, wie die Franzosen sagen. Ohne groß zu überlegen drückte ich leicht gegen die Tür, bis sie gut einen Zoll offenstand, und lauschte.

"Ich versteh's einfach nicht!" sagte die Stimme. "Die Dosis gestern hätte sie erledigen sollen. Uns wird die Zeit verdammt knapp! Hier - nimm das. Ist alles vorbereitet, Etikett und alles. Tausch die Flaschen aus. Ich geh' kein Risiko mehr ein. Eine Dosis schafft das in einer halben Stunde, da wette ich sonstwas drauf."

"Gut," sagte Miss Russell völlig ruhig. "Das ist reines Trinitrin, nicht?"

"Du bist der abgebrühteste Kumpel, der mir je untergekommen ist," sagte die Stimme, in bewunderndem Ton. "Ja, ist reines Trinitrin - wunderbares Zeug. Sieht wie Wasser aus, hat keinen Geschmack, fast geruchslos, und ist so flüchtig, daß die gesamte Ärztekammer es bei einer Obduktion nicht nachweisen könnte. Außerdem hat der Doktor einer Trinitrin-Lösung verschrieben, und du hast das aus der Apotheke besorgt, und wenn's Ärger geben sollte, schieben wir's halt dem Apotheker in die Schuhe, dann ist das sein Problem. Wobei: wie ist der neue Doktor eigentlich?"

"Ach, der ist harmlos," sagte Miss Russell ungerührt.

"Wenn ich mir das so überlege, wars ganz gut, daß ich dafür gesorgt habe, daß der erste Doktor den Kutschenunfall hatte!" fuhr die barsche, finstere Stimme fort. "Man kann nie wissen. Beeil dich, und guck nicht so besorgt. Deine Miene verrät dich. Gib mir 'nen Kuß!"

"Morgen!" sagte Miss Russell.

Ich eilte davon, von Schrecken überwältigt, bog um die nächste Ecke des Flurs, um nicht entdeckt zu werden, und erreichte den zweiten Stock über die Treppe. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, Miss Russell im Aufzug zu begenen.

Mein erster Gedanke war nicht Sorge um Adelaide Spantons Wohlergehen - ich war mir sicher, daß ich den Mord verhindern konnte - sondern tiefe Enttäuschung, daß Miss Russell so eine gewissenlose Verbrecherin war. Ich schwor mir, nie wieder einer Frau zu vertrauen, nur weil sie ein hübsches Gesicht hatte. Sie war mir sympathisch gewesen. Dann dachte ich an den unwahrscheinlichen Zufall, der dazu geführt hatte, daß wegen meiner undeutlichen Aussprache und der Unaufmerksamkeit des Liftboys der Mordplan aufgeflogen war. Und zuletzt, wie gerissen und schlicht der ganze Plan war. Dieser Verbrecher - bei dem es wohl um Samuel Grist handeln dürfte - hatte sich Miss Spantons Pseudo-Angina auf die cleverste Weise zunutze gemacht. Gab's einen besseren Weg, als jemand mit der eigenen Medizin zu vergiften? Wahrscheinlich war der jetzige Anfall bewußt herbeigeführt worden, indem ihr geraten worden war, dem Essen herzhaft zuzusprechen. Junge Frauen, die daran leiden, werden oft von Heißhunger geplagt. Und mir war klar, daß der Verbrecher recht damit hatte, daß das Nitroglyzerin bei einer Obduktion kaum nachzuweisen war - höchstens in der Dosis, wie ich sie verschrieben hatte. Und es stimmte, daß eine unverdünnte Dosis in einer halben Stunde zum Tod führen würde.

Ich riß mich zusammen, und als ich sah, daß Miss Russell die Suite Nr. 63 betrat, folgte ich ihr. Als ich ins Schlafzimmer kam, goß sie gerade die Medizin aus der Flasche in ein Glas; ein Zimmermädchen stand am Fußende des Bettes.

"Ich gebe ihr gerade die zweite Dosis," erklärte mir Miss Russell seelenruhig.

"Unfaßbar!" schoß es mir durch den Kopf; laut sagte ich zu ihr: "Sehr gut!"

Sie maß die Dosis ab, und trat ans Bett, ohne eine Regung zu zeigen. Adelaide Spanton öffenete den Mund.

"Halt!" rief ich. "Wir werden damit noch eine halbe Stunde warten. Bitte geben Sie mir das Glas!" Ich nahm es ihr aus der schlaffgewordenen Hand. "Und ich muß mit Ihnen sprechen, Miss Russell, auf der Stelle!"

Das Zimmermädchen verließ hastig den Raum.

V.

Der alte glatzköpfige Rechtsanwalt hatte sich nach unten in den Rauchsalon des Hotels begeben, und Miss Russell und ich saßen uns allein im Salon der Suite gegenüber. Ich hielt das Glas immer noch in der Hand.

"Und der neue Doktor ist harmlos, nicht wahr?" sagte ich.

"Was meinen Sie damit?" stammelte sie.

"Das wissen Sie ganz genau," gab ich zurück. "Ich kann nur sagen, das es reiner Zufall war, daß ich ihrem abscheulichen Plan auf die Spur gekommen bin - den Plan, den der Verbrecher da oben ausgeheckt hat. Sie brauchten nur die Flaschen auszutauschen, und ihr reines Trinitrin statt meiner verdünnten Lösung zu verabreichen, und in einer halben Stunde wäre Miss Spanton tot.

"Die drei Millionen würden an den Vetter aus Australien gehen, und Sie hätten ohne Zweifel ihren Lohn dafür empfangen - so nette hunderttausend; vielleicht hat er Ihnen ja auch die Ehe versprochen. Und als ich hereinkam, wollten Sie ihr gerade das Gift verabreichen."

"Das stimmt nicht!" rief sie. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und begrub das Gesicht in den Händen. Dann blickte sie wie mit einem sehnsuchtsvollen Ausdruck zur Schlafzimmertür hinüber.

"Für Miss Spanton besteht keine Gefahr," bemerkte ich spöttisch. "Ihr wird es morgen ausgezeichnet gehen. Ach, Sie wollten sie also gar nicht vergiften?"

"Doktor, ich bitte Sie, mir gut zuzuhören," sagte sie nach einer Weile. "Mir ist klar, daß das hier sehr verdächtig aussehen muß. Trotzdem glaube ich, daß ich Sie davon überzeugen kann, daß Ihr Verdacht gegen mich unberechtigt ist."

Ich mußte lachen. Aber im Stillen regte sich in mir eine gewisse Bewunderung für ihre Dreistheit.

"Ohne Zweifel!" bemerkte ich sarkastisch.

"Der Mann oben im siebten Stock ist Samuel Grist, von dem jeder glaubt, daß er sich in Australien aufhält. Vor vier Monaten habe ich, die einzige Vertraute von Adelaide Spanton, entdeckt, daß er ihren Tod plant. Ich war über die Perfidie, die er an den Tag legte, entsetzt. Ich hatte nichts in der Hand, was ich der Polizei vorlegen konnte, und ich befürchtete das Schlimmste. Ihm war jedes Mittel recht - jedes. Ich war mir sicher, daß er uns folgen würde, wenn wir im Ausland Zuflucht suchen würden. Ich hatte eine düstere Vorahnung, daß er mit seinen Plänen Erfolg haben würde, und es ließ mir keinen Moment Ruhe. Dann kam mir eine Idee - nämlich ihm vorzutäuschen, daß ich auf seiner Seite war. Und mir wurde klar, daß das der sicherste Weg, der einzige Weg war, um seine Pläne zu vereiteln. Ich nahm Kontakt mit ihm auf, und er schluckte den Köder. Ich führte alles aus, das er mir auftrug - außer den Mord. Wir wohnen hier in diesem Hotel auf seine Anordnung. Um sicherzugehen, daß meiner Adelaide nichts zustößt, habe ich kihm sogar vorgelogen, daß ich ihn heiraten werde!"

"Sie erwarten doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen das glaube," sagte ich brüsk.

"Hätte ich denn den Rechtanwalt hergebeten, wenn ich ernsthaft vorgehabt hätte - wenn ich wirklich..."

Sie schluchzte auf, und begann wieder die Kontrolle über sich.

"Ich weiß nicht," sagte ich, "aber mir scheint, daß ein Verstand, der einen Mord planen kann, der in Gegenwart eines Arztes stattfindet, auch die Anwesenheit eines Rechtsanwalts in seinem Plan berücksichtigt hat."

"Mr. Grist hat keine Ahnung, daß der Rechtsanwalt hier ist. Es glaubt, daß Mr. Dancer mein Onkel ist, und daß er meine Pläne unterstützt..." Sie hielt inne, augenscheinlich überwältigt.

"Aber sicher doch!" rief ich, uund fügte hinzu: "Und Sie wollten natürlich nicht das Gift verabreichen! Ich nehme an, Sie wollten im letzten Moment das Glas wegziehen?"

"Es ist kein Gift."

"Kein Gift?"

"Nein. Ich habe die Flaschen nicht vertauscht. Ich habe nur so getan."

"Hier scheint allerlei Verstellung und Vortäuschung im Spiel zu sein," stellte ich fest. "Nebenbei: darf ich fragen, warum Sie meiner Patientin das verabreichen wollten, egal ob es Gift war oder nicht? Ich kann mich nicht erinnern, eine zweite Dosis angeordnet zu haben."

"Aus dem gleichen Grund, aus dem ich die Flaschen nicht vertauscht habe. Wegen des Zimmermädchens, das eben im Schlafzimmer war."

"Was hat das Zimmermädchen damit zu tun?"

"Weil ich heute morgen entdeckt habe, daß Grist sie bezahlt. Deswegen war ich heute abend auch so um Adelaide besorgt. Jetzt hat sie Grist bestimmt schon erzählt, was hier vorgefallen ist, und ... und - Doktor, Sie müssen mir helfen, wenn etwas passieren sollte. Sie glauben mir doch, oder?"

"Es tut mir leid, Madam," antwortete ich, "aber zurzeit glaube ich Ihnen kein einziges Wort. Aber immerhin gibt es eine einfache Methode, um zu sehen, ob Sie die Wahrheit sagen. Sie sagen, Sie hätten die Flaschen nicht vertauscht. Wenn das stimmt, dann ist das hier die Flüssigkeit, die ich verschrieben habe, und somit harmlos. Tun Sie mir den Gefallen, und trinken Sie."

Ich reichte ihr das Glas.

Sie nahm es.

"Idiot!" sagte ich zu mir, als sie es in der Hand hielt. "Sie wird es fallen lassen, und dann ist das wichtigste Beweisstück verloren."

Aber sie ließ es nicht fallen. Sie trank es in einem Zug aus, blickte mich an und flüsterte: "Glauben Sie mir jetzt?"

"Ja," sagte ich. Und ich glaubte ihr wirklich.

In diesem Augenblick wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, und sie stürzte zu Boden. "Was habe ich da getrunken?" stöhnte sie. Das Glas zersprang nicht und rollte über den Boloden.

Miss Russell hatte eine unverdünnte Dosis Trinitrin getrunken. Ich erkannte die Symptome auf den ersten Blick. Ich läutete um Hilfe. Ich ließ eine Magenpumpe bringen. Ich ließ Eis holen, und schickte nach Mutterkorn und Atropin. Ich verabreichte ihr sechs Dosen Injectio Ergotini hypodermica. Ich fürchtete, daß ich sie nicht würde retten können, aber ich schaffte es, nach der vierten Injektion. Ich erspare euch die Details. Jedenfalls überlebte sie.

"Sie haben also doch die Flaschen vertauscht?" fragte ich, sobald sie in einem Zustand war, in dem sie mich wieder verstehen konnte.

"Ich schwöre Ihnen, daß ich das nicht wollte," flüsterte sie. "Ich muß sie in meiner Aufregung verwechselt habe. Sie haben Adelaide das Leben gerettet."

"Auf jeden Fall habe ich Ihres gerettet," sagte ich.

"Aber Sie glauben mir trotzdem?"

"Ja," sagte ich, und seltsamerweise tat ich das sogar. Ich war überzeugt, daß sie die Flaschen nicht mit Absicht vertauscht hatte. Und das glaube ich bis heute.

"Hören Sie!" flüsterte sie. Draußen konnte man Big Ben zwölf schlagen hören.

"Mitternacht," sagte ich.

Sie ergriff hastig meine Hand. "Bitte schauen Sie nach, ob meine Adelaide noch lebt," wisperte sie fast hysterisch.

Ich öffnete die Tür zwischen den beiden Zimmern und betrat das Schlafzimmer.

"Miss Spanton schläft tief und fest," sagte ich ihr, als ich zurückkam.

"Gottseidank!" flüsterte Miss Russell. Und in diesem Moment kam Mr. Dancer mit seiner Glatze in die Suite, ohne jede Ahnung, was während seines Aufenthalts unten im Rauchsalon hier vorgefallen war.

Als ich gegen ein Uhr das Babylon verließ, war der Ball im Goldsaal gerade zu Ende, und der große Vorplatz wogte von blitzenden Kutschlaternen, schnaubenden Pferden und dem hellen Gelächter schöner Frauen.

"So ein Hotel ist schon ein merkwürdiger Ort," dachte ich bei mir.

Weder Mr. Grist noch das Zimmermädchen wurden je wieder in London gesichtet; vielleicht trösteten sie sich gegenseitig über ihren Verlust. Die wunderschöne Adelaide Stanton erfreut sich - dank meiner Pflege, darf ich hinzufügen! - wieder bester Gesundheit.

Ja, ich werde sie heiraten. Nein, nicht die schöne Adelaide, ihr Dussel - außerdem ist sie ein klein wenig zu jung für mich - sondern Miss Russell. Ihr Vorname lautet übrigens Ethel. Schöner Name, nicht? Was die schöne Adelaide angeht, so ist sie jetzt mit einem Viscount verbandelt.

* * *

"Midnight at the Grand Babylon Hotel" erschien zuerst 1905 in Bennetts erster Kurzgeschichtensammlung, The Loot of Cities. Der Schauplatz ist der gleiche wie in seinem dritten Roman, The Grand Babylon Hotel aus dem Jahr 1902.

Als ironische Fußnote ist zu vermerken, daß August Nobel in den letzten Monaten vor seinem Tod dieses fragliche Mittel gegen seine Herzinsuffizienz verschrieben bekam. In einem der letzten Briefe, die er vom Krankenbett aus diktiert hat, schreibt er, "es ist ironisch, daß ich Nitroglyzerin erhalte. Die Ärzte nennen es nur anders, um ihre Patienten zu beruhigen." Nobel hatte das Dynamit - Kieselgur und Nitroglyzerin gemischt im Verhältnis 3:1 in Stangenform, um das darin aufgesaugte Nitroglyzerin nicht mehr durch versehentliche Erschütterung explodieren zu lassen - bekanntlich erfunden, nachdem 1864 sein Bruder bei einer solchen Explosion im Werk der Familie ums Leben gekommen war.



U.E.

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