7. August 2020

Lord Dunsany, "Der Südwind" (1906)

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Einst setzten sich zwei Spieler zu einem Spiel zusammen, um sich die Ewigkeit zu vertreiben, und sie wählten die Götter als Spielfiguren für ihr Spiel, und zum ihrem Spielfeld erkoren sie sich den weiten Himmel, von einem Ende zum anderen, auf dem ein wenig Staub verteilt lag, und jedes Staubkörnchen davon war eine Welt, die auf ihrem Spielbrett kreiste. Und die Spieler waren in Roben gewandet, und ihre Gesichter verhüllt, und die Roben und die Schleier glichen sich, und ihre Namen lauteten Schicksal und Zufall. Und als sie ihre Züge machten und die Götter auf dem Spielfeld verschoben, wirbelte der Staub auf und erglänzte im Licht, das aus den Augen der Spieler hinter den Schleiern flammte. Und die Götter sprachen: "Seht, wie wir den Staub bewegen!"

Es ergab sich - oder war es vorherbestimmt? Wer will dies entscheiden? - daß ein Prophet mit Namen Ord eines Nachts die Götter erblickte, wie sie bis zu den Knie versunken über die Sternenfelder wateten. Und als er sich vor ihnen verneigte und ihnen Ehre erwies, sah er die Hand eines der Spieler, die gewaltig über ihren Häuptern schwebte und zu einem Zug ansetzte. Und Ord, der Prophet, erkannte die Wahrheit. Und dennoch wäre es Ord deshalb nicht übel ergangen, aber er begab sich unter die Menschen, und ließ sie wissen: "Es gibt eine Macht, die über den Göttern steht."

Dies vernahmen die Götter. Und so sprachen sie: "Ord hat es erkannt."


Furchtbar ist die Rache der Götter, und zornig flammten ihre Augen, als sie sie auf das Haupt Ords richteten und seinem Geist alles Wissen über sie, die Götter, raubten. Und seine Seele irrte über die Welt auf der Suche nach den Göttern, und fand sie nicht. Dann löschten sie aus seinem Lebenstraum den Mond und Sterne, und er sah des Nachts über sich nur einen leeren Himmel ohne ein einziges Licht. Und danach  - denn die Rache der Götter kennt kein Maß und kein Ende - nahmen sie ihm die Vögel und die Schmetterlinge, die Blumen und Blätter und die Insekten und alle kleinen Wesen, und der Prophet erblickte eine Welt, die sich furchtbar gewandelt hatte, aber er wußte nicht, daß er dies dem Zorn der Götter verdankte. Und die Götter nahmen ihm die Hügel, die er von klein auf gekannt hatte und die seine Augen jetzt nie mehr erblickten, und die lichten Wälder auf ihren Kämmen und die Felder dahinter, und Ord wanderte im Kreis in einer engen und kleingewordenen Welt und seine Seele suchte noch nach Göttern und fand sie nie.

Zuletzt nahmen ihm die Götter noch die Wiesen und den Bach und ließen dem Propheten nur sein Häuschen und die größeren Gegenstände darin. Tag und Nacht umschlichen sie ihn und woben dichte Nebel zwischen ihm und den Dingen, die er kannte, bis er nichts mehr wahrnahm und völlig blind geworden war und nichts von Zorn der Götter wußte. Und Ords Welt bestand nur noch aus Klängen und Lauten, und nur seine Ohren gaben ihm noch Kunde von der Welt. Und seine einzige Freude waren ferne Lieder, die aus den Hügeln erschallten oder der Gesang der Vögel, oder das Rauschen des Baches, oder das Tropfen des fallenden Regens. Aber der Zorn der Götter versiegt nicht, wenn sie die Blüten schließen, der Schnee eines ganzen Winters kühlt ihn nicht ab und die Glut des Sommers läßt ihn nicht ermatten, und sie nahmen Ord noch die Welt der Klänge und er erwachte eines Morgens als Tauber. Aber so, wie ein schlechter Imker einen Bienenstock zerstören kann und das Bienenvolk sich einen neuen Stock baut, ohne zu wissen, was ihren alten Stock vernichtet hat und ohne Bedenken um neue Vernichtung, so errichtete sich Ord eine Welt aus seinen Erinnerungen und der Vergangenheit. Dort baute er sich Städte aus vergangenen Freuden, und Paläste aus dem, was er vollbracht hatte, und mit seiner Erinnerung als Schlüssel sperrte er die goldenen Schlösser ihrer Türen auf und besaß immer noch eine Welt, in der er leben konnte, obschon ihm die Götter die Welt der Klangs und die sichtbare Welt genommen hatten. Aber die Heimsuchung durch die Götter kennt kein Ende, und sie nahmen ihm die Welt, die er aus seiner Vergangenheit errichtet hatte und raubten ihm das Gedächtnis und vernichteten alle Wege, die zu seinen früheren Tagen geführt hatten, und ließen ihn blind und taub und ohne Gedächtnis unter den Menschen zurück, und lehrten die Menschen, was denen wiederfährt, die behaupten, daß die Götter schwach und machtlos sind.

Und ganz am Ende nahmen die Götter seine Seele und formten aus ihr den Südwind, der ewig über das Meer bläst und niemals Ruhe kennt, und der Südwind weiß es wohl, daß er einst, vor langer Zeit, an einem vergessenen Ort, eine große Wahrheit erkannt hat, und so klagt er den Inseln und heult an den Küsten im Süden "ich habe es erkannt" und "ich habe es gewußt".

Aber alles schläft tief, wenn der Südwind zu ihnen spricht und niemand achtet seinen Ruf, daß er es erkannt habe, sondern schläft tief und ruhig weiter. Und doch fährt der Südwind, der weiß, daß es eine Wahrheit gibt, die er vergessen hat, fort mit seinem Ruf "Ich habe es gewußt!", damit sie sich aufmachen und sie erneut entdecken. Aber niemand achtet auf die Klage des Südwinds, nicht einmal, wenn seine Tränen wie Gischt aus dem Süden sprühen. Und wenn der Südwind auch klagt und niemals zur Ruhe kommt, ahnen die Menschen nichts von diesem Wissen, und das Geheimnis der Götter ist sicher. Aber der Feind des Südwinds ist der Norden, und es heißt, daß einst der Tag kommen wird, an dem er die Eisberge überwältigt und die Eisfelder versenken und dahin gelangen wird, wo das Geheimnis der Götter auf dem Pol gemeißelt zu lesen steht. Und das Spiel, bei dem sich das Schicksal und der Zufall gegenübersitzen, wird sein jähes Ende finden, und der Verlierer wird nicht mehr sein und wird niemals gewesen sein, und das Schicksal oder der Zufall (denn wer kann sagen, wer dieses Spiel gewinnen wird?) wird die Götter vom Spielfeld hinwegfegen.

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"The South.Wind" erschien zum ersten Mal in der zweiten Sammlung von Dunsanys Kurztexten, Time and the Gods, die im September 1906 im Londoner Verlag William Heinemann erschien. Wie in der ein Jahr zuvor publizierten ersten Sammlung The Gods of Pegana überwiegen hier noch die kurzen, wie Prosagedichte gehaltenen Abrisse einer frei geschaffenen Mythologie. Von den zehn Illustrationen, die Sidney H. Sime zu den 20 kurzen Texten beigesteuert hat; ist keiner dieser speziellen Legende gewidmet.

Das Motif des "kosmischen Schachspiels", von dessen Ausgang das Schicksal von Welten oder des gesamten Universums abhängt, taucht angelegentlich im Genre des Phantastischen auf, etwa in Fritz Leibers Erzählung "The Dreams of Albert Moreland" von 1945, wo die nächtlich wiederkehrenden Traumvisionen des Erzählers von einem solchen Spiel ins "Reale" umschlagen, als er eine im Traum geschlagene Figur morgens nach dem Erwachen auf dem Nachttisch vorfindet. Leiber greift hier eine Volte aus Lovecrafts "The Dreams in the Witch House" von 1932 auf, dessen hilfloser Held in traumgelähmten nächtlichen Fiebervisionen sich auf albtraumhaften fernen Planeten wiederfindet und ein Stück einer Balustrade abbricht, um sich der Monstren wehren zu können, die sich ihm nähern. Der Apport aus der Traumwelt trägt nicht dazu bei, sein lädiertes Nervenkostum zu beruhigen. Aber das Motiv ist älter. Borges hat ihn seinen kleinen Essay "Die Blume Coleridges/La flor de Coleridge" gewidmet, im Gedenken an Samuel Taylor Coleridges Überlegung, der zwischen 1814 und 1818 in seinem Notizbuch diesen Einfall festhielt:

If a man could pass through Paradise in a dream, and have a flower presented to him as a pledge that his soul had really been there, and if he found that flower in his hand when he awoke — Ay! and what then?

Coleridge hat die Quelle seines Einfalls nicht angegeben, und Borges hat sie, verständlicherweise, so wie sein Enkel Ernst Hartley Coleridge, der 1895 die Passage zuerst veröffentlicht hat, ihn selbst zugeschrieben. Sie findet sich allerdings schon, fast deckungsgleich, in Jean Pauls Titan von 1800.

Da der Übersetzer, wie man sieht, ein Nachschmecker solcher "Wandermotive" durch die Reihungen der Texte ist - auch wenn hier mitunter eher Parallelerfindungen als tatsächliche Übernahmen vorliegen dürften - sei hier die Vermutung geäußert, daß es sich bei "Pol, auf dem das Geheimnis der Götter eingemeißelt steht", um ein solches handeln könnte. In M. P. Shiels apokalyptischem Roman The Purple Cloud von 1901 erreicht der Erzähler zu Beginn als erster den Nordpol: eine freie Wasserfläche, in deren Zentrum sich ein hoher Obelisk wie aus schwarzem Basalt erhebt und durch die (vulkanische?) immense Hitze, die er ausstrahlt, das Eis um sich geschmolzen hat und auf dem eine unentzifferbare Inschrift in unbekannten Lettern eingemeißelt ist. Genau diese Hitze verhindert die Erreichung dieses "wahren" Nordpols; und als der Protagonist zu seinem Schiff zurückkehrt, muß er feststellen, daß eine vulkanische Giftwolke in der Zeit seiner Exkursion nicht nur seine Schiffsbesatzung, sondern auch den gesamten Rest der Erdbevölkerung ausgelöscht hat. Das Spiel namens "Menschheit" hat sein jähes Ende gefunden. Shiel hat den Obelisken am Pol übrigens seinerseits vom Kollegen Edgar Allen Poe ausgeliehen, dessen Ballonfahrer nach dem Monde Hans Pfahll ihn zwei Generationen vorher bei seinem Aufstieg ausgemacht hatte.  Und Kollege Poe wiederum hat ihn von Georg Mercator, dessen Karte der nördlichen Länder, Septentrionalium Terrarum descriptio, 1623 gedruckt, an dieser Achse des Erdballs einen "sehr hohen schwarzen Felsen" zeigt: "Rupes nigra et altissima".


Mercator beschreibt seine Quellen in einem Brief an John Dee (ja, DER John Dee) aus dem Jahr 1577: es handelt sich um die Inventio Fortunata, die angeblich die Nordreisen eines englischen Franziskanermönchs in den 1390er Jahren beschreibt. Die einzige Wiedergabe dieses (womöglich apokryphen) Textes findet sich in dem um 1490 entstandenen Iterinarium von Jacobus Cnoyen aus Brabant; danach findet sich keine Spur der Inventio mehr; auch Cnoyens Aufzeichnungen sind nicht erhalten; so das als Hauptquelle Mercartors Brief und die Legenden seiner Karte zur Verfügung stehen. Mercartor gibt den Umfang des Magnetberges (denn darum handelt es sich) mit 33 "französischen Meilen" an, den Durchmesser der eisfreien Fläche mit insgesamt acht Breitengraden, also auf 86° nördlicher Breite beginnend; die vier Hauptflüsse, die die Regionen um den Nordpol durchschneiden, ergießen dort ihre Wasser ins Erdinnere.

Die Volte, daß man dem Spielende ein "Phasenübergang" stattfindet, und nach der Eliminierung eines der Wirkprinzipien das verbleibende  - der strenge Determinismis aus den vorangegangenen Zuständen (man könnte es das "Laplace'sche Universum" nennen) oder der absolute Zufall (ein "Lukrezischer Kosmos") - schon immer vorgeherrscht haben wird, findet ein spätes Echo in der kleinen Miszelle, die Arthur C. Clarke 1984 veröffentlicht hat.

"siseneG"

Und Gott sprach: "Zeilen Aleph Null bis Aleph Eins: Löschen."
Und das Universum hörte auf, zu existieren.
Sie dachte einige Äonen nach und seufzte.
"Entferne Programm GENESIS," befahl sie.
Es hatte nie existiert.

(Das kleine Büchlein, in dem Allen Keith Daniels die Briefe, die Dunsany und Arthur C. Clarke zwischen 1944 und Dunsanys Tod 1956 gesammelt hat - Lord Dunsany & Arthur C. Clarke: A Correspondence, Anamnesis Press, 1998, 83 S. - dürfte übrigens zu den rarsten Titel in beider Autoren Oeuvre zählen.)



U.E.

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