26. Mai 2020

Shelter in place: Lawrence Wright, "The End of October" (Mai 2020). Ein Roman zur Pandemie

Als vor gut zwölf Wochen an dieser Stelle (mittlerweile scheint es eine Ewigkeit her zu sein), im zweiten Beitrag, der sich dem "neuartigen Coronavirus" widmete, ein Blick auf Dean R. Koontz' Thriller "The Eyes of Darkness" aus dem Jahr 1981 geworfen und die Frage gestellt wurde, ob es sich dabei um eine Vorschau auf das Geschehen handelt, das seit Monaten alles andere im Weltlauf überschattet, war der Bescheid abschlägig. Nein: bei dem im Roman im Zentrum stehenden "Supervirus" aus einem Biowaffenlabor im chinesischen Wuhan handelte es sich um einen reinen Zufall (der auch der in der Zweitausgabe des Buches sieben Jahre nach seinem ersten Erscheinen umgeändert wurde, um den veränderten politischen Verhältnissen im Zeichen der Glasnost'-Ära thrillertechnisch Rechnung zu tragen.) Über diesen Ortsnamen hinaus gibt es zwischen dem Geschehen im Roman und dem Killervirus keine Ähnlichkeit mit unserer Gegenwart. (Der Ullstein-Verlag hat Koontz' Buch am 15. Mai unter dem Titel "Die Augen der Finsternis" neu aufgelegt; die deutsche Erstübersetzung, die die "Dunkelheit" im Titel trug, erlebte von 1988 bis 1995 im Münchner Heyne-Verlag insgesamt 15 Auflagen; danach gab es 2004 einen Nachdruck bei Pavillon.) Und dennoch...

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Drei "kulturelle Artefakte" - ein Film und zwei Romane - können zumindest mit einigem Recht für sich beanspruchen, als luzide Vorwegnahme, als prophetischer - oder: scheinbar prophetischer - Vorschein eine Vorahnung der Seuche geliefert zu haben. Natürlich ist die Schilderung einer solchen Epidemie für die Literatur keine Neuigkeit; sei es als kritische Bedrohung der gesamten Menschheit, die noch abgewendet werden kann, sei es als explizit geschilderte "Beendigung des Experiments Menschheit" (das vielleicht nur noch ein paar Überlebende überstehen, die sich auf eine prähistorische Subsistenz zurückgeworfen sehen): vom Mary Shelleys "The Last Man" aus dem Jahr 1827 als erstem Beispiel bis zu Cormac McCarthys "The Road" von 2006 lassen sich mit den entsprechenden Titeln zahlreiche Regalmeter füllen. (Um nur, ganz wahllos, ein paar Titel aus dieser endlosen Reihe zu nennen: Richard Jefferies' After London von 1880; Jack Londons The Scarlet Plague von 1912, George R. Stewarts Earth Abides aus dem Jahr 1949, Edgar Pangborns Davy von 1964, Stephen Kings The Stand von 1982, Frank Herberts The White Plague von 1982 und Carl Amerys letzter Roman Das Geheimnis der Krypta von 1990 - in den beiden letzten Romanen wird das Virus bewußt als biologische Waffe erschaffen und eingesetzt, um die Menschheit auf einen - nach ökototalitären Vorstellungen - "erträglichen Stand" zu dezimieren.) Doch bei drei dieser Geschichten haben die Umstände, die mit diesen Texten selbst wenig zu schaffen haben, dafür gesorgt, daß sie, hier und jetzt zur Kenntnis genommen, wie ein luzider, böser Blick in eine Kristallkugel wirken.
Es handelt sich um:


1. Hamutal Shabtai, "2020" (1997)
Shabtais Roman, vor 23 Jahren im Jerusalemer Verlag Keter erschienen (und, soweit ersichtlich, bislang noch in keine andere Sprache übersetzt worden), war im Lauf von gut zehn Jahren zunächst als "ein Drehbuch für Hollywood" konzipiert worden (auf diese kleine Volte ist im Zusammenhang mit unserem Beweisstück 3 noch zurückzukommen). Shabtai, älteste Tochter des Dichters und Theaterautors Yaakov Shabtai (1934-1981), dessen Roman   זכרון דברים‎  / Zikhron Devarim (auf deutsch unter dem Titel "Erinnerungen an Goldmann" erschienen) aus dem Jahr 1977 so etwas wie ein formales Pendant zum Joyceschen Ulysses oder zu Garcia Marquez' Der Herbst des Patriarchen darstellt und ein Klassiker der modernen hebräischen Literatur darstellt, entwarf ihre düstere Zukunftsvision ab 1987 während ihres Studiums der Medizin in Psychologie in Harvard unter dem Eindruck der grassierenden AIDS-Epidemie, die sich, nach der Vorgabe des Erzähltextes, durch nichts einhegbar, durch die gesamte Welt ausbreitet und die Gesellschaft nicht nur unmittelbar, sondern auch in ihren Konsequenzen verheert. Das titelgebende Jahr des Buches ist das Jahr, in dem der Erreger mutiert. Durch die Luft - und nicht mehr nur durch Blutkonserven, Geschlechtsverkehr und Drogennadeln übertragen - gibt es keine Rettung mehr vor der Seuche. Auch die rigide puritanische Gesellschaft, in der die Bewohner der "gesunden Zonen" jeden Tag auf den Erreger getestet werden, in der Alkohol, Rauchen, Restaurants und außerehelichen Beziehungen nur im illegalen Untergrund stattfinden; in der die täglichen Nachrichten nur noch vom Statusbericht der Gesundheitsbehörde beherrscht werden; in der positiv Getestete in "Heilzentren" deportiert werden, aus denen niemand zurückkehrt und von denen niemand weiß, was in ihnen vorgeht, in denen jeder Telefonanruf und jede Computerdatei im Staat überwacht wird, ist dem Untergang geweiht - falls nicht doch noch, wieder alle Hoffnung ein Impfstoff gefunden werden sollte. Der Nachweis von Antikörpern im Blut ist ein gesellschaftliches Todesurteil.  Die gut 640 Seiten der Handlung befassen sich mit den Forschungen eines jungen New Yorker Arztes, Andy Roberts, der feststellen muß, daß seine Tierversuchsreihen, bei denen sich gute Ansätze für eine wirksame Vakzine zeigen, systematisch sabotiert und die Resultate unterdrückt werden. Offenkundig sind mächtige politische Interessen am Werk, die einen Sieg über die Pandemie mit allen Mitteln verhindern wollen. Das Hauptaugenmerk des Buches liegt aber auf der psychischen kollektiven Deformation, die eine Gesellschaft durch eine solche, über Jahrzehnte dauernde unmittelbare Bedrohung erfährt: die allgegenwärtige Furcht vor der Krankheit, vor dem Verdammungsurteil durch das blinde Schicksal, die Angst vor allen Mitmenschen.


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2. "Contagion" (2011)
Steven Soderberghs Film war kein großer Erfolg beschert, als er 2011 in die Kinos kam. Trotz guter Kritiken spielte der Film in den USA nur gut etwa das Doppelte seiner Produktionskosten von etwa 60 Millionen Dollar ein - was nach den Kalkulationen der großen Studios als "plus - minus Null" zu werten ist. Im "kulturellen Gedächtnis" verblieb das Drama in jenen Jahren der endlosen Superheldenfilme und der Pixar-Blockbuster nicht. Das Coronavirus dürfte dies grundlegend geändert haben: Söderberghs exemplarische Schilderung einer weltbedrohlichen Pandemie hat sich nicht nur als der bedeutendste Film der letzten 20 Jahre erwiesen, wenn der Maßstab "die Wirklichkeit" und nicht ein irrealer Fantasy-Kosmos ist - sondern sogar diese Wirklichkeit selbst scheint sich eher an diesem Planspiel ausuzurichten, als dies vor neun oder acht Jahren absehbar war. Angesichts des "dokumentarischen", also nicht auf "Hollywood Science" fußenden Anspruchs des Films lauteten damals einige fachliche Einwände gegen das Szenario: es würde mindestens ein halbes Jahr dauern, bis die genetische Sequenz eines solchen Virus entschlüselt sei, nicht eine Woche (die chinesischen Wissenschaftler aus Wuhan haben die erste Genesequenz von Sars-CoV-2 am 7. Januar 2020 veröffentlicht, acht Tage, nachdem China die WHO über das Virus informiert hatte); die Entwicklung eines Impfstoffes würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen, nicht die im Film geschilderten 100 (mittlerweile gibt es erste klinische Erprobungsphasen für die ersten der mittlerweile mehr als 100 in der Entwicklung befindlichen Vakzinen).

Das Drehbuch, das Scott Z. Burns zusammen mit Lawrence Brilliant verfaßte, der als Epidemiologe Mitte der 1970er Jahre bei der WHO bei der Kampagne zur endgültigen Ausrottung des Pockenerregers mitgewirkt hat, scheint, aus dem Rückblick, geradezu prophetische Qualitäten zu besitzen. Nur ist dies - wie beim "Beweisstück 3" keine Hexerei, sondern medizinisches und epidemiologisches Fachwissen; nüchterne Extrapolation und Wirklichkeitssinn. Ein Virus ist Mathematik, keine Strafe des Himmels. Der (fiktive) Erreger MEV I besitzt im Film eine Reproduktionszahl R0 von 4; die Letalität liegt zwischen 25 und 30%. Der Film schreitet in kurzen Sequenzen von "Tag 1" bis "Tag 31" fort; der Impfstoff wird an "Tag 135" freigegeben; zu diesem Zeitpunkt sind in den in den USA 2,5 Millionen Menschen Opfer der Seuche geworden; auf der gesamten Welt sind es 26 Millionen. Daß der Film weitgehend auf die für apokalyptische Sujets obligatorischen Szenen des chaotischen Zerfalls der Gesellschaft verzichtet (ganz bleibt es nicht aus, aber die wenigen Inszenierungen von geplünderten Supermärkten und sich entladender Gewalt auf den Straßen erhöhen paradoxerweise die Intensität des Geschehens), verleiht der Unerbittlichkeit des ablaufenden Geschehens, das sich wie ein Flächenbrand durch die Welt frißt, eine besondere Nachhdrücklichkeit. Als Coda blendet der Fokus auf "Tag 1" zurück, auf die Urzündung des Geschehens: eine Fledermaus wird bei Rodungsarbeiten in Südchina aufgescheucht - sie findet Obdach unter den Dackbalken eines Schweinestalls - eine von ihr angebissene Frucht fällt in den Futtertrog eines Schweins - der Koch, der das Schweinefleisch beim Empfang in Macao angebraten hat, versäumt es in der Eile, sich die Hände zu waschen, bevor dem amerikanischen Gast Dr. Beth Emhoff (gespielt von Gwyneth Paltrow) die Hand schüttelt. Und das Unheil nimmt seinen Lauf.


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 3. Lawrence Wright, "The End of October" (2020)
Am frappantesten - und vielleicht bestürzendsten - zeigt sich, was man wohl als "Déjà-vu-Effekt" bezeichnen könnte, freilich in diesem Roman, dem ersten seiner Autors, im Mai 2020 im US-amerikanischen Verlag Random House erschienen. Der Autor Lawrence Wright, 1947 geboren, ist bislang für seine akribisch recherchierten Sachbücher zu brisanten politischen Themen bekannt geworden: für sein Buch The Looming Tower: Al-Qaeda and the Road to 9/11, 2006 bei Knopf erschienen, erhielt er den Pulitzer Prize (die deutsche Übersetzung erschien ein Jahr später unter dem Titel Der Tod wird euch finden: Al-Qaeda und der Weg zum 11. September bei DVA). Daneben hat er auch die Drehbücher für mehrere Politthriller verfaßt, so unter anderem für The Siege unter der Regie von Edward Zwick aus dem Jahr 1998, das sich mit einem verheerenden islamistischen Terroranschlag in New York befaßt und aus dem Rückblick von vielen Kritikern als "prophetische Vorwegnahme von eben Nine-Eleven gewertet worden ist. In mehreren Interviews zum Thema, zuletzt im Vorfeld der Publikation dieses Romans, hat Wright betont, daß es sich nur um nüchterne Extrapolation bekannter Fakten und Trends handelt, nicht um eine Sehergabe. Aus dieser Hollywood-Verbindung ergab sich auch die erste Anregung für The End of October. Ridley Scott fragte ihn nach der Lektüre von Cormac McCarthys The Road (das weiter oben nicht ohne Grund erwähnt wurde), wie ein solcher Untergang der Zivilisation, ein solches "Ende der Menschheit" denn halbwegs wahrscheinlich zustande kommen könnte, worauf Wright für eine neuartige Pandemie optierte, die kein Land der Welt verschont, gegen die es kein Mittel gibt - und für deren katastrophale Folgen ihm die Spanische Grippe diente, die vor hundert Jahren ihre tragische Ernte run um den Globus einbrachte.

The histories of the 1918 pandemic all observed that survivors rarely talked about it afterward. You could almost believe that it hadn't happened, except for the gravestones with similar dates. We lived through it: that was the attitude. It wasn't like the Great Depression of the world wars or terrorist attacks; survivors of those events lived their lives with one eye on the past even as they moved on. They wrote books, they joined societies, they had reunions. They brought their gandchildren to view the battlefields. They got therapy. But survivors of the 1918 flu did their best to purge the episode from their memories -and, therefore, from history. It was the nature of the era. At the beginning of the twentieth century, the epidemics of cholera, diptheria, yellow fever, and typhoid were either still happening or resided in recent memory. Death by disease was so commonplace it was scarcely remarked by history. The 1918 flu killed twice as many people as died in combat during the entire four years of the First World War, and yet the customary horror of another pandemic was overshadowed by the drama of combat.
(The End of October, Kapitel 52: "Now It's Within Us")
Der gebrochene Held des Buches ist Henry Parsons, der für die World Health Organization das Auftreten mehrerer alarmierender Fälle von tödlichen Lungenentzündungen im indonesischen Flüchtlingslager Kongoli untersuchen soll. Die Natur der Krankheit ist zunächst unklar, ebenso die Infektiosität und die Letalität. Dieses epidemiologische "Legwork" schildern die ersten Kapitel. Als Dr. Parsons klar wird, daß die "Kongoli-Grippe", die "Kongoli flu" wesentlich ernster ist als nur "eine schwere Grippe", hat sich sein Fahrer, der sich bei den Krankenvisiten seines Chefs im gedrängt überfüllten Lager infiziert hat, während der dreitägigen Latenzperiode zur Erfüllung seines Lebenstraums aufgemacht: einer der dreißig Millionen PIlger der diesjährigen Hadsch in Mekka zu sein. Parsons gelingt es, die Behörden in Saudi-Arabien davon zu überzeugen, die Hadsch abzubrechen und Mekka und Medina unter rigorose Quarantäne zu stllen, aber nicht, bevor nicht schon ein Großteil der Pilger die Rückreise in die ganze Welt angetreten hat. (Diese Passagen, einschließlich einer dramatischen U-Boot-Rettungsmission im Roten Meer, die an Passagen aus der Jagd nach Roter Oktober erinnern, stellen die thrillerähnlichsten Abschnitte des Buches dar und erinenrn daran, daß der Text ursprünglich - wie "2020" weiter oben - als Drehvorlage für einen Film konzipiert war.)
Bei den folgenden Kapiteln stellt sich beim Leser dann das völlig unwirkliche Gefühl ein, die Wirklichkeit der letzten Monate in einem Buch vorweggenommen zu sehen, das geschrieben wurde, bevor sich der kleinste Schatten davon zeigte. Wright hat mit der Abfassung der Romanfassung im Februar 2017 begonnen; die letzten Fahnenkorrekturen sind im Sommer 2019 an den Verlag gegangen. Die regierungsamtlichen Stellen der USA weigern sich, die Bedrohung ernst zu nehmen, das Natur eines exponentiell eskalierenden Geschehens ist ihnen im Wortsinn unbegreiflich; sie sehen nur die schädlichen Einflüsse eines Sabotierens der Wirtschaft, sie halten nichts, gar nichts von unnötiger Panikmache. Was im Nahen (oder Fernen) Osten passiert, hat mit uns nichts zu tun. Wegen ein paar Dutzend Fällen gibt es keinen Grund, alarmiert zu sein. Und überhaupt sind wir gut vorbereitet.
"How long will it take to develop the vaccine?" Tildy asked.

"With luck on our side, we could have an experimental vaccine for small-scale testing in six months. We have initial sequences already, and we're analyzing the bug to find some new way to attack its defenses, which are  pretty impressive. We have to do some animal testing while we prepare the first lots for human trials. this all takes time, scaling up to millions of doses. But we don't have time."

"What do you mean?" Tildy asked. "How much time do we have?"

"I think till Monday," Bartlett replied.

"What in the world are you talking about?"

Bartlett described the scene in Mecca. The latest reports counted fourteen deaths in Mecca hospitals; this was in the last several hours. "We have no sure way of knowing how many people are infected," she said. "But WHO has been doing a study of the Indonesia outbreak. They calculated the attack rate as about 70 percent. meaning that seven out of ten people exposed in the Kongoli camp contracted the disease. It was an easy test because everybody was exposed. And most of them died. Now, in Mecca, you have a very similar situation on a huge scale. Let's say a thousand people are exposed right now. By the end of the day, each of them is likely to have spread the contagion to two or three people, and then those two or three infect another two or three. You see how quickly it multiplies. And I'm telling you, these are very conservative estimates. So by tommorrow there'll be at least two thousand carriers, and they'll be spreading it, as well. The point of all this is, tomorow night they'll be getting on planes and flying back home. Three million people. I think the figure is that twenty-seven thousand of them are Americans. And while they're on the lane, theyll be infecting new people." She put up a new slide. "I made this up real quick based on Saudi statistics, so who knows. But this will give you an idea of what's going to happen on Monday."

The slide displayed the probable destinations of twenty-seven thousand American Muslims. Nearly every American city was indicated by green dots. Some were densely impacted - New York, Los Angelels, Dearborn, Housrton. "And this is the rest of the world," Bartlett continued, showing another sldie that painted the globe in bright green splotches. "An almost instant global pandemic of the most lethal influenza we've ever seen."

"Jesus fucking Christ," the agency man said.
Natürlich ist das Land nicht vorbereitet. Der Präsident, der die Pandemie nicht ernst nimmt, ernennt seinen unfähigen Vizepräsidenten zum Leiter der Katastrophenmaßnahmen (an dieser Stelle sei die Vermutung gestatte, daß sich hier vielleicht die persönlichen Einstellungen des Autors zeigen). Es fehlt überall an Masken, an Schutzkleidung, an Beatmungsgeräten. Desinfektionsmittel wird zur absoluten Mangelware. Die Wirtschaft kommt zum Stillstand. Indien und China, die mit der Bekämpfung der Seuche auf eigenem Terrotorium überfordert sind, können den amerikanischen Pharmaziemarkt nicht mehr mit den Milliarden von Meikamenten versorgen, auf die das Land auch ohne Pandemie angewiesen ist. Aber der Lockdown zeigt Wirkung: die Zahl der Neuinfektionen geht rapide zurück. Und unter dem Druck der Politik, der Gouverneure der Bundestaaten, der Wirtschaft und der überwiegenden Zahl der Medien wird der Lockdown schnell und vor allem völlig wieder aufgehoben. Das "Social distancing", das der Hauptfaktor bei der Eindämmung war, endet. Und die wahrhaft tödliche zweite Welle nimmt ihren Lauf. Das CDC, das Center for Disease Control and Prevention (daß wir alle mit diesen Kürzeln mittlerweile vertraut sind, ist bezeichnend) sagt den Höhepunkt der neuen Welle für das Ende des Oktobers voraus, das dem Roman den Titel gibt und vor dem die Handlung des Buches endet.

"You're going to scare the crap out of people when the news gets out," the agency man observed.

"And that's a public health problem as well," Bartlett said. "There  will be runs on stores. Pharmaceuticals, groceries, batteries, gas, guns, you name it. Hospitals will be overwhelmed, not just with sick people but with the worried as well. The course of infection varies, but given the speed of its advance in some of those stricken, we expect several deaths en route."

"People dying on airplanes," Commerce said.

"And in airports, train stations, yeah."

"We're talking about a shutdown of the entire transportation system," Commerce said accusingly.

"Exactly," the tone-deaf Barrett said, as if Commerce was proposing a wonderful ideas. "As much as possible, we need to urge people to shelter in place. It would be best to announce it this morning so that preparations can be made - the National Guard called up, police reinforced, borders closed, sports and entertainment facilties shuttered, nonemergency cases discharged from hospitals, schools closed, public meetings postponed, and the government shut down."

Bei dem letzten Satz - "Grenzen schließen, Sportstätten, Kinos, Konzerthallen und Gastronomie zumachen, alle Patienten, bei denen das möglich ist, aus den Klinken entlassen, Schulen schließen, Treffen in der Öffentlichkeit verschieben" - sollte klar werden, was ich mit "Déjà-Vu-Effekt" gemeint habe.

Das Buch ist ein Thriller, und auf seine Weise durchaus ein typischer Vertreter seines Genres. Nur wirken sich hier - und das ist durchaus den besonderen Umständen geschuldet, unter denen man den Roman zurzeit liest - die eklatanten Mängel des Genres positiv aus. Der Text ist mit zahllosen essayistischen Passagen durchschossen, die Grundwissen über Viren, Epidemien, historische Seuchenverläufe, Behandlungsmöglichkeiten, die Entwicklung und Testung von Impfstoffen, die Vorgehensweise von Gesundheitsbehörden referieren; die zumeist gesichtslosen Protagonisten (sie sind nichts als Namedn, die die Handlung vorantreiben oder Vorträge halten) sind jederzeit bereit, ihren weniger informierten Mitstreitern - und eben auch den Lesern - in all diesen Belangen einen Crash-Kurs angedeihen zu lassen. Der Autor hat seine Hausaufgaben gemacht, und er hat zahllose Experten zu Rat gezogen. Das Virus - in diesem Fall eine Mutante des H1N1-Erregers, dre die Spanische Grippe auslöste - ist der Protagonist des Romans.
Ein Caveat: von dieser Stelle an wirkt sich der Experimentalaufbau des Buchs als Politthriller zum Nachteil des Buches aus. Die politischen Machinationen im Windschatten der Katastrophe übernehmen. Rußland und die USA beschuldigen sich gegenseitig, das Virus als biologische Waffe entwickelt und zum Einsatz gebracht zu haben, am Ende des Buches ist unklar, ob es zwischen beiden Staaten zu einem nuklearen Schlagabtausch kommen wird. Iran und Saudi-Arabien (Iran nimmt die Kasernierung seiner Pilger an den heiligen Stätten des Islams als casus belli) enden in einem heißen Krieg. Rußland nutzt die Chance, um durch Hackerangriffe die Stromversorgung der gesamten amerikanischen Ostküste lahmzulegen. Einer der führenden Biologen, die die amerikanische Regierung beim Kampf gegen den Erreger unterstützen, ein Deutscher mit Namen Jürgen und langem, platinblonden Haar, der an nichts so sehr erinnert wie an den blonden Widerspieler von 007 ("My name is Bond, James Bond. I am English") in A View to a Kill von 1985, entpuppt sich als Ökoterrorist und Guru einer fundamentalistischen Gruppierung namens Earth's Guardians, die das Virus als Mittel begrüßt, um die Erde vom "Virus" namens Homo sapiens zu befreien (die Andeutung, das Virus könnte tatsächlich von dieser Gruppe erzeugt und freigesetzt worden sein, läßt das Buch in der Schwebe). All das tut, gelinde gesagt, dem Buch nicht gut. Diese Dimension der grellen Kolportage wirkt nicht verstörend (das auch); sie erzeugt Mißmut, weil sie das Spannungsverhältnis, das sich aus dem bösen Zufall, im Lauf einer weltweiten Pandemie von einer weltweiten Pandemie zu lesen, ins Groteske verzerrt. 

Es fragt sich natürlich, in welcher Form überhaupt zu diesem Zeitpunkt von dem, was um uns herum geschieht, erzählt werden kann (immer eingedenkt der Tatsache, daß es ja nicht tatsächlich um "diese" Pandemie geht) - ob als existentialistische Parabel wie in Camus' La Peste, als Brennglas für die Erosion des "sozialen Kapitals", des elementaren Vertrauens bei Shabtai. Oder ob ein essayistischer Thriller, der mehr mit Lee Child oder Michael Crichton gemein hat, womöglich die angemessenste Form ist, um den unablässigen Nachrichten, diei auf uns einprasseln, die Form der Erzählung, der Geschichte aufzuprägen, die dem menschlichen Geist angemessen ist. Den darin irren sich alle "Vergangenheitsbewältiger": die Geschichte kann nicht bewältigt werden. Man kann nur von ihr erzählen. Und das schwierigste sind "Erinnerungen an die Zukunft", wenn diese Zukunft vor unseren Augen zur Gegenwart wird.

- Lawrence Wright, The End of October, Mai 2020, Alfred A. Knopf
(ISBN 978-0-525-65865-8, geb., 400 S. $ 27.95)





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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.