31. Mai 2020

Lord Dunsany, "Der Schatz der Gibbelinen" (1911)

(Ill. Sidney H. Sime. "There the gibbelins lived and discreditably fed."


Es ist allgemein bekannt, daß sich die Gibbelinen von keiner weniger edlen Speise ernähren als von Menschenfleisch. Zu ihrem finsteren Turm gelangt man aus der Terra Cognita, den Ländern, die wir kennen, über eine Brücke. Ihre Schätze übersteigen jedes Vorstellungsvermögen;  ihr Reichtum läßt alle Habgier erblassen; sie haben einen eigenen Keller für Smaragde und einen Keller für Rubine, sie haben tiefe Kavernen mit Gold gefüllt und graben es bei Bedarf aus. Und ihr ganzer ungeheuerlicher Reichtum dient ihnen nur zu einem einzigen Zweck: Narren in ihre Speisekammern zu locken. Wenn Not herrscht, streuen sie Rubine in aller Welt aus und legen damit Spuren in den Städten der Menschen, und siehe da: alsbald sind ihre Vorratskammern wieder prall gefüllt.

Ihr Turm erhebt sich auf der anderen Seite jenes Flusses, der schon Homer bekannt war - er nannte ihn ho rhoos okeanoio - der die Welt umfließt. Und dort, wo der Fluß seicht ist und man hindurchwaten kann, haben ihre hungrigen Ahnen ihren Turm errichtet, denn es gefiel ihnen wohl, wenn Bettler ohne viel Mühe zum Eingang rudern konnten. Die gewaltigen Bäume, die am Ufer aufragen, verdanken ihre Größe keinem gewöhnlichen Dünger.

Dort also hausten die Gibellinen und nährten sich auf ihre schändliche Weise. Alderic, Ritter der Stadtwache und der Angriffstruppen und mit dem Erbamt des Wächters über den Geistesfrieden des Königs betraut, hatte so lange über die Schätze der Gibbelinen nachgesonnen, daß es ihm schien, es seien sie schon die seinen. Leider gebietet mir die Ehrlichkeit, hinzuzusetzen, daß es die schiere Habsucht war, die ihn zu einem solchen Unterfangen in finsterster Nacht anstachelte. Aber es war jene Habsucht, die den Gibbelinen die Speisekammern füllte, und alle hundert Jahre sandten sie ihre Kundschafter in die Städte der Menschen aus, um zu sehen, wie es um die Gier der Menschen bestellt sei, und ihre Spione kehrten stets mit den besten Nachrichten zum Turm zurück.

Man könnte vermuten, daß, während die Jahre vergingen und die Menschen ihr grausiges Ende an der Wand des Turms fanden, die Gibbelinen weniger und weniger Tischgäste zum Mahl laden konnten; allein, dem war nie so.

Alderic brach nicht als junger, unbedachter Heißsporn zum Turm auf, sondern er beobachtete über viele Jahre hinweg, wie die Diebe ihr Schicksal ereilte, wenn sie sich auf die Suche nach den Schätzen aufmachten, die er als sein Eigen ansah. Alle hatten sie den Turm durch die Tür betreten.

Er befragte diejenigen, welche Rat bei diesem Unterfangen anboten, merkte sich jede Einzelheit genau und zahlte die Preise, die sie dafür verlangten. Und er entschloß sich, nichts von dem zu tun, was sie anrieten - denn was war aus ihren Kunden geworden? Nichts war von ihnen geblieben als Beispiele für die Kochkunst, und die verbleichende Erinnerung an ein köstliches Mahl, und mitunter nicht einmal das.

Die Berater empfahlen dies für die Queste: ein Pferd, ein Boot, eine Rüstung, und mindestens drei bewaffnete Helfer.  Manche sagten: "Stoß ins Horn, wenn du die Tür erreichst," andere rieten: "Faß das Horn auf keinen Fall an!"

Und so entschloß sich Alderic zu Folgendem: daß er nicht auf einem Pferd zum Flußufer reiten würde, daß er nicht mit einem Boot übersetzen würde, und daß er sich ganz allein auf den Weg durch den Undurchquerbaren Wald machen würde.

Und wie, fragt ihr jetzt, schickt man sich an, das Undurchquerbare zu durchqueren? Sein Plan war folgender: er wußte von einem Drachen, der den Tod redlich verdient hatte (wenn man etwas auf die Stoßgebete der Bauern geben wollte) - nicht nur wegen der großen Zahl von Jungfrauen, die er nach Art von Drachen verspeiste, sondern weil er auch die Ernten verwüstete und überhaupt eine Plage für das gesamte Fürstentum darstellte.

Und so beschloß Alderic, gegen den Drachen ins Feld zu ziehen. Es zäumte sein Pferd und nahm einen Speer, und gab die Sporen, bis er den Drachen traf. DerDrache kam aus seiner Höhle und blies ihm seinen schwarzen Rauch entgegen. Und Alderic rief ihm zu: "Hat jemals ein Drache über einen wahrhaften Ritter gesiegt?" Und da der Drache wußte, daß dem nicht so war, wurde er still und ließ den Kopf hängen. "Nun," sprach der Ritter zu ihm, "wenn du jemals wieder das Blut von Jungfrauen trinken willst, dann wirst du tun, was ich von dir verlange, und läßt mich auf dir reiten. Und so nicht, dann wird dieser Speer dafür sorgen, daß alle Sänger davon zu singen wissen, wie es dir und deiner Brut ergeht."

Und der Drache öffnete seinen furchtbaren Rachen nicht, und er griff den Ritter nicht feuerspeiend an, denn er wußte nur zu gut, was ihm in diesem Fall blühen würde, sondern willigte in die Forderungen ein, und versprach ihm, ihn getreulich zu tragen.

Und Alderic flog auf einem Sattel auf dem Rücken des Drachen über den Undurchquerbaren Wald hinweg, hoch über den Wipfeln der gewaltigen Bäume. Aber zuerst kümmerte er um seinen listenreichen Plan, bei dem es um viel mehr ging als nur darum, nichts von dem zu tun, das schon probiert worden war, und er begab sich zu einem Schmied und ließ ihn eine Spitzhacke anfertigen.

Als sich die Gerüchte von Alderics Queste verbreiteten, herrschte große Freude im Land, denn es war jedermann bekannt, daß er ein umsichtiger Mann war, und man traute ihm zu, Erfolg zu haben und die Welt zu bereichern, und in den Stadten rieb man sich die Hände voller Vorfreude - außer vielleicht die Geldverleihern, die befürchteten, daß ihre Schuldner bald ihre Schulden begleichen könnten. Und zudem herrschte Freude bei der Aussicht, daß die Gibbelinen, wenn sie ausgeraubt würden, ihre Brücke einreißen würden und die goldenen Ketten zerbrechen könnten, die ihren Turm an die Erde ketten, und wieder zurück zum Mond schweben würden, sie und ihr Turm, von dem sie einst gekommen waren und der ihre wahre Heimat war. Denn, um der Wahrheit die Ehre zu geben, erfreuten sich die Gibbelinen unter den Menschen keiner großen Wertschätzung, obwohl sie jedermann um ihre Schätze beneidete.

Und so jubelten sie, an jenem Tag, als Alderic seinen Drachen bestieg, als habe er bereits gesiegt, und was ihnen noch mehr gefiel als die Aussicht auf die Schätze, die er zurückbringen würde, war das Gold, das er freigiebig verstreute, als er davonflog. Denn, so sagte er, er habe dafür keinen Bedarf, wenn er ihren Hort finden würde - und falls er ihre Table d'hôte zieren würde, auch nicht.

Manche sagten, der Ritter habe den Verstand eingebüßt, als sie hörten, daß er alle guten Ratschläge in den Wind geschlagen habe; andere sagten, es zeige, daß seine Klugheit die der Berater überträfe, aber niemand durch schaute die Größe seines Plans.

Es hatte sich Folgendes überlegt: durch die Jahrhunderte hindurch hatten sich die Abenteurer gut beraten lassen und hatten den gewitztesten Weg genommen, und die Gibbelinen hatten sich daran gewöhnt, daß sie in Booten hergerudert kommen würden und bewachten nun ihre Tür, sobald ihre Speisekammern sich leerten, so wie ein Jäger auf einer feuchten Wiese darauf harrt, daß vor ihm die Schnepfen auffliegen. Was aber nun, so sagte sich Alderic, wenn die Schnepfe einfach im Baum sitzen bleibt? Würde der Jäger sie ausmachen können? Sicher nicht! Und so entschloß sich Alderic, den Fluß zu durchschwimmen und nicht die Tür zu benutzen, sondern sich durch das Mauerwerk einen Zugang zum Turm zu brechen. Und überdies hatte er vor, daß er dies unterhalb der Wasseroberfläche ausführen würde, unter dem Wasserspiegel des Flusses, der die Welt umfließt (wie Homer schon wußte), und sobald er ein Loch in die Mauer gebrochen hätte, würde das Wasser hineinströmen, die Gibbelinen in Panik versetzen, die Keller überfluten, von denen es hieß, daß sie sich zwanzig Fuß in die Tiefe erstreckten, und er wollte nach Smaragden tauchen wie ein Perlentaucher nach Perlen.

Und an jenem Tag, von dem ich hier erzähle, brach er auf und streute Gold unter die Leute (wie ich schon erzählt habe), überquerte viele Königreiche, und der Drache schnappte nach den Jungfrauen auf den Straßen - aber er konnte sie nicht fressen, weil ihn die Trense in seinem Maul daran hinderte, und es brachte ihm nur einen Stoß mit scharfen Sporen in seine empfindlichsten Weichteile ein. Und so gelangten sie schließlich die den Klippen, hinter denen der Undurchdringliche Wald aufragte. Der Drache stieg mit sausenden Flügelschlägen in die Höhe. So mancher Bauer, der am Rand der Welt lebte, sah ihn in der Höhe, wo die Dämmerung noch vorherrschte, als ein schwaches, schwarzes Flackern, und hielt es für einen Zug Gänse und erzählte nach der Heimkehr, daß der Winter bald bevorstände, während er sich fröhlich die Hände rieb, und daß es bald schneien würde. Bald war auch das letzte Dämmerlicht verblichen, und als sie am Rand der Welt landeten, herrschte um sie dunkle Nacht und der Mond schien. Und Okeanos, der uralte Fluß, der hier schmal und seicht dahinfloß, strömte dahin und ließ kein Plätschern hören. Und ob die Gibbelinen nun gerade schmausten oder hinter ihrer Tür auf Beute lauerten, auch von ihnen war nichts zu vernehmen. Und Alderic stieg ab und richtete ein Stoßgebet an die Dame seines Herzens, nahm die Spitzhacke und und begann durch das Wasser zu waten. Er trennte sich nicht von seinem Schwert, für den Fall, daß er einem Gibbelinen begegnen sollte. Als er am anderen Ufer angekommen war, machte er sich sogleich an die Arbeit - und er hatte Glück. Niemand spähte aus einem der Fenster nach dem nächtlichen Lärm, und sie waren allesamt hell erleuchtet, so daß von drinnen niemand erkennen konnte, was draußen vorging. Die mächtige Tiefe des Mauerwerks dämpfte die Schläge seiner Spitzhacke. Er arbeitete die ganze Nacht hindurch, und niemand störte ihn bei seinem Werk, und als der Tag anbrach, gab der letzte Stein nach und stürtzte ins Innere, und das Wasser begann ins Innere des Turmes zu strömen. Da nahm Alderic einen Stein, ging zur ersten Stufe vor der Eingangstür, und schmetterte den Stein mit aller Macht gegen die Tür. Er hörte das Echo dumpf durch das Innere des Turms rollen, dann lief er zurück und tauchte durch das Loch in der Mauer.

Er befand sich im Smaragdkeller. In dem hohen Gewölbe über ihm herrschte kein Lichtschimmer, aber als er zwanzig Fuß in die Tiefe tauchte, konnte er fühlen, wie sie in rauhen, scharfkantigen Halden den Boden bedeckten. In einem schwachen Mondstrahl,  der von außen hereindrang, sah er das Wasser von ihnen in grünem Schimmer erhellt. Er füllte sich schnell einen Beutel und stieg wieder an die Oberfläche. Und dort warteten die Gibbelinen auf ihn, bis zur Hüfte im Wasser, mit Fackeln in den Händen! Und ohne ein Wort zu sagen, und sogar ohne ein einziges Lächeln, packten sie ihn und hängten ihn fein säuberlich an die Mauer des Turms - und diese Geschichte gehört zu jenen, welche kein glückliches  Ende nehmen.

*          *           *

"The Hoard of the Gibbelins" erschien zuerst (mitsamt der Illustration von S. H. Sime) in The Sketch am 25. Januar 1911 und in Buchform ein Jahr darauf in der Sammlung The Book of Wonder.

Die kleine Erzählung illustriert eine weitere Facette der Dunsany'schen narrativen Technik: die Namensgebung. Während seine Phantasienamen meist klangvolle, assonanzenreiche Neubildungen darstellen, deren Sound Anklänge an mythologisch besetzte Namen und Orte wachrufen (Bubbulkund, Bethmoora, Zaccarath, der Fluß Yann, Pegana, der Schauplatz der kleinen Kunstmythen seines ersten Bändchen, The Gods of Pegana von 1905), verwendet er in diesem Fall einen historisch eindeutig verbürgten Terminus - den aber mit dem, was im Kosmos des Erzählten geschildert wird, nichts verbindet. Mit der hochmittelalterlichen Parteiung der Waiblinger haben seine Gourmands keine Berührungspunkte. (Jenen, die vor Olims Zeiten in Deutschland Geschichtsunterricht genossen haben, als dieser noch seinen Namen verdiente, mag noch in vager Unbestimmtheit der Schlachtruf "Hie Welf! Hie Waibling!" durchs Gedächtnis spuken, ohne Erinnerung an Details, der, relata refero, zuerst 1140 bei der Schlacht von Weinsberg zwischen Konrad dem Dritten und Herzog Welf dem Sechsten erklungen sein soll ("un roi, c'est un homme équestre / Personnage à numero ..." - Victor Hugo) und deren Parteigänger über das Italienische in die meisten anderen europäischen Sprachen, darunter eben auch das Englische, als "Guelfen und Ghibbelinen" eingegangen sind. Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, daß von den zweihundert Jahren Krieg, mit der diese Machtkonkurrenz dne Norden Italiens verheerte, nichts geblieben ist als eine verschollene Assonanz (nicht mehr übrigens als von den Rosenkriegen zwischen England und Frankreich 200 Jahre später - nein: es handelt sich nicht um einen Scheidungsprozeß - oder dem acht Jahrzehnte dauernden Kampf der Vereinigten Niederlande um Unabhängigkeit von der Spanischen Krone).* Dunsany hat dieses Verfahren in dieser Offenheit sonst nur in seiner Erzählung "Carcassonne" (erschienen in A Dreamer's Tales, 1910) angewendet, die das Thema von Gustave Naundots kleiner Ballade zwar aufnimmt ("Il mourut à moitié chemin: / Il n’a jamais vu Carcassonne!"), dessen unerreichbarer Sehnsuchtsort aber nichts mit dem konkret existierenden südfranzösisischen Ort mit seinem fast vollständig erhaltenen mittelalterlichen Stadtbild zu tun hat. Genauso ging auch E. R. Eddison in seinem klassischen Fantasy-Roman aus eben Dunsanys Ägide, nämlich 1922 vor, dessen The Worm Ouroboros dem Namen nach auf dem Planeten Merkur spielt, dessen Topographie aber als eine mittelalterlich-irdische geschildert wird.

* Das Fatum gemahnt an das Schicksal, das die beiden Theologen in Borges' gleichnamiger Erzählung ("Los téologos") aus dem Jahr 1947 ereilt, deren Dissenz um einen zentralen Aspekt der christlichen Erlösungslehre in der Frühzeit der Formulierung dieser Dogmen Jahrhunderte von Schismen und Häretikerverfolgungen nach sich zieht. Als sie schließlich am Ende der Tage von dem Angesicht des Ewigen stehen, hat ihr Zwist für sie jegliche Bedeutung eingebüßt. Selbst für Gott sind sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden.





U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.