18. März 2020

COVID-19. Münsterland. Update: Shutdown, Tag 2

...andererseits befanden sie sich in einer außergewöhnlichen Verfassung, in der sie, ohne die überraschenden Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren, innerlich akzeptiert zu haben, natürlich genau spürten, daß etwas anders geworden war. Viele hofften immer noch, die Epidemie werde aufhören und sie und ihre Familie verschonen. Infolgedessen fühlten sie sich noch zu nichts verpflichtet. Die Pest war für sie nur ein unangenehmer Besuch, der eines Tages gehen mußte, wie er gekommen war. Erschreckt, aber nicht verzweifelt, war für sie der Augenblick noch nicht gekommen, in dem die Pest ihnen als ihre Lebensform schlechthin erscheinen sollte und sie das Leben vergessen würden, das sie bis dahin geführt hatten. Genaugenommen warteten sie ab.

- Albert Camus, Die Pest  



Die aktuellen Fallzahlen vom Mittwoch, dem 18. März 2020, dem zweiten Tag des "Shutdown":

In den letzten 24 Stunden hat sich weltweit die Zahl der registrierten Coronavirus-Infektionen auf über 200.000 erhöht (auf insgesamt 217.027); 84383 dieser Fälle sind noch "aktiv"; die Zahl der Todesopfer der Seuche stieg auf 8912. Frankreich verzeichnete in diesem Zeitraum einen Anstieg von 1404 auf 9134; Italien um 4207 auf  35.713 (die Zahl der Todesopfer nahm um 475 auf jetzt 2978 zu). Für Deutschland stieg die Zahl der Fälle um 2960 auf insgesamt 12.327, die Zahl der Verstorbenen erhöhte sich um 2 auf 28.

Nordrhein-Westfalen meldet aktuell 3838 Fälle; auf den Regierungsbezirk Münster entfielen davon 611.* Die Zahlen für die Landkreise (in Klammern die des Vortages): Stadt Münster 130 (103), Kreis Coesfeld 85 (70), Kreis Steinfurt 124 (95); im Kreis Warendorf stieg die Zahl von 64 auf jetzt 108. Der Kreis Heinsberg, am schwersten vom Ausbruch betroffen, verzeichnet 790 Fälle mit 8 Toten, zwei Patienten starben heute in Aachen, je einer in Düsseldorf und in Essen. Laut den Meldungen von späten Nachmittag wird nur eine Person, eine Frau aus Oelde, zurzeit intensivmedizinisch im Krankenhaus Warendorf behandelt. Der Kreis Warendorf hat heute zudem beschlossen, seine Behandlungskapazitäten aufzustocken. Zurzeit stehen dort in vier Akut-Krankenhäusern für den gesamten Landkreis 32 Intensivbetten, mit 23 Beatmungsgeräten, zur Verfügung (um diese Zahl in Relation zu setzen: für das Jahr 2016 weist die Statistik für den Landkreis Warendorf insgesamt 278.000 Einwohner aus.). (* PS: Am späten Abend wurde die Zahl der Gesamtfälle im Regierungsbezirk von 611 auf 726 nach oben korrigiert; der Stand 24 h vorher betrug 565.)

Für die Gastronomie der Stadt Münster ist die Regelung der "verkürzten Öffnungszeiten" heute hinfällig geworden; bis auf weiteres bleiben sämtliche Gaststätten und Restaurants vollständig geschlossen. Die Recylinghöfe im Münsterland haben ihren Betrieb eingestellt. Am späten Nachmittag verängte das Uni-Klinikum in Münster eine vollständige Besuchssperre. Ab dem heutigen Mittwoch werden die Geschäfte in NRW geschlossen (Ausnahmen gelten für: "Lebensmittelgeschäfte, Wochenmärkte, Abhol- und Lieferdienste, Getränkemärkte, Apotheken, Poststellen, Frisöre, Reinigungen, Waschsalons, der Zeitungsverkauf, Bau-, Gartenbau- und Tierbedarfsmärkte und der Großhandel."

In Gescher-Hochmoor, in der unmittelbaren Nachbarschaft von Ahaus, sind heute aus der Lagerhaltung eines Abbruchunternehmens 2000 Atemschutzmasken vom Standart FFP3 (mit Ventil) gestohlen worden. Der stellvertretende Ministerpräsident von NRW, Joachim Stamp, hat vor "Coronaparties" und anderweitigen Versammlungen gewarnt und dagegen "strenge Maßnahmen" angekündigt. Wörtlich sprach er von "Zusammenrottungen."

Die Corona-Ambulanz an der Beethovenstraße in Rheine konnte heute keine Coronatests mehr durchführen. Die offizielle Stellungsnahme der Kreisverwaltung Steinfurt lautete: "Grund seien erschöpfte Laborkapazitäten. Der Andrang steige immer weiter an. Aktuell versuche man, neue Laborkapazitäten zu erschließen."

Die Gemeinde Mittereich in Bayern, in der Nähe der tschechischen Grenze, hat heute bei einem Stand von 16 Fällen bei 6000 Einwohnern, eine zunächst bis auf den 2. April begrenzte Ausgangssperre erlassen. In der Schweiz wurde die Ausgabe von Medikamenten wie Aspirin, Ibuprofen, Paracetamol, und fiebersenkenden Mitteln limitiert. Im südlichen Elsaß hat die französische Arme heute damit begonnen, Infizierte per Hubschrauber aus Kliniken in Mülheim und Colmar in weniger betroffene Landesteile auszufliegen. Das Tübinger Institut für Tropenmedizin wird in der nächsten Woche damit beginnen, das Medikament Chloroquin versuchsweise an Patienten anzuwenden, das bei Betroffenen in China und Italien gute Erfolge gezeigt hat; die "Reagenzglas"-Versuche sind vielversprechend gewesen. Es gibt allerdings noch Unklarheiten, weil es in hohen Dosen verabreicht wurde, und in Kombination mit anderen Medikamenten. (Hier ist zu beachten, daß es sich um eine Verkürzung des üblichen, vorgeschriebenen Verfahrens handelt: die Erprobung neuer Medikamente erfolgt in drei Stufen: zuerst an Testkulturen, dann im Tierversuch, und zum Schluß, auf der Basis von wenigen Freiwilligen, an menschlichen Patienten; dieses Verfahren muß für jedes Land wiederholt werden; es können - außer wie hier im Notfall, nicht einfach die Ergebnisse anderenorts als Referenz genommen werden.)

Am Mittag dementierte die Bundesregierung einen Bericht des Business Insider, es werde die juristische Begründung einer landesweiten Ausgangssperre ("Lockdown") ausgelotet.

In Tschechien tritt in dieser Nacht eine Regelung in Kraft, bei der infolge der verhängten Ausgangssperre das Haus nur verlassen werden darf, wenn eine Atemschutzmaske getragen wird. Allerdings sind im Land selbst einfachste OP-Masken Mangelware. Heute beschlagnahmte die Polizei im nordböhmischen Lovosice 700.000 bei einer Firma 700.000 Schutzmasken.

Heute heute Deutschland die humanitäre Flüchtlingsaufnahme ausgesetzt (Dazu ist zu ergänzen, daß es sich hier um die seit 2012 laufende Ausnahme von Betroffenen, zumeist aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens handelt, die seit einiger Zeit im Rahmen des "Resettlements"-Programms der Vereinten Nationen subsumiert ist und auf 5000 Personen p.a. begrenzt sein soll. "Asylzuwanderung," wie wir sie seit dem Herbst 2015 ungeregelt sehen, ist davon nicht betroffen. In der Stellungsnahme der Bundesregierung hieß es heute morgen: "Asylbewerber werden an den EU-Außengrenzen indes bislang nicht abgewiesen. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Steve Alter, sagte, aktuell werde die Beantragung von Asyl als Ausnahmetatbestand im Sinne der am Mittwoch beschlossenen Regelungen gewertet.")


(Eine kleine Räuberleiter in Sachen "...nur eine Grippe" anhand der Zahlen des Statistischen Bundesamtes.)

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Heute nacht im nächtlichen Kopftheater ein erster "Virus-Traum." Ungewöhnlich, weil sich in meinem Fall die unmittelbare Alltagsrealität sonst nie im onirischen Geschehen widerspiegelt. Keine Panik, keine Beklemmung, nur Desinteresse. Schlendern durch riesige menschenleere Lagerhallen und über leere Straßen, um die es frühlingshaft grünte. Eine Art Google-Streetview-Fahrt im Fußgängertempo durch eine verlassene Welt. Die Dehnung der Zeit durch den "Shutdown" beginnt sich im Psychischen zu spiegeln.

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Und doch, und doch: unter all den zutiefst beunruhigenden und pessimistisch stimmenden Meldungen, die die unmittelbare Zukunft nur in tiefem Schwarz malen, gibt es auch, immer wieder, Meldungen, die Hoffnung verbreiten, die einen durchatmen lassen. So heute auf der österreichischen Webseite futurezone, die deshalb in extenso zitiert werden soll:

3D-Drucker rettet Corona-Patienten in Italien das Leben
In der vom Coronavirus besonders leidgeprüften Lombardei in Italien fehlt es in Spitälern derzeit an allem: Betten, Personal, aber vor allem auch an Beatmungsgeräten und anderen lebenserhaltenden Maschinen. So auch im Krankenhaus des Ortes Brescia westlich des Gardasees. Dort drohten aufgrund von defekten Ventilen mehrere Beatmungsgeräte unbrauchbar zu werden. Der Hersteller teilte dem Krankenhaus mit, dass aufgrund der enormen Nachfrage kurzfristig keine Ersatzteile geliefert werden können - eine Katastrophe, angesichts der ohnehin prekären Situation mit viel zu wenigen Geräten.
Als der 3D-Drucker-Experte Massimo Temporelli, Gründer des FabLab in Milan davon zu hören bekam, setzte er alle Hebeln in der Community in Bewegung. Die kleine 3D-Druck-Firma Isinnova aus Brescia schaffte schließlich das Unglaubliche: der Gründer nahm einen 3D-Drucker direkt ins Krankenhaus mit, baute das Ventil im Computer nach und produzierte schließlich innerhalb weniger Stunden Ersatzteile für die Maschinen.
Einem Bericht das Blogs 3dpbm zufolge hingen bereits am Samstag zehn Patienten an Maschinen, bei denen ein defektes Ventil mit einem im 3D-Drucker nachgebauten Ersatzteil getauscht worden war. Nachdem die gute Nachricht ihre Runde gemacht hatten, meldeten sich weitere 3D-Druck-Hersteller beim Krankenhaus. Das ebenfalls lokal angesiedelte Unternehmen Lonati lieferte weitere Ventile aus noch hochwertigerem Kunststoff (siehe Bild unten).
Im Falle des Ventils, aber auch anderer medizinischer Werkzeuge, ist das Design patentiert. Ein Nachbau ist eigentlich strafbar. Bei Notfällen wie dem jetzigen Lieferstopp können Krankenhäuser aber die entsprechende Design-Datei offiziell anfordern und so verhindern, dass Patienten durch kaputte Geräte gefährdet werden.

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Bundeskanzlerin Merkel hat sich heute abend in einer Fernsehansprache im Angesicht der Krise zum ersten Mal in den 14 Jahren ihrer Kanzlerschaft direkt an die Bürger gewendet. Wer Näheres zum Inhalt ihrer Ausführungen erfahren möchte, kann dies an den entsprechenden Stellen, etwa bei Tichys Einblick, tun. Ich habe mir diese 13 Minuten nur kurz überfliegend in einer Mitschrift angetan: ein endloser Strom von Nichtigkeiten und Banalitäten: wir hätten eine Krise, eine Herausforderung, wie wir sie seit 1945 nicht erlebt haben, es werde niemand zurückgelassen, es seien alle gefordert, wir möchten bitte im Alltag Abstand voneinander einhalten.

Konkrete Maßnahmen? Das zu erwartende Ausmaß der Epidemie? Welche Maßnahmen werden in den nächsten Wochen und Monaten erlassen, welche Strategien sind ins Auge gefaßt, um den immensen Schaden möglichst zu begrenzen? Nichts, nichts, nichts. Ein Eingeständnis, daß die Maßnahmen der Regierung bis zum Ende der letzten Woche von fahrlässiger Verharmlosung waren? Daß die endlose Versicherung "wir sind gut vorbereitet" das genaue Gegenteil einer guten Vorbereitung darstellen? Daß Frau Merkel selbst bis zum letzten Augenblick eine Schließung der Grenzen verhindert hat, um ihr törichtes Motto "Grenzen kann man gar nicht schützen" von 2015 nicht als eben jene gefährliche Naivität (um nicht zu sagen "kriminelle Blödheit") Lügen zu strafen, als die sie jeder von Anfang an erkennen konnte? Fehlanzeige.

Diese Frau hat mir nichts mehr zu sagen.  









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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.