20. Dezember 2019

Vincent Starrett - "Ballad of Brobdingnag" (1925)

Wenn wir schon keinen "Planeten namens Brobdingnag" (oder, wie im Wahlvorschlag der IAU vorgesehen, einen Stern mit diesem Namen) vorweisen können, so sei zur Kontinuitätswahrung - und um an das Thema "221B" anzuknüpfen, ein zugegeben leicht frivoles Gedicht aus der Feder Vincent Starretts (1886-1974) hergesetzt.



BALLAD OF BROBDINGNAG

I dreamed I went with Gulliver to sea,
And through the rigging blew the salty wind,
And Brobdingnag appealed so much to me
That when he left, I dreamed I stayed behind.
The giant ladies were all very kind,
And one there was with elephantine hips,
Who was astonishingly to my mind -
I climbed her massive knees to reach her lips.

Why Gulliver took leave, I don't recall;
I think there was a scandal at the court.
Some mammoth maid of honor, wide and tall,
Was compromised, according to report,
And Gulliver was blamed. He was a sport
And thought the compliment was of the best.
Me, as his friend, they tried to serve in sort,
But a nice lady hid me in her breast.

And when his going left me there alone,
The queen and all the younger dames
Were pulling straws to keep me for their own,
And every night invented different games.
One mighty darling - I've forgotten names! -
Set me astride one whopping mole, one night,
Then laughed with such abandon that the claim
Of food and living vanished from me quite.

I slid down inclines curious and steep,
Ran wild o'er ladies dark and ladies fair;
I tumbled into dimples dank and deep,
And swept to safety by a swinging hair.
It was a very devil of a tear
Until I woke to find myself a stag;
But nightly now I read my Gullivaire,
And pray for dreams of vanished Brobdingnag.


"Ballade von Brobdingnag"

I
Ich fuhr im Traum mit Gulliver aufs Meer
Vorm steifen Wind, der in die Segel blies
Und Brobbdingnag gefiel mir gar so sehr
Daß ich im Traum dort blieb, als er das Land verließ.
Die netten Riesendamen mochten uns nicht missen.
Und eine Riesenmaid, mit Hüften, tonnenschwer
Erweckte überraschend mein Begehr.
Und ich erklomm die Steilwand ihrer Knie, um sie zu küssen.

II
Warum man Gulliver des Lands verwies
Weiß ich nicht mehr, ein Ehrenfräulein, wie es hieß,
Bezeigte durch ihn kompromittiert.
Doch Gulliver war jeder Zoll ein Kavalier
Er zeigte sich darüber amüsiert
Und nahm das als ein Kompliment nicht arg.
Weil ich sein Freund war, drohte das auch mir,
Bis eine gute Fee mich im Dekolleté verbarg.

III
Und als sein Weggang mich allein dort ließ
Losten die Königin und ihre Damen
Per Strohhalm aus, auf wen ich wohl entfiele,
Ersannen jede Nacht frivole Spiele.
Ein Riesenschatz - ich nenne keine Namen! -
Plazierte mich auf eine Warze, in der ich versank.
Und bei dem Lachen, daß sie dann ausstieß
Verging mir aller Sinn nach Speis und Trank.

IV
Ich kam in Abgründe hinabgeschossen
Sprang über Damen, blond und schwarz von Haar
Und stolperte und sank in Sommersprossen
Schwang mich an Haar-Lianen fort aus der Gefahr...
Es war ein höchst obszöner Schabernack.
Bis ich mit einer Riesen-Ihr-wißt-schon erwachte.
Jetzt les' ich stets zur Nacht mein Gulli-Breviar
Und hoff auf Träume vom entschwundnen Brobdingnag.

(Nachdichtung U.E.)

Starretts Hauptwerk waren unbezweifelbar die Kolumnen und Besprechungen, die er ab 1942 in seiner wöchentlichen Kolumne "Books Alive" für die Chicago Times verfaßt hat; und die Essays und Plaudereien über Bücher und das literarische Lebens, angefangen mit dem Band Books Alive von 1940, die der Kolumne ihren Titel verlieh; vom Aspekt des Könnens, der techne, dürften es aber die rund 300 Gedichte, zumeist in Sonettform sein, die er seit Mitte der 1910er Jahre zu zahlreichen Zeitungen und literarischen "little magazines" beisteuerte, die das Rückgrad der "Chicago renascence" der Zwanziger und Dreißiger Jahre bildeten, und die zwischen 1916 und 1949 in acht recht schmalen Bänden in Buchform erschienen, angefangen mit dem Bändchen Rhymes for Collectors. Bis auf den Band "Autolycus in Limbo", der 1943 beim (damals) bekannten Verlag E. P. Dutton in einer Auflage von 1500 Exemplaren erschien und so etwas wie seine "Collected Poems" darstellt, handelte es sich hier um einen ziemlich klandestinen Zweig seiner literarischen Produktion: sieben dieser Büchlein erschienen als Liebhaberdrucke in einer Auflage von jeweils wenigen hundert Exemplaren; mitsamt dem "Autolycus"-Band erreichte die Gesamtauflage aller acht Titel gerade einmal 3600 Exemplare.

Die "Ballade vom Swift'schen Riesenland", die in keinem dieser Bände Aufnahme fand, wurde 1925 als Privatdruck in 39 Exemplaren angefertigt, die Starrett an Freunde und literarische Zunftgenossen weiterverteilte. Hier spielt möglicherweise, d.h. überaus wahrscheinlich, der damalige Hintergrund für Werke von solchem frivolen, halbseidenen Einschlag mit hinein. Die Freisprechung der "berüchtigten" Opera wie den "Memoirs of a Woman of Pleasure" von John Cleland, von "Lady Chatterleys Lover" von D. H. Lawrence oder des Joyce'schen "Ulysses" lag noch mehrere Jahrzehnte in  der Zukunft. Gerade die Chicagoer Literaturszene - als Gegenpol zu den bis dato maßgeblichen New Yorker Zirkeln, an deren Formierung Starrett einen nicht unwesentlichen Anteil hatte, hatte lurz zuvor zwei der großen Literaturskandale aus dem Auftakt der "Roaring Twenties" gesehen: die kurzzeitige Indizierung von James Branch Cabells Jurgen von 1919 (der heutigen Lesern in keiner Weise als öbszönes oder gar pornographisches Werk vorkommt, sondern als eine Kömodie in pseudo-mittelalterlichem Gewand, dessen "Stellen" weit hinter denen des Boccaccio'schen Decamerone zurückbleiben), und dem Verbot von Ben Hechts Fingerübung in "literarischer Dekadenz", Fantasius Mallare aus dem Jahr 1922, dessen Druck und Vertrieb gerichtlich im Jahr zuvor nach zweijährigem Streit vor dem Kadi untersagt worden war. Dreh- und Angelpunkt bei der Unterbindung der Verbreitung unzüchtiger Schriften war in den USA der in den 1890er Jahren verabschiedete "Comstock Act", der der Post die Beförderung indizierten Schrifttums untersagte, so daß die Händler gedruckter Bückware, in der Theorie zumindest, mit mit dieser Konterbande beliefert werden konnten. Die Kontrollmöglichkeit bestand freilich nur bei als solchen deklarierten Büchersendungen; Privatpost blieb aufgrund des Briefgeheimnisses außen vor.







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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.