19. November 2018

Die Relativismus-Religion

Es wird geklagt, die political correctness führe zu einem Universalismus, der nicht mehr der Natur des Menschen entspreche: die Vielfalt würde vernichtet, wenn die Unterschiede zwischen Mann und Frau und zwischen den Kulturen geleugnet würden, die krampfhafte Gleichstellung sei ein Aufstand gegen den gesunden Menschenverstand. Auch die Kirchen in Deutschland seien inzwischen aus Angst vor einem Bedeutungsverlust abgefallen zu politisierten geistig-moralischen Wohlfühlleistern, um ihr Mitspracherecht zu behalten. Ist das die Realität und welches Anliegen äußert sich in diesen Klagen? ­

Dem Zeitgeist erscheinen Wahrheiten, die früher als absolut und beweisbar ausgegeben wurden, als überholte Ideologien. Er anerkennt als neue Leitideen nur subjektive Erkenntnisse, einen Pluralismus von Denkmodellen und erlaubt bestenfalls eine Ökumene von Verschiedenheiten. Der philosophische Boden für den Pluralismus ist die Erkenntniskritik seit Immanuel Kant, die als Resignation vor der Wahrheitsfrage verstanden wird.

Eine zweite Quelle ist die kopernikanische Kränkung, der physikalische Blick auf unsere Welt im Kosmos, der uns Bewohner dieses Planeten in die Grenzen verweist. Man argumentiert: So wie die Weltentstehung und die chemische und biologische Evolution des Lebens einem Haufen von Zufällen zu verdanken sind, sei alles zu relativieren und jeder herausgelesene Sinn als hineingelesener zu hinterfragen.

Man kann als gemeinsames Motiv zum Umsturz der Weltbilder die hinter allen Zweifeln erscheinende oberflächliche Begründung „Weil-aus-Zufall“ ausmachen. Schon Lessing und in seinem Gefolge die Philosophen argumentierten deshalb, unsere sittlichen Normen könnten doch nicht auf der zufälligen Geschichte der Juden beruhen, sondern müssten vom Verstand her als allgemeine Imperative für alle Weltbürger entwickelt werden. Das relativiert die Bibel. Deren eigentliche Absicht, ein kleines Gottesvolk habe als „Salz der Erde“, als „Licht der Welt“ eine unersetzbare Funktion zur Erhaltung des Gleichgewichts in der Welt und dafür als Minderheit die Last einer besonderen Ethik, die gar nicht als auf alle übertragbar gedacht sei, blieb unerörtert, wurde bald vergessen oder als elitär und fast strafwürdig verlästert. Seit der Französischen Revolution führte dies zur Verdrängung der Kirche aus der Öffentlichkeit in das Private einer ‚Zivilreligion‘ und als Einbildung einer besonderen ‚Erwählung‘ ist die jüdische Idee ‚Gottesvolk‘ bis heute Anstoß zum Antisemitismus.

Die universitäre katholische Religionstheologie neigt seit einigen Jahrzehnten zur Relativierung der Unterschiede zwischen biblischem Glauben und anderen Religionen, ein Teil ihrer Vertreter sogar zu einem allgemeinen Religionspluralismus. Sie verstehen diesen Pluralismus als eine Bereicherung und als eine Dimension der Katholizität, oder auch als Ausdruck der menschlichen Unfähigkeit, die eine Gotteswahrheit voll erfassen zu können. Die Verunsicherung rührt zutiefst aus der philosophischen Erkenntniskritik: Der Mensch vermöge nicht die ganze Wahrheit zu finden und damit erfasse auch keine Religion die Wahrheit des Göttlichen. Das trifft ins Herz des christlichen Anspruchs. Bei dieser Verwirrung spielt das theoretisch und praktisch verloren gegangene Wissen um die Unterscheidung zwischen Bibel und ‚Religion‘ eine entscheidende Rolle.

Die religionspluralistische These hat sich inzwischen zur Häresie unseres Jahrhunderts verbreitet. Ein Stück Wahrheit steckt freilich in jeder Häresie. In diesem Fall ist es die Tatsache, dass das Christentum mit seiner Hauptwurzel im Judentum die geläuterte Form und Aufgipfelung vieler aufgesammelter Religionen und Weisheitslehren ist. Das Ergebnis der Reinigung durch die religionskritische Vernunft ist im Kanon der Bibel und der Dogmen gesichert worden. Die Dogmengeschichte ist auch ein Friedhof von Häresien. Die Kirchgänger, selbst die Amtsträger haben sich in ihrer Lebenspraxis dem Gebot, bei ihrer Sache zu bleiben, immer wieder entzogen. Unter den Neuerscheinungen der Verlage wecken Titel wie „Eine Theologie der Tiere“ oder „Roboter als moralische Akteure“ auch jetzt mehr Kauffreude als eine Einführung, wie der Mensch zum Christen wird oder wie das Christentum in die Christenheit wiedereingeführt werden müsste.

Der Pluralismus wächst an allen Fronten: Kirchenaustritt oder nicht? Erd- oder Feuerbestattung? Ein Schildchen am Baum ist vielleicht ehrlicher als ein Kreuz auf dem Grab. Er lässt sich auch verschleiern mit Worten wie „Umbruch“, „Wandel“, „Trend“, „Dialog“, „neuer Narrativ“.

Sinnvoll wäre natürlich ein Pluralismus als eine Pluralität aus fröhlichen Christen, sicher-leben-könnenden Juden, vernünftigen Korangläubigen und fröhlichen Agnostikern. Der gemeinsame Lernstoff könnte das Leben auf unserem Planeten sein. Es fand, auch wenn es anfangs länger brauchte, die Zellteilung und den Reichtum des Füreinander von Zellen mit verschiedenen Aufgaben, es fand – mittels Zufallsglück und Katastrophen – aus dem Wasser aufs Land und schließlich zum Affen, der die Hände frei bekam und sprechen konnte, das gewachsene Gehirn fand zum Miteinander und Erfolg der Jäger und Bauern, zu Technik, Kultur und Kunst, zu Städten und Reichen, zu Religionen und nun zur Aufklärung über all dies.

Niemand kann allein die Welt retten; den Frommen gesagt: nicht einmal Jesus, auch er suchte klugerweise als erstes Mithelfer, Jünger, und verteilte Aufgaben und Ämter vielfältig.

Der moderne Mensch will aber autonom sein. Seine Freiheit macht ihn einsam und arm. Weil im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Berufsleben das Team erfolgreicher ist, muss er sich freilich hierfür zum Wir zwingen, - um sich in der Freizeit desto mehr abzuschließen, selbst mitten in einer Familie. Er kennt die anderen gar nicht wirklich, aber wegen seiner Ideologie muss er sie anerkennen. Er partizipiert, soweit er die anderen ausnutzen kann. Dadurch relativiert er die Freunde und die Fremden, indem er sie zum Gegenstand seiner eigennützigen Liebe macht. Seine ‚Werte‘ werden auch sein Weltbild. Er wird zwar kein Tiger oder Wolf, aber sein Lebensgesetz wird aus Mitleid mit sich selbst schließlich das Motto, alles sei doch relativ.

Wie war doch zu Zeiten des Thomas von Aquin das Adjektiv „relativ“ noch mit Sinn beladen wie ein Erntewagen. Gesetz ist Gesetz? Das sagen wir. Er zeigt seinen Humor mit der Ansicht, es sei die Pflicht des Königs, nach dem Gesetzesbrecher zu fahnden, die Pflicht der Ehefrau, ihn zu verstecken, und die Pflicht eines jeden von beiden, das Misslingen der eigenen pflichtmäßigen Absicht als Willen Gottes zu akzeptieren.

Welcher Pluralismus, welch eine Weite, welch ein Humanismus!

Ludwig Weimer

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