29. Dezember 2017

Jahreszeitenklang: 江雪, jiāng xuě

Der Klang der Stille.



Oder, in neuzeitiger Schreibrichtung:

柳 宗 元 - 江雪 

千山鳥飛絕, 萬徑人蹤滅。 
孤舟簑笠翁, 獨釣寒江雪。 

Jiāng xuě
qiān shānniǎo fēi jué, wàn jìng rén zōng miè. Gū zhōu suō lì wēng,
dú diào hán jiāng xuě.

Liu Zongyuan (773-819), "Schnee über dem Fluß"

Über tausend Bergen fliegt kein Vogel.
Auf zehntausend Wegen keine Menschenspur.
Ein einsames Boot, ein alter Mann mit Schilfhut
Fischt im kalten Fluß unter dem fallenden Schnee.

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Bei Liu Zongyuans Vierzeiler in streng fünfsilbig gebundenen Zeilen handelt womöglich es sich um das berühmteste Gedicht der klassischen chinesischen Literatur, jedenfalls um das der Tang-Zeit (618-907 n.Chr.) Mit Sicherheit ist es das Gedicht, an dem sich die meisten westlichen Übersetzer versucht haben. Die strenge Form läßt sich natürlich nicht einhalten: und der Rhythmus des Original - fünf Silben pro Zeile - schließt den Versuch einer Anverwandlung in formaler Hinsicht aus; chinesische Gedichte dieser strenggebundenen Form kommen in 5- oder 7-silbiger Form vor; und es wird klar, worin die im Westen bekannteren japanischen Gedichte, die Haikus und Tankas, ihr Vorbild haben. Die maximale semantische Verknappung des Wenyan, des klassischen Chinesisch, auf das absolute Minimum des Mitzuteilenden - gegen die das moderne Chinesisch, das Puntonghua oder Guoyu ("Landessprache", wie der auf Taiwan gängige Ausdruck lautet) von geradezu geschwätziger Redundanz ist. Um nur die erste Zeile zu nehmen: ganz wortwörtlich (ein Ausdruck, dem im solchen Zusammenhang eine leicht ironische Note zukommt) wiedergegeben lautet sie  千, tausend,  山, Berg, 鳥, Vogel, 飛, fliegen/der Flug, 絕, verschwunden; die dritte Zeile ist gleichermaßen verknappt:  孤, einsam, 舟, Boot, 簑, Strohumhang, 笠, Bambushut, 翁, alter Mann, Greis. Der "Greis" ist zwar von netter Einsilbigkeit, bedient aber ob seiner antiquierten Obsoletheit das falsche rhetorische Register. Hinzu kommen für Übersetzer solche Details wie die Entscheidung, ob für das 萬/wàn der zweiten Zeile nun mit "zehntausend" gewählt werden soll, um an Anklang an die "tausend" der Eingangszeile zu wahren, oder "unzählige", für die das Wort im allgemeinen Sprachgebrauch steht (hier entspricht das dem altgriechischen μυριάς). Auf das Reimschema muß in solchen Fällen ebenfalls verzichtet werden - auch wenn dies einen irreführenden Eindruck hinterläßt: klassische chinesische Lyrik ist durchweg streng gereimt (jedenfalls seit der Tang-Zeit; weswegen reimlose Poesie als "Gedichte im alten Stil" bezeichnet werden); Übersetzer, die sich in dieser Hinsicht versucht haben, erzeugen leicht ein Reim-dich-oder-ich-fress-dich aus verkürzten Flektionen und syntaktischem Kleinholz, das dem Original, das nichts dergleichen aufweist, einen Tort antut. In unserem Fall kommt hinzu, daß das einfache Endreimschema der umschließenden ersten und vierten Zeile einem Auftaktreimschema (qiān/wàn gū/dú; die unterschiedlichen Töne können beim Reim vernachlässigt werden) gegenübersteht; diese stabreimähnliche Technik, 入聲, rùshēng (wörtlich "Eingangston") ist mittlerweile ausgestorben, ebenfalls dem Stabreim entsprechend.

Kenneth Rexroth (1905-1982), mit der amerikanischen Bewegung des Beatniks verbandelt und darüber hinaus neben der eigenen poetischen Produktion auch als Übersetzer chinesischer Lyrik vorgetreten, hat das Gedicht wie folgt ins Englische hinübergesetzt:

River Snow

A thousand mountains without a bird.
Ten thousand miles with no trace of man.
A boat. An old man in a straw raincoat,
Alone in the snow, fishing in the freezing river.

Gary Snyder (geb. 1930), ebenfalls den Randbereichen der Beatniks zugeordnet (wenn auch nur unter eigenem Protest; die Gestalt des Japhy Ryder in Kerouacs Roman The Dharma Bums von 1958 zeigt ihn durch Kerouacs etwas ... eigenständige ... Sicht auf Zen, Buddhismus und spirituelle Angelegenheiten; der Titel der deutschen Übersetzung Gammler, Zen und hohe Berge wirkt aus heutiger Distanz erfrischend gehässiger. Snyder hat sich in Richtung Kerouac mit dem Bonmot revanchiert: "that old Canuck thinks the Buddha is the Pope!") gibt die Zeilen so wieder:

River Snow

These thousand peaks cut off the flight of birds
On all the trails, human tracks are gone.
A single boat - coat - hat - an old man!
Alone fishing chill river snow.

(Die letzte Zeile darf man für ein Beispiel des oben genanten Kleinhäcksels nehmen.) Wai-lim Yip überträgt wie folgt:

A thousand mountains - no bird's flight.
A million paths - no man's trace.
Single boat. Bamboo-leaved cape. An old man.
Fishing by himself: ice river. Snow.

Syntaktisch mag das dem Original am nächsten kommen; in seiner bizarren Zerhacktheit macht es  freilich die Wirkung der vorigen Zeilen zuschanden. (Die Übersetzungen von Rexroth und Synder finden sich in Eliot Weinbergers Sammlung The New Directions Anthology of Classical Chinese Poetry, (New Directions: New York, 2003), beide auf S. 139; ansonsten finden sich dort Übertragungen anderer Dichter der klassischen Moderne wie Williams Carlos Williams und Ezra Pound (*)); Yips Übertragung stammt aus Wai-lim Yip, Herausgeber: Chinese Poetry - An Anthology of Major Modes and Genres (Durham und London: Durham University Press, 1997), S. 234.) 

(*Ja: der Protokollant muß gestehen, daß ihn der Gedanke an Ezra Pound im Zusammenhang mit chinesischer Lyrik und chinesischer Sprache nachhaltig zusammenzucken läßt - um Magnituden mehr als der Gedanke an das Verhältnis von Federico Garcia Lorcas Gedichten zu den "Übertragungen" Enrique Becks.) 

Die französische Übersetzung aus der Hand von François Cheng (geb. 1929) lautet:

Neige sur la fleuve

Sur mille montagnes, aucun vol d'oiseau
Sur dix mille sentiers, nulle trace d'homme
Barque solitaire: sous son manteau de paille
un vielliard pêche, du fleuve figé, la neige.

(L'écriture poétique chinoise - suivi d'une anthologie des poèmes des Tang. Paris: Editions du Sueil, 1996, S. 177.)

Gil de Carvalhos portugiesische Übertragung von 2001 zeigt reiche Wortspende:

Sobre mil colinas, nem um voo de ave. 
Em dez mil veredas, vestígio algum de passos. 
Uma barca solitária, um velho de capa e chapéu de palha, 
Pescando, solitário, na neve do rio gelado. 

Zuletzt, als Kuriosum, die russische Übertragung von Galina Strucholina aus dem Jahr 2009 (in diesem Zusammenhang noch einmal der zugegeben gemeine Hinweis: das Original kommt mit fünf Silben pro Zeile aus):

Снег на реке

Горы без края, где птиц  оборвался полет.
С тысячи троп исчезают людские следы.
Лодочник старый в бамбуковой шляпе, в плаще
Снег одиноко удит из холодной воды.

*     *     *

Liu Zongyuans Gedicht ist heute noch jedem chinesischen Schüler bekannt; das verdankt sich der Aufnahme in die wohl meistgedruckte Lyrikanthologie der Welt überhaupt, den "300 Gedichten der Tang-Zeit", 唐詩三百首, Tángshī sānbǎi shǒu, 1763 von Sun Zhu (1722-1778) zusammengestellt und seitdem ohne Unterbrechung Standardschullektüre. Es heißt, nicht ganz zu Unrecht: wer diese Gedichte auswendig kennt, weiß alles, was man - formal wie vom Inhalt her - zur klassischen Lyrik Chinas wissen muß; Diese Sammlung von 317 Gedichten ist als Florilegium aus einer der monumentalsten Kollektionen von Lyrik überhaupt gezogen worden, die es vor dem Computerzeitalter gegeben hat, dem 全唐詩, dem Qian Tang Shi, der "vollständigen Sammlung der Tang-Gedichte", die 1705 im Auftrag des Kangxi-Kaisers (**) gedruckt wurde und deren Ziel es war, das gesamte Korpus der Lyrik der Tang-Zeit, die als DIE klassische Ära chinesische Literatur empfunden wurde, zu bündeln. Das Resultat umfaßt 49.000 Gedichte von gut 2200 einzelnen Dichtern - und erwies sich für die Praxis natürlich als vollkommen unbrauchbar (auch hier hat die freie Ansteuerbarkeit und die Speicherfähigkeit der modernen Datentechnik den Nachteil der Gutenberg-Galaxis umgehend in einem Vorteil verwandelt.) Daß es mehr als die titelgebenden dreihundert Gedichte sind, ist intendiert: auch das vorbildgebende Shijing, das "Buch der Lieder", einer der "fünf Klassiker" umfaßt statt der dreihundert 320 Stücke. Von Liu Zongyuan fanden fünf Gedichte Aufnahme; 江雪 trägt die Nummer 244; es ist das einundzwanzigste aus der Abteilung  五 言 絕 句, "fünfsilbige Vierzeiler"; in meiner einsprachigen Ausgabe der "300 Tang-Gedichte", der Auflage vom Februar 2016 der seit 1959 unverändert verlegten Ausgabe des Pekinger Verlags 中华书局, Zhonghua Shuju, in klassischer Ausrichtung (was in diesem Fall heißt: auch ohne Zeilenbruch) und in Langzeichen, die hier neben der Tastatur liegt, findet es sich auf Seite 124.





The Quantangshi 全唐詩 is a collection of all preserved shi poems 詩 from the Tang 唐 (618-907) and Five Dynasties 五代 (907-960) periods. It was compiled in the early years of the 18th century by a team led by Cao Yin 曹寅 and Peng Dingyiu 彭定求. Some of the team members were Shen Sanceng 沈三曾, Yang Zhongna 楊中訥, Pan Conglü 潘從律, Wang Shihong 汪士紘, Xu Shuben 徐樹本, Ju Dingjin 車鼎晉, Cha Sili 查嗣瑮, Wang Yi 汪繹, and Yu Mei 俞梅. The Quantangshi contains nearly 50,000 poems (including fragments) of more than 2,200 persons, arranged in 900 juan "scrolls". To each person a short biography is added.

The first printing was done by the Yangzhou poetry bureau 揚州詩局 in 120 booklets, the common modern printing is that by the Zhonghua shuju press 中華書局 from 1960 in 12 volumes. This edition is enriched by a supplement , the Quantangshi yi (Zentōshi ichi) 全唐詩逸, edited by the Japanese "He Shining" 河世寧 (Ichikawa Kansai 市川寬斎) in 3 juan (Taibei: Guangwen Press 廣文書局, 1970). In 1982 the Zhonghua shuju press published another supplement, the Quantangshi waibian 全唐詩外編, edited by Wang Zhongmin 王重民. This collection contains Wang's Bu Quantangshi 補全唐詩 (104 poems) and Dunhuang Tangren shiji canjuan 敦煌唐人詩集殘卷 with 62 poems found in Dunhuang, Sun Wang's 孫望 Quantangshi buyi 全唐詩補遺 in 20 juan (896 poems), and Tong Yangnian's 童養年 Quantangshi xu buyi 全唐詩續補遺 in 21 juan (more than 1,200 poems). Wang Zhongmin also published 52 further poems in the periodical Zhonghua wenshi luncong 中華文史論從, 1981, 4. (Chinaknowledge.de/Literature/Poetry/quantangshi)


(** Wer sich fragt, warum im Zusammenhang mit chinesischer Geschichte so vom vom X-Kaiser gesprochen wird, in diesem Fall vom Kangxi-Kaiser (1654-1722) statt vom Kaiser Kangxi, oder, in alter Transliteration K'ang-Hsi: der Herrscher nahm bei seiner Thronbesteigung einen neuen Namen an, der sinntragend war und zugleich das Motto für seine Regierungszeit abgeben sollte: Die Wikipedia erläutert weiter: "Sein Geburtsname war Aixin Jueluo Xuanye (愛新覺羅玄燁, Àixīn Juéluó Xuányè), sein Tempelname lautete Shengzu (聖祖; dt. Geheiligter Ahne, šengzu gosin hūwangdi), sein Ehrenname war Rendi (仁帝)". Oder, wie die die Fab Four es in "Rocky Raccoon" im Hinblick auf den Fernen Westen anstatt des Fernen Ostens formulierten: "Her name was Magill / and she called herself Lil, / but everyone knew her as Nancy.")

*     *     *
Um aber auch diesen Eintrag nicht in völliger Stille, dem lautlosen Sinken des Schnees angemessen, ausklingen zu lassen, empfiehlt sich die folgende pièce, die wie eine Antwort auf die zweite Zeile des Gedichts über ein Jahrtausend hinweggrüßt: dem sechsten Eintrag aus dem ersten Buch von Claude Debussys Préludes (1910): "Des pas sur la neige", den Fußspuren im Schnee, niedergeschrieben am 27. Dezember 1909 in 36 Takten in D-moll, hier in einer späten Version von Arturo Benedetti Michelangeli:







U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.