6. November 2016

Die Geister des Mars



a.
Und wieder einmal, so die unabweisbare Erkenntnis, ist eine Raumsonde auf dem Weg zum Roten Planeten ein Opfer des Großen Galaktischen Ghuls geworden. Und wie es sich für einen Fall von spukhafter Fernwirkung gehört, beginnt es mit mit einem Fall von déjà vu, der bis ins Jahr 1969, dem Jahr der ersten bemannten Mondlandung, zurückblendet.

Der Höhenmesser zeigte einhunderttausend Fuß an, und John Gant hörte von draußen das stete, dumpfe Dröhnen der Marsatmosphäre, die von dem gedrungenen Körper des Moduls, des Landsflugzeugs, zerteilt wurde. Aber immer noch gellte das Alarmzeichen mit unverminderter Lautstärke. 
     "Ist etwas nicht in Ordnung?" sagte John Gant mit einem Blick auf Luftwaffenmajor Ben Lockwood, der neben ihm im Pilotensitz des Moduls saß.
      "Der Fallgeschwindigkeitsamzeiger spielt verrückt," erwiderte Lockwood. Gant blickte auf die Armatur und sah den dünnen, roten Zeiger zitternd nach rechts wandern.
     John Gant bewegte sich nicht in seinem Co-Pilotensitz. Er lauschte dem Dröhnen der Masratmosphäre, die an der Außenwand des Moduls entlangraste. Es wurde immer mehr zu einem gellenden, sich zur Unerträglichkeit steigernden Heulen und Pfeifen. Die Thermometer zeigten, daß die äußere Hülle des Landeflugzeugs bereits rotglühend sein mußte.
(...)
"Mach 1,05!" sagte Lockwood mit automatenhaft klingender Stimme. "Wir hanen die Schallgeschwindigtkeit überschritten und nähern uns Mach 1,5. Wenn wir bei dieser Geschwindigkeit den Marsboden berühren, bleibt keine Schraube von uns übrig, selbst wenn die Stelle, an der wir landen, so eben ist wie ein Spiegel."
(...)
Gant warf dem Sprechfunkgerät neben seiner rechten Hand einen Blick zu. Lockwood hatte recht. Es war zu spät, einen Versuch zu unternehmen, mit dem in seiner Marsumlaufbahn kreisenden Raumschiff, von dem sie gestartet waren, Funkverindung aufzunehmen. Wahrscheinlich blieben ihnen nur noch wenige Minuten bis zum Aufschlag, und solange sich ihr Modul mit einer solchen wahnsinnigen Geschwindigkeit durch die Marsatmosphäre bewegte, war es von eine Hülle ionisierter Luft umgeben, die keinen Funkkontakt zuließ. 
     Blitzartig schoß John Gant durch den Kopf, was er im Ausbildungszentrum der NASA gelernt hatte: Die Gravitation, die Schwerkraft des Mars, beträgt nur wenig mehr als ein Drittel der irdischen. Und nun rasten sie, angezogen von einer mächtigen Gravitation, der Oberfläche des vierten Planeten entgegen, um auf ihr zu zerschellen. (S. 7-10)


So steigt Peter Dubinas Jugendbuch "Die Geister des Mars", erschienen als erster von vier Bänden in der Reihe "Weltraumabenteuer" des Boje-Verlags - und, nebenbei, der erste Science-Fiction-Roman, den der Endunterfertigte je gelesen hat -  in die Handlung ein. Und dies ist die Meldung aus dem Realen Leben des Jahres 2016:

Die Europäische Weltraumagentur Esa veröffentlichte am Freitagabend zwei Bilder von der Landestelle von "Schiaparelli". Sie liegt im Gebiet Meridiani Planum unweit des Mars-Äquators. Ein Foto vom Mai dieses Jahres zeigt die - bis auf einen einzigen Krater - weitgehend leere Ebene, die die Verantwortlichen genau deswegen für den Landeroboter der Mission "ExoMars" ausgewählt hatten: Weil "Schiaparelli" hier beim geplanten weichen Aufsetzen kaum mit Hindernissen am Boden rechnen musste - und sie auf ein erfolgreiches Ende der Mission hoffen konnten. Doch bekanntlich kam es anders: Die Bremstriebwerke schalteten sich viel zu früh ab, die Sonde schlug mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit auf - und meldete sich nicht mehr.

Irgendwo dort ist "Schiaparelli" eingeschlagen - nach Schätzungen der Fachleute mit einer Geschwindigkeit von mehr als 300 Kilometern pro Stunde. Bei der Esa geht man derzeit davon aus, dass das Modul nach dem vorzeitigen Abschalten der Landetriebwerke aus einer Höhe von zwei bis vier Kilometern ungebremst in den Boden gekracht ist. 

Das "MRO"-Bild der Absturzstelle lässt freilich noch Interpretationsspielraum. Es ist möglich, dass an der Stelle des dunklen Flecks Bodenmaterial aufgewirbelt wurde und ein Krater entstanden ist. Es könnte aber auch sein, dass "Schiaparelli" mit noch weitgehend vollen Treibstofftanks beim Aufprall explodiert ist. (Spiegel Online v. 22. 10. 2016) 




b.
Der galaktische Ghul, dessen letztes Opfer die Landesonde des europäischen Raumsondenprojekts ExoMars geworden ist, hat die Missionen zum roten Planeten scheitern lassen, seit sich die Erdlinge angemaßt haben, mit Kameras und Spionage dessen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen - seit den beiden ersten vergeblichen Startversuchen der Sowjetunion von der Rampe 5 in Baikonur im Oktober 1960. Die Entdeckung seines unheilvollen Treibens verdankt die Welt der Erkenntnis des NASA-Ingenieurs John Casani (*1932) einige Jahre später. Der Economist hat daran vor einigen Jahren erinnert:

In 1964 a light-hearted exchange between a journalist and John Casani, a NASA scientist, spawned the idea of a "Great Galactic Ghoul", a malevolent creature that prowls the space-lanes between Earth and Mars, dining on unfortunate spacecraft. (14. November 2011)
(1964 zeugte ein Witz zwischen einem Journalisten und einem Wissenschaftler der NASA, J.G., die Vorstellung des Großen Galaktischen Ghuls,, eines bösartigen Wesens, das den Weltraum zwischen Erde und Mars unsicher macht und sich von unvorsichtigen Raumsonden ernährt.)
   
Erik M. Conway's Exploration and Engineering: The Jet Propulsion Laboratory and the Quest for Mars (Johns Hopkins University Press, 2015), enthält als Kapitel 3, S. 73-97: "Attack of the Great Galactic Ghoul":

In JPL lore, there is a legendary beast that lurks between the orbits of Earth and Mars. Known as the Great Galactic Ghoul, it is the product of the imagination of an engineer named John Casani who had been lead designer of JPL’s early Mariner planetary spacecraft. One day in 1965, Casani had been doing an interview with a reporter. Asked why a great many Soviet spacecraft were failing to reach Mars, Casani made up the Ghoul as a joke. A few years later, the Ghoul’s legend was cemented when a JPL spacecraft bound to Mars named Mariner 7 suddenly went silent, close on the heels of still another disappeared Soviet spacecraft. Casani revived the Ghoul story, and a colleague painted the Ghoul’s portrait (dining happily on Mariner 7) and presented it to Casani. Mariner 7 eventually reappeared and completed its mission. It had been, temporarily, victim of a battery failure. But on August 21, 1993, the Ghoul ate Mars Observer, and no one ever heard from it again. (Zitat von Conway, S. 73)
(Gemäß der Flurklore des Jet Propulson Laboratory haust ein Fabelwesen zwischen den Umlaufbahnen von Erde und Mars. Bekannt als GGG, ist es der Phantasie eines Ingenieurs namens J.C. entsprungen, der die ersten Mariner-Marssonden des JPL entworfen hatte. Bei einem Interview war Casani 1965 gefragt worden, warum so viele russische Raumsonden am Mars scheiterten, führte er den Ghul als Grund an. Ein paar Jahre später [i.e. 1969] fand die Legende Bestätigung, als kurz nach einer weiteren sowjetischen Raumsonde die Mariner 7 des JPL verstummte. Casani grub die Story aus, und ein Kollege konterfeite den Dämon, während er sich Mariner 7 schmecken ließ., und schenkte Casani das Porträt. Nach einer Weile meldet sich Mariner 7 zurück und führte seine Mission aus; es hatte sich um einen kurzfristigen Batterieausfall gehandelt. Aber dann fiel am 21. August 1993 der Mars Observer dem Opfer des Dämons zum Opfer.) (Aus philologischer Chronistenpflicht sei festgehalten, daß sich die erste schriftliche Erwähnung des Dämons in der Washington Post vom 6. August 1971. S.8 {Abigail Brett, "Galactic Ghoul Ticks Off Lunar TV"], findet, während Thomas O`Toole, jener oben erwähnte Reporter, seine Fassung erst in der gleichen Zeitung vom 25. Januar 1976 publiziert hat.)

Zur Gewißheit wurde die Existenz dieses kosmischen Klabautermanns durch den Umstand, daß andere Sondenmissionen - zum Mond, zu den inneren Planeten Merkur und Venus oder zu den Gasriesen und Asteroiden der äußeren Bezirke - umstandslos über die Bühne gehen, mit einer Erfolgsquote von 100 Prozent. Dabei fällt auf, daß sowjetische (später: russische) Satelliten es ihm besonders angetan zu haben scheinen. Zur Erinnerung ein wenig Statistik: Seit jenen ersten russischen Versuchen, bei denen die Raketen nicht die Erdumlaufbahn erreichten, gab es bislang 44 Versuche - davon 21 russische, von denen nur der aktuellen Unternehmung der ESA - sie wird mitgezählt, weil die Raumfahrtbehörde Roskosmos die Tägerrakete zur Verfügung stellte - mit dem ExoMars Trace Gas Orbiter ein erster Erfolg beschieden worden ist. Die einzigen Sonden, die ihr Ziel ereichten, Mars 2 und Mars 3, haben 1971 nach dem Einschwenken in die Umlaufbahn drei Monate lang einen den gesamten Planeten völlig verhüllenden Staubsturm im zeitgemäßen Safrangelb der Sannyasins aufgenommen, weil ihre Automatikprogrammierung keine Flexibilität zuließ. Die zeitgleich auf den Weg gebrachte amerikanische Sonde Mariner 9 hat nach dem Aufwecken aus dem Winterschlaf die ersten Bilder der vier größten Vulkane des Sonnensystems nach Hause gefunkt: der drei Tharsis-Vulkane Ascraeus Mons, Pavonis Mons, Arsia Mons und des Olympus Mons, der sich seiner Höhe von 27 Kilometern weit über die dünne Marsatmosphäre hinausreicht. Von den insgesamt 20 amerikanischen Missionen waren vierzehn erfolgreich. Der erste Besucher aus Europa, Mars Express, ist seit 2004 auf Posten (wenngleich der damals mitgeführte Lander Beagle 2 ebenfalls den Fluch des Ghuls zu spüren bekam, nachdem sich seine Solarzellenpaneele nach der weichen Landung aus ausfalteten); die japanische Yozomi-Sonde ging 1998 verloren; die chinesische Yinghuo-1 2011; der indische Orbiter Mangalayaan versieht seit September 2014 seinen Wachdienst.




c.
Völlig ungeklärt ist bislang die dringende Frage, ob sich die Gemeinsamkeit zwischen dem Ghul und der "Russellschen Teekanne" auf das gemeinsame Habitat zwischen Erd- und Marsbahn beschränkt oder ob zwischen ihnen eine geheime ontologische Verbindung, ja eine genealogische Abhängigkeit vermutet werden darf. Dieses kosmische Geschirrstück - der Anklang zu jenen Untertassen, die dem kosmischen Dämon mitunter zu Stippvisiten beim Nachbarplaneten Sol III entfliegen (oder entflogen; denn seit dem Wirken der FBI-Agenten Scott Mulder and Dana Scully in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts scheinen sich diese Besucher rar zu machen), ist dabei intendiert - geht zurück auf eine Überlegung des englischen Philosophen Bertrand Russell (im Englischen gibt es für dergleichen die Vokabel "gedankenexperiment") aus dem Jahr 1952. In den Worten der Wikipedia

„Wenn ich behaupten würde, dass es zwischen Erde und Mars eine Teekanne aus Porzellan gäbe, welche auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreise, so würde niemand meine Behauptung widerlegen können, vorausgesetzt, ich würde vorsichtshalber hinzufügen, dass diese Kanne zu klein sei, um selbst von unseren leistungsfähigsten Teleskopen entdeckt werden zu können. Aber wenn ich nun zudem auf dem Standpunkt beharrte, meine unwiderlegbare Behauptung zu bezweifeln sei eine unerträgliche Anmaßung menschlicher Vernunft, dann könnte man zu Recht meinen, ich würde Unsinn erzählen. Wenn jedoch in antiken Büchern die Existenz einer solchen Teekanne bekräftigt würde, dies jeden Sonntag als heilige Wahrheit gelehrt und in die Köpfe der Kinder in der Schule eingeimpft würde, dann würde das Anzweifeln ihrer Existenz zu einem Zeichen von Exzentrik werden. Es würde dem Zweifler in einem aufgeklärten Zeitalter die Aufmerksamkeit eines Psychiaters einbringen oder die eines Inquisitors in früherer Zeit.“ (Bertrand Russell, "Is There a God?", 1952) Zu der evident existenten Nachkommenschaft solcher nichtnachweisbarer, nichtfalsifizierbarer Wesenheiten gehört unter anderem das von den Nudelsiebträgern des Pastafarianismus angerufene Fliegende Spaghettimonster. So hat uns WIRED vor zehn Jahren zur Hochzeit der "Neuen Atheisten" wie Christopher Hitchens und Richard Dawkins an diese Verwandtschaft erinnert: " For instance, the Flying Spaghetti Monster is a variant of the tiny orbiting teapot used by Bertrand Russell for similar rhetorical duty back in 1952." ("The Church of the Non-Believers", 1. November 2006)

d.
Hübsch - und zum Thema "Spuk auf dem roten Planeten" überaus passend - ist vor allem die Benennung des Havaristen. Während sich der ExoMars Trace Gas Orbiter mit seinem bürokratischen Namenskürzel TGO begnügen muß, verweist der Name "Schiaparelli" auf den italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli, der vor 139 Jahren, während der Opposition des Mars von 1877, zum Entdecker der "Marskanäle" wurde. Schiaparelli, der von 1862 bis 1900 Direktor der Sternwarte von Brera in Mailand war, waren während der damaligen Annäherung des Roten Planeten bei der Beobachtung feine Linien ins Auge gefallen, die die dunklen Gebiete auf seiner Oberfläche miteinander zu verbinden schienen. Schiaparelli gehörte zur ersten Astronomengeneration, die von den von Fraunhofer entwickelten Kompositlinsen profitierte, die aus Glassorten mit unterschiedlichem Brechungsgrad bestanden und große Okularlinsen ermöglichten, die bei hoher Auflösung das Beobachtete nicht zu farbigen Schlieren verschmierten. (Bei der Marsopposition von 1877 entdeckte auf der anderen Seite des Atlantiks der amerikanische Astronom Asaph Hall die beiden Marsmonde, Deimos und Phobos, benannt nach den Begleitern des antiken Kriegsgottes: Furcht und Schrecken.) Seit den Beobachtungen von Beer und Mädler 30 Jahre zuvor galten die jahreszeitlichen Farbveränderungen der dunklen Flecke als möglicher Hinweis auf Vegetation; die Rotation und das Wachsen und Schrumpfen der Eiskappen bestätigten den Gedanken an eine erdähnliche Welt - ein Gedanke, der seit der Kopernikanischen Revolution nur noch einen Analogieschluß darstellte und sich im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts, nicht zuletzt durch die Übersetzungen von Bernard le Bouvier de Fontenelle "Gesprächen über die Vielzahl der bewohnten Welten" (Entretiens sur la pluralité des mondes habitables) von 1688 zum Allgemeinplatz der Aufklärung geworden war. Allerdings sind die Überlegungen, ja die Überzeugung eines von einer unendlichen Anzahl von Vernunftwesen besiedelten Weltalls durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch bis in die 1830er Jahre, prinzipiell religiös unterfüttert und motiviert: es ziemt sich für einen allmächtigen und allgütigen Schöpfer aus dieser Perspektive nicht, Millionen von Sonnen (samt den sie, gemäß diesem Analogieschluß, begleitenden Planeten), zu schaffen, die nichts als tote Materie sind. Für die Generation von Hall und Schiaparelli ist diese "Astrotheologie" durch den Evolutionsgedanken abgelöst, der im Gefolge von Charles Darwins "On the Origin of Species" von 1859 eine Entwicklung von Leben unter günstigen Bedingungen und dessen Höherentwicklung ohne das Eingreifen einer transzendentalen, lenkenden Instanz denkbar macht. Die jetzt sichtbar werdenden Details machen diese "günstigen Bedingungen" zu einer Gewißheit. Die Fernrohre richten sich allerdings - daran hat sich bis heute nichts geändert - nur alle zwei Jahre für einen Zeitraum von gut sechs Wochen auf den Nachbarplaneten, wenn dessen lachsfarbenes Scheibchen bei seiner Annäherung von gut 55 Millionen Kilometern einen Durchmesser erreicht, der dem des markantesten Mondkraters, Tycho, entspricht.

Zum Evolutionskonzept kommt ein zweites: nach der Nebularhypothese von Simon de Laplace aus der Mitte des 18. Jahrhunderts verdankt sich das Sonnensystem dem Kontraktionsprozeß einer gewaltigen Gaswolke (diese Hypothese, bei uns nach dem gleichzeitigen Mit-Erdenker als Kant-Laplacesches Modell bekannt, darf als in den Grundzügen bis heute geltend gedacht werden; wenn auch die Details natürlich völlig andere geworden sind). Nach der Aufheizung durch das Zusammenfallen  unter der eigenen Schwerkraft kühlen sich die so entstandenen Himmelskörper über den Zeitraum von Äonen ab, wobei die äußeren Planeten den inneren vorausgehen. Der Mars erscheint jetzt als eine "sterbende" Welt: ein Wüstenplanet, der nur noch Reste seiner Wasservorräte vor der Verdunstung bewahrt hat und der Erde ihr zukünftiges Schicksal vor Augen führt. Die Entdeckung vermeintlicher Verbindungslinien auf einer Welt, die länger als die Erde Gelegenheit gehabt hat, vernunftbegabte Lebensformen hervorzubringen, hat sich (bis die Stippvisiten nichtgefrühstückter Späher das Gegenteil erwiesen), nicht so sehr in den von Natur (sit venia verbo) astronomischen Fachkreisen, aber für die Zeitungen und die Öffentlichkeit als unwiderstehlich. Wie beim oben erwähnten Evolutiongedanken hat es auch hier einen zweiten, verstärkenden Faktor. Im Fall der Marskanäle war es die Beobachtung, daß sich von Opposition zu Opposition viele der Kanäle zu verdoppeln schienen. Schiaparelli selbst hat sich nach der Bekanntgabe seiner Entdeckungen aus den Spekulationen über die Natur der von ihm entdeckten Linien herausgehalten: der von ihm verwendete Terminus canali kann auch auf natürliche Phänomene - wie etwa beim Ärmelkanal - Anwendung finden:

"Die Kontinente werden auf diesem Planeten von großen dunklen Linien durchquert, denen man den Namen Kanäle beilegen kann, auch wenn wir noch nicht wissen, worum es sich handelt. Während der letzten drei Oppositionen [i.e. 1877, 1879, 1881/82] habe ich eine beträchtliche Zahl gefunden, die man auf mindestens sechzig schätzen kann. Diese Linien verlaufen zwischen den dunklen Flecken, die wir für Meere halten, und sie bilden auf den hellen Flecken oder Kontinenten ein deutlich umrissenes Geflecht- Im allgemeinen beschreiben sie einen großen Bogen auf der Marskugel. Auch schneiden sie sich, teils schräg, teils rechtwinklig. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge wäre es verfrüht, Mutmaßungen über die Beschaffenheit dieser Kanäle anzustellen." (Giovanni Virginio Schiaparelli, "Über die beobachteten Erscheinungen auf der Oberfläche des Planeten Mars", Himmel und Erde, 1 [1888], 1-17, 85-102, 147-159; hier S. 2)

Zu den großen Popularisierern von der Vision einer sterbenden Welt, deren Bewohner das Wasser der Polkappen durch gewaltige Kanäle zu ihren Städten am noch an wenigsten unwirtlichen Äquator lenken, gehörte neben dem bekanntesten Populärastronomen Europas, Camille Flammarion der Amerikaner Percival Lovell, dessen Schrift Mars as the Abode of Life von 1895 für zwei Lesergenerationen das Bild des Roten Planeten prägte und der sein reiches Erbteil dazu verwendete, in der Wüste Arizonas, im gottverlassenen Bergbaustädtchen Flagstaff, ungestört von Wolken, eines der größten Privatobservatorien seiner Zeit zu errichten. Astronomische Fachkollegen waren freilich auch zu Hochzeiten der Marskultur in aller Regel eher skeptisch angefressen. Unter anderem der englische Astronom Edward Maunder (nach dem das vom ihm in alten Sonnenbeobachtungen entdeckte Maunder-Minimum benannt ist; das fast völlige Verschwinden der Sonnenflecken, das, ein netter Zufall, genau deckungsgleich mit der Regierungszeit des roi soleil, Ludwig XIV., zusammenfällt): Maunder ließ sich von der Überzeugung des französisch-italienischen Kollegen E. M.Antoniadi anstecken, es könne sich bei den Kanälen  um optische Illusionen handeln, zumal die immer detaillierteren Karten aus Flagstaff (Lovell und sein Assistent Lampland hatten bis 1910 mehr als 600 Kanäle kartographiert) in der Version anderer Beobachter stets andersartig ausfielen. Maunder hat damals englische Schulklassen kupferne Pennies, von Kerzenlicht beleuchtet, aus einer Entfernung von mehreren Metern zeichnen lassen, die den gleichen optischen Durchmesser zeigten wie die Planetenscheibchen im Teleskop - und auf zahlreichen Skizzen tauchten Punkt- und Strichlinien auf, die die dunklen Partien zu verbinden schienen. Lovells Gegenargument lautete, daß es jahrelanger Einübung bedürfe, um überhaupt etwas zu erkennen und um Abgleiche mit früheren Beobachtungen durchführen zu können (Maunder hat Lovell recht ungnädig eine "faith-directed vision" bescheinigt). Der Direktor der Treptower Sternwarte - deren "großes Fernrohr" von 1896, im Freien stehend, mit einem Okulardurchmesser von 27 Zoll und einer Tubuslänge von 30 Metern, immer noch so etwas wie ein Berliner Kennzeichen sein dürfte, Ferdinand Archenhold, und so etwas wie der Heinz Haber seiner Zeit,  des öfteren den Berliner Pressefritzens bei't Intervju erklärt, sein Fernrohr sei viel zu groß, um überhaupt Kanäle auf dem Mars zeigen zu können.



e.
Für die Schriftsteller jener Gattung, die später einmal mit dem Namen "Science Fiction" belegt werden würde, war Lovells Vision eine Göttergabe. Dieser Mars der Phantasie, der Projektion, vereinte gleich vier der Sehnsuchtstopoi der in die Ferne schweifenden Abenteuerliteratur auf sich: die Unwirtlichkeit der lebensfeindlichen Wüste, an der sich die männlichen Helden gegenüber den Zwang der Elemente beweisen mußten; den Pioniergeist einer zu erschließenden Welt für Siedler, die bereits waren, die Brücken hinter sich abzubrechen und unter primitiven Bedingungen neuen Lebensraum zu erschließen wie im amerikanischen Westen oder den Einöden des australischen Outbacks; und in vielen Erzählungen der Exotismus des "geheimnisvollen Orients" mit mystischen Ureinwohnern, Karawanen und Ruinen, die von einer seit undenkbaren Äonen verschollenen Vergangenheit zeugten. Auf der anderen Seite bot das Unbekannte, Ungesehene, Bedrohliche sich als Projektionsfläche für das Nachaußenkehren tiefsitzender Urängste an - und als kritische Beleuchtung all jener Facetten der eigenen Zivilisation, deren Schattenseiten hier auf den Punkt gebracht und ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse wie in einem Brennspiegel "zur Klarheit entstellt" werden konnten. Die beiden großen Marsromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zeitgleich 1897 publiziert, Kurd Laßwitz`Auf zwei Planeten und H. G. Wells' The War of the Worlds, bedienen sich dieser Strategie. Bei Laßwitz sind es die nach Kantschen Idealen geschilderten Nume, die sich wider Willen und innere Überzeugung dazu bringen lassen, die Erde zu ihrer Kolonie zu machen, um den Verheerungen von Krieg und Kolonialismus - und der Umweltvernichtung der galoppierenden industriellen Revolution - ein Ende zu setzen. Bei Wells' ungleich effektiverer Vision des Kriegs der Welten spiegelt die Vernichtung der Menschheit durch die tentakelbewehrten, oktopusbeschnäbelten Zukunftswesen die ultimate Form des sozialdarwinistischen Lebenskamps, des struggle for existence.  (Diese Facette, die die Perspektiven des darwinistischen Sicht ins unmittelbar Albtraumhafte kippen läßt, grundiert alle frühen Scientific Romances von Wells, von der Zeitmaschine über die Insel des Dr. Moreau bis hin zu den Seleniten der First Men in the Moon. C. S. Lewis' Vorwurf an Wells war - neben dessen aggressiven Atheismus - er habe die Vorstellung der Zukunft in der Phantasie der Leser mit "Albträumen des Fleisches" - nightmares of the flesh - vergiftet.)



f.
Als kleine philologische Fußnote sei kurz angemerkt, daß sich die albtraumhafteste Facette der Wells'schen Invasion einem speziellen und in diesem Fall explizit literarischen Anstoß verdankt. Vor der Publikation in Buchform durch den englischen Verlag William Heinemann 1898 wurde der Text in neun monatlichen Fortsetzungen in der Zeitschrift Pearson's Magazine vorabgedruckt. Die Kapitel, die in der Augustnummer erschienen, schildern die Flucht des Erzählers aus seinem von den mechanischen dreibeinigen Kampfmaschinen der Marsianer durch Hitzestrahlen verheerten Heimatdorf Woking in der Hoffnung, in London Zuflucht finden zu können. (Die Schilderungen der vernichteten Straßen und Häuser kann einem ungewarnten heutigen  Leser einen heftigen Schrecken versetzen: es handelt sich um die damals völlig ungeahnte Schilderung der Auswirkungen eines Luftangriffes mit Bomben, die uns seit dem zweiten Weltkrieg vertraut sind, dessen exakte Details, Jahrzehnte vor ihrer Wirklichwerdung, ein ungläubiges déjà vu nach sich ziehen können.) Der Erzähler sucht vor den die Straßen absuchenden Dreibeinern Zuflucht im Keller eines halb niedergebrannten Hauses und wird Zeuge, wie ein halbes Dutzend Maschinen andere Überlebende im Hof einpferchen und nicht entkommen lassen. Danach werden diese Opfer, eins nach dem anderen, von den mechanischen Greifarmen gepackt, hochgehoben, ein mechanischer Saugrüssel sticht in die Leiber und saugt mit einem "entsetzlichen Schlürfen" das gesamte Blut aus dem zuckenden Körper, die als leergesaugte Hülle weggeworfen werden (die Tatsache, daß der Erzähler dies nicht sehen kann, sondern nur zu hören bekommt, erhöht die Schreckenswirkung der Szene ungemein). Die Spekulation des Erzählers geht dahin, daß die Evolution der Marswesen über die Jahrmillionen dazu geführt hat, daß sie ihren Verdauungsapparat eingebüßt haben, daß sie Nährstoffe direkt aufnehmen. (Hier greift Wells auf seine erste Spekulation zur Zukunft der Menschheit aus dem Jahr 1893 zurück, in dem er den "Menschen des Jahrs Eine Million / The Man of the Year 1,000,000" als gliederloses Riesengehirn ausmalte, das sein Leben unbeweglich in einer Wanne voller Nährlösung in lichtlosen Kavernen zubringt.)  Diese Szene bleibt isoliert, ohne weiteres Aufgreifen und ohne den Text im weiteren Fortgang zu beeinflussen; eine Illustration des unmenschlichen Schreckens, der über die wehrlose Menschheit hereingebrochen ist (die, wie bekannt, ihre letztliche Rettung nicht dem eigenen Tun, sondern der Wirkung der irdischen Bakterien verdankt, gegen die die Marsianer keine Abwehrkräfte besitzen - auch dies eine Reminiszenz durch die Kolonieserung der Welt - in diesem Fall Amerikas - durch die Europäer). Sie liest sich, genau gesagt, wie ein Einschub von wenigen hundert Worten, die der Autor den Korrekturfahnen direkt vor dem Abdruck hinzugefügt hat. Nun ist aber jener Text, der den Topos jener Wesen, die sich direkt vom Blut ernähren - und in dem all die Facetten, die wir seitdem mit der Figur des literarischen Vampirs verbinden, überhaupt erst formuliert worden sind, punktgenau zu jener Zeit erschienen: Bram Stokers Dracula: or, The Un-Dead, im Mai 1897 beim englischen Verlag Archibald Constable und durchaus so etwas wie eine literarische Sensation, deren grelle Schockvisionen und unverstellte Evozierung des maximalen Schreckens weit über das gemeinhin zu jener Zeit Gebotene hinausgingen. Daß der siebenbürgische Graf selbst sein Tun, seine Herrschaft über die gemeine Menschheit, in Termini des Sozialdarwinismus, des Rechts der Vernichtung seiner bloßen Nahrung durch den Stärkeren, begründet, tut ein Übriges.

Der Anlaß für die Ausmalung des Beginns der marsianischen Invasion verdankt sich, nun wieder in den Bereich der praktisch-faktischen Beobachtungen rückgewendet, einer kleinen Meldung in der Presse; in diesem Fall einem Bericht im damals wie heute führenden Wissenschaftsmagazine Nature, in dem am 21. August 1894 über helle Lichtblitze berichtet worden war, die während der damaligen Opposition des Mars von mehreren Beobachtern registriert worden waren. Die damaligen Spekulationen führten das Phämonen auf Lichtreflektionen an Wolken oder an Schnee- oder Dunstkondensationen an mutmaßlichen Berghängen zurück (da aus heutiger Sicht einige der Positionen in etwa mit den Koordinaten der großen Marsvulkane übereinstimmen, könnte dies sogar zutreffen.) Wells nimmt diese Meldung als Startpunkt, deutet sie aber als das Abfeuern der gigantischen Kanone, die seine Marsbewohner - durch Jules Vernes Vorbild in De la terre à la lune von 1865 angeregt - als einzige halbwegs realistisch anmutende Möglichkeit kennen, um Projektile auf die Fahrt zwischen den Welten beschleunigen zu können. In der bibliophilen Ausgabe der französischen Übersetzung des Textes, La guerre des mondes, die 1906 in Brüssel in einer Auflage von 500 Exemplaren veröffentlicht wurde, und die die einzige geblieben ist, deren Illustrationen den elementaren Schauder des Textes in seinen Illustrationen virtuos transportiert, hat der Zeichner Henrique Alvim Corrêa die Erwähnung des marsianischen Vampirismus zum Anlaß genommen, um neben dem Mündungsblitz der verne'schen Kanone eine Horde von Marsfledermäusen zu zeigen, die zur Erde ausschwärmen. (Die Schreibung des Patronyms des Künstlers verdankt sich seiner brasilianischen Herkunft; das Buch blieb seine einzige Produktion, bevor er vier Jahre später mit 34 an Tuberkulose starb.)



g.
Die vampirische Natur der Marsbewohner hat eine weitere Spur gelegt. Sie findet sich in Gustave le Rouges Roman Le prisonnier de la planéte Mars von 1908 und seiner Fortsetzung La guerre des vampires aus dem folgenden Jahr. Die Wirkung des Abenteuergarns ist für nachfolgende Lesergenerationen hchst eingeschränkt, weil der Verfasser zur Ingangsetzung seiner Nachtmahrvision auf Elemente okkultistisch eingefärbter Versatzstücke aus dem Fundus der Sensationsliteratur zurückgreift, die im Zuge des Aufkommens der Séancen und des Salonspuks seit den 1870er Jahren zu sehr ins Läcgerliche abgedriftet waren. So verwendet der Marsgefangene zwar eine Raumkapsel nach dem Vorbild der Verne- und Wells-schen Erkunder, aber ihre Bewegungsenergie bezieht diese aus der gebündelten Geisteskraft von tausenden indischer Fakire, die den Zeugen, der ihrer antikolonialen Verschwörung auf die Schliche gekommen ist, unschädlich machen wollen. (Brahma-sei-Dank verbietet ihnen ihr Respekt vor dem Leben, ihm physischen Schaden zuzufügen.) Die Vision eines Mars, dessen humanoide, aber primitive Bewohner des Nachts unablässig den dämonischen Scharen der geflügelten Monstren zum Opfer ausgeliefert sind, die wiederum willenlose Sklaven im hypnotischen Bann eines gewaltigen, bewegungslosen Riesengehirns sind, das sich seinerseits vampirisch von ihnen ernährt, verdankt sich, scheint es, in gleichem Maß dem Verhältnis von Morlocks und Eloi in Wells "Zeitmaschine" wie seinen marsianischen Invasoren.





Die erste Kontaktaufnahme der Bewohner des Roten Planeten in den Annalen der Literaturgeschichte datiert zurück auf das Jahr 1865.  In Henri du Parvilles "Un habitant de planéte Mars" wird die Auffindung eines Meteors geschildert, in dem sich die mumifizierten Überreste eines Marsbewohners finden, praktischerweise mit ausführlichen Aufzeichnungen (deren Dechiffrierung des Großteil des Textes einnimmt) seiner Kultur und ihrer Geschichte: Grabbeigaben (hier zeigt sich das Herkommen dieser Ideen aus der Atmosphäre der seinerzeitigen Einstellung und den Erwartungen an die Archäologie). Auch hier nimmt die Zukunftsliteratur, höchst angemessen, die sogenannte Wirklichkeit vorweg: fast genau einhundert Jahre nach Parville fand auf dem Rasen vor dem Weißen Haus (genau dort, wo ein alter Witz den Kleinen Grünen Männchen mit er Forderung "take me to your leader!" einen Landeplatz zuweist) am 9. August 1996 auf einer Pressekonferenz im Beisein vom Präsident Bill Clinton bekannt gegeben, in dem 1984 in den Allan Hills der Antarktis gefundenen und vom Mars stammenden Meteoriten ALH84001 seien fossile Überreste marsianischer Lebensformen gefunden worden. Daß sich diese Ankündigung als übereilt herausstellte, tut der poetischen Gerechtigkeit nichts; vielmehr würde es im Gegenteil einen üblen Traditionsbruch darstellen, wenn sich diesmal - anders als bei den voraufgegangenen "Funden" fossiler Lebensspuren in Meteoren, wie in den Jahren 1880 und 1962 - die Meldung als zutreffend erwiesen hätte.



h.



Lovells oben erwähnter Assistent Lampland: Carl Otto Lampland (1873-1951), ein amerikanischer Astronom norwegischer Abstammung, der seit 1902 am Flagstaff-Observatorium auf dem Mars Hill tätig war und viel Arbeit und Ingenium darauf verwendete, Kameras zu entwickeln, um Lovells Sichtungen photographisch nachweisen zu können. Lovell hat ab dem Abschuß der Beobachtungen zur Opposition von 1907/08 die Behauptung aufgestellt, es sei ihnen gelungen, die Kanäle des Mars zu photographieren; Bei den Bildern, die in der Folgen in manchen Veröffentlichungen reproduziert wurden; etwa in Bruno H. Bürgels "volkstümlicher Himmelskunde" Aus fernen Welten von 1920, handelt es sich um retuschierte Bilder; auf den knapp vier Millimeter durchmessenden Aufnahmen Lamplands sind nur die größten Schattieungen der Marstopographie schemenhaft erkennbar. Lampland nun ist seinerseits zu literarischen Ehren gelangt. In der Erzählung "Der Marsspion" des Berliner Schriftstellers Carl Grunert (1865-1918), 1908 als Titelgeschichte seines vierten Bändchens von "Zukunftsgeschichten" zwischen 1903 und 1908 erschienen, erweist sich der neue Assistent, den Lovell und Lampland angeheuert haben, als ausgesprochen zweifelhafte Erscheinung:

Auf der Sternwarte in Flagstaff in Arizona. –
»Hier ist eine unserer gestrigen Marsphotographieen,« sagte Mr. Lampland, einer der Assistenten, trat aus der Dunkelkammer hervor und zeigte Mr. Lowell, dem Leiter der Sternwarte, eine eben entwickelte Platte.
»Die erste oder die zweite?« fragte Mr. Lowell, die noch nasse Glasplatte vorsichtig an den Rändern fassend und gegen das Licht haltend.
»Die erste. – Mit der zweiten wird unser neuer Photograph aber auch bald fertig sein; sie liegt schon im Fixierbad –«
»Er scheint seine Kunst zu verstehen, meinen Sie nicht auch, Mr. Lampland?«
»Ich denke doch. An sein seltsames Wesen wird man sich gewöhnen, um so schneller, je besser seine Leistungen sind –«
....
Der Assistent kehrte in die Dunkelkammer zurück, hier arbeitete beim schwachen Scheine des roten Lichts der seit gestern neuangestellte Photograph, Mr. Ferrum.
Es war eine ungemein zierliche, fast knabenhafte Gestalt. Jetzt, im roten Dämmerlicht, erschien sein Gesicht seltsam alt, die Haut pergamentartig und wie durchscheinend, so daß man das Netz der Adern unter ihr deutlich zu sehen meinte. Eine breite, schwarze Binde, die den oberen Teil der Stirn bedeckte, vollendete den abstoßenden Eindruck des Mannes.

Mr. "Ferrum" hat, wie sich herausstellt, gute Gründe, das Unternehmen Marsphotographie zu sabotieren:

In dem Flammenblitz der gewaltigen Explosion aber erschien einen Moment das fleischlose, fahle, jetzt von einem triumphierenden Lachen verzerrte Gesicht – Mr. Ferrums!
Und dieses Gesicht zeigte, von keiner schwarzen Stirnbinde mehr bedeckt, ein auf Erden nie geschautes Phänomen: es besaß – drei Augen, zwei, wie andere Menschenaugen, und das dritte, ein Scheitelauge, mitten auf der Stirn! Und jetzt, da tiefes Dunkel wieder den großen Raum erfüllte, leuchtete das dritte Auge in grünem Phosphoreszenzlichte.
Was war das für ein grauenhaft-rätselvolles Wesen?
...
Mr. Lowell nickte und sagte ernst: »Noch bleibt mir manches von dem Geschehenen ein Rätsel; aber das Rätsel des »wandernden Flecks« ist gelöst: der verräterische Schatten zeigt mir die ins Ungeheure verzerrten Konturen eines – Riesenflugschiffes, das sich unausgesetzt einem Ziele nähert: unserer Erde!« ("Der Marsspion")

i.




Die letzte Sichtung eines Marsgespenstes findet sich auf einem Photo, das Anfang August des letzten Jahres vom amerikanischen Rover Curiosity übermittelt wurde, der seit 2012 langsam die Ebene Aeolis Palus in Sichtweite des fünf Kilometer hohen Vulkans Aeolus Mons gleich südlich des Marsäquators erkundet.
Das Bild findet sich unter der Adresse http://mars.jpl.nasa.gov/msl-raw-images/msss/01001/mcam/1001ML0044610000305331D01_DXXX.jpg;  die Position des Rovers am 16. August 2015 (Sol 957) wird durch den grünen Stern markiert:



Skeptisch angefressene Naturen behaupten zwar seitdem, es handele sich hier um das Phänomen, das Physiologen als  "Pareidolie" bekannt ist: um die evolutiv ausgeprägte Neigung des Gehirns, aus unvollständigen und potenziell verdächtigen Mustern bekannte, vertraute Formen herauszulesen und hiebei auch zu vorschnellen Schlüssen zu gelangen, die sich, wenn sie sich einmal als Erkennungsmuster eingeprägt haben, nicht mehr "wegzusehen" sind. Aber solchen Zweiflern sei ins Gedächtnis gerufen, was Ernst Bloch schon 1935 in seinem Aufsatz "Technik und Geistererscheinungen" erkannt hat: ein zünftiges Gespenst läßt sich auch vom Fortschritt der Technik nicht ins Bockshorn jagen.





j.
Um bei Nature zu bleiben: hier findet sich, auf den 25. Oktober 2016 datiert, folgende abschließende Meldung:

Schiaparelli sent data to its mother ship during its descent. Preliminary analysis suggests that the lander began the manoeuvre flawlessly, braking against the planet’s atmosphere and deploying its parachute. But at 4 minutes and 41 seconds into an almost 6-minute fall, something went wrong. The lander’s heat shield and parachute ejected ahead of time, says Vago. Then thrusters, designed to decelerate the craft for 30 seconds until it was metres off the ground, engaged for only around 3 seconds before they were commanded to switch off, because the lander's computer thought it was on the ground.

The lander even switched on its suite of instruments, ready to record Mars’s weather and electrical field, although they did not collect data. “My guess is that at that point we were still too high. And the most likely scenario is that, from then, we just dropped to the surface,” says Vago.

The craft probably fell from a height of between 2 and 4 kilometres before slamming into the ground at more than 300 kilometres per hour, according to estimates based on images of the probe’s likely crash site, taken by NASA’s Mars Reconnaissance Orbiter on 20 October.

The most likely culprit is a flaw in the craft’s software or a problem in merging the data coming from different sensors, which may have led the craft to believe it was lower in altitude than it really was, says Andrea Accomazzo, ESA’s head of solar and planetary missions. Accomazzo says that this is a hunch; he is reluctant to diagnose the fault before a full post-mortem has been carried out.
...
But software glitches should be easier to fix than a fundamental problem with the landing hardware, which ESA scientists say seems to have passed its test with flying colours. ("Computing glitch may have doomed Mars lander")

k.
Um aber im jahreszeitlich angesagten Bereich des Spuks und der Geistererscheinungen zu bleiben: Wissen Sie übrigens, daß es seit einigen Monaten, seit dem Dezember des vorigen Jahres, um genau zu sein, einen Planeten gibt, dem die für solche Namensvergabe zuständige internationale Behörde, die IAU (die International Astronomical Union), den offiziellen Namen "Poltergeist" gegeben hat? Ungelogen, im Ernst. Davon alsbald mehr. (Der Kleine Zyniker mutmaßt derweil, wo die Suche der Erdlinge nach außerirdischen Intelligenzen endlich von Erfolg gekrönt sein könnte, und wie diese Wesen folglich genannt werden müßten.)

   

















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Ulrich Elkmann

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