11. September 2015

Zitat des Tages: Keine Obergrenze

"Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen."
(Angela Merkel, Rheinische Post vom 11.9.2015.)

Mit dem ersten Satz hat die Kanzlerin recht. Wobei allerdings dieses Grundrecht seit langem so gut wie abgeschafft ist: denn wer nicht gerade mit dem Boot an der Nordseeküste anlandet, ist zwangsläufig über einen sicheren Drittstaat eingereist und kann sich damit nicht mehr auf eine politische Verfolgung berufen. So steht's im Grundgesetz, Artikel 16(2).

Das gleiche müsste dann freilich auch für die Flüchtlinge gelten, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs kommen. Auch diese haben Aufnahme und Sicherheit in Drittstaaten gefunden, bevor sie sich auf den Weg zu uns begeben haben.

Die Syrer, die jetzt Zuflucht bei uns suchen, kommen nicht direkt aus dem Bürgerkrieg, sondern aus Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und der Türkei. Dafür, dass sie gerade jetzt, in diesem Sommer in so großer Zahl aufgebrochen sind, gibt es offenbar zwei Gründe: erstens haben sie allmählich die Hoffnung verloren, dass der Bürgerkrieg in absehbarer Zeit zu Ende geht und sie zurückkehren können. Und zweitens hat sich die Versorgungssituation in den Lagern wesentlich verschlechtert, als die westlichen Staaten die finanzielle Unterstützung stark gekürzt haben. (Vgl. Laura Boldrini in der FAZ vom 10.9.2015 und Main-Echo vom 9.9.2015.)

Wenn wir also nun in Deutschland ohne weiteres alle syrischen Flüchtlinge aufnehmen, dann retten wir sie nicht aus der Hölle des Krieges, sondern aus der Kargheit und Perspektivlosigkeit der Aufnahmelager im Nahen Osten.

Dieser Befund spricht keineswegs dagegen, dies zu tun, er legitimiert aber sehr wohl das Ziehen einer Obergrenze. Wir können beliebig viele aufnehmen, sofern wir bereit sind, die Folgen davon zu tragen, aber wir müssen das nicht tun, es ist kein Gebot der Menschlichkeit.

Der Vorschlag des Entwicklungshilfeministers Müller (CSU), die Flüchtlinge in den Lagern wieder besser zu unterstützen, hat viel für sich. Man könnte sich sogar ganz darauf beschränken und alle Flüchtlinge abweisen, und würde dennoch damit die Solidaritätspflicht in der Völkergemeinschaft erfüllen.

Sobald die Kriegsflüchtlinge genügend zu Essen und Trinken haben, geht es ihnen besser als den ärmsten tausend Millionen unserer Mitmenschen. Wieviele Menschen, könnte man polemisch fragen, überlassen wir der Hungersnot oder dem frühzeitigen Tod, weil wir ab jetzt jährlich 6 Milliarden Euro für die Integration von Flüchtlingen ausgeben werden, die man mit einer weit geringeren Summe am Leben halten könnte? "Jeder Euro," sagt Müller, "den wir dort in Unterkünfte, Schulen und Ausbildung investieren, bewirkt so viel wie zehn oder 20 Euro in Deutschland".

Wenn das so ist, warum nehmen wir dann die Kriegsflüchtlinge überhaupt auf?

Die entscheidende Frage ist immer die, wo man seine Augen hat. Als der Bürgerkrieg in Syrien begann, sahen wir hin und man half denen, die sich ins Ausland gerettet haben. Dann wurde uns der Krieg langweilig, Gezipark und Gazakrieg hielten uns in Atem, während die Hilfszahlungen gekürzt wurden. Und nun haben sich die Syrer wieder in unser Blickfeld geschoben. Sie laufen direkt vor den Kameras herum, und haben sich in eine Lage gebracht, in der sie akute Unterstützung brauchen. Jetzt sehen wir wieder hin, und die Kanzlerin bedauerlicherweise auch.

Nun hat der Anspruch auf Hilfe nichts mit der Fähigkeit zu tun, in die Fernsehnachrichten zu kommen. Vernünftigerweise ist nur der Grad der Not und die praktische Durchführbarkeit der Hilfe der Maßstab, nach dem entschieden werden soll, wem zu helfen ist und wem nicht. Sollten wir uns also nicht lieber um Aidswaisen kümmern als um junge Männer, die sich in Flüchtlingslagern langweilen?

Doch, im Grunde schon. Und dennoch greift eine solche utilitaristische Vernünftigkeit zu kurz.

So richtig es nämlich ist, sich an der Größe der Not zu orientieren und nicht an ihrer Sichtbarkeit, so sehr gilt auch, dass man für das tatenlose Hinsehen einen Preis bezahlt. Wer denen nicht hilft, die sichtlich in Schwierigkeiten sind, macht sich klein, arm, geizig, kalt und defensiv, der beschädigt seine Fähigkeit, auf den Anspruch anderer selbstbewußt zu antworten. "Tut uns leid, wir haben Besseres zu tun!" - Ja, vielleicht, aber diesen hier vor unserer Nase müssen wir ebenfalls gerecht werden.

Die Fähigkeit, sich von Leid anrühren zu lassen, sollte man sich erhalten, auch wenn man dadurch zum Opfer von Manipulation oder von moralischer Erpressung wird, wie es David Cameron widerfuhr, als das Bild des ertrunkenen Jungen in die Medien kam, und wie es der Bundesregierung geschah beim Anblick der andrängenden Menge im Budapester Bahnhof.

Um mit alledem einigermaßen zurandezukommen, wäre eine Obergrenze überaus hilfreich. Genau das wäre jetzt angebracht: die Festlegung eines festen Kontingents, so wie dies Großbritannien und die USA tun. Die Vorteile liegen auf der Hand. Wir würden damit Hilfe leisten und uns nicht von dem Los der Kriegsflüchtlinge abwenden. Wir würden dies jedoch maßvoll tun angesichts der keineswegs extremen Notlage, in der sie sich befinden. Die Chance, sich in der EU auf eine Verteilung der Lasten zu einigen, wäre größer, als bei Merkels unbeschränkt geöffneter Grenze. Man könnte die Kosten besser voraussehen und die folgenden Schritte der Integration genauer planen. Wir hätten ein klares Ziel vor uns, und nicht noch ein weiteres Projekt, dessen Ausmaß und Folgen unabsehbar sind.

Kallias

© Kallias. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Ulrich Elkmann für den Hinweis auf den Artikel im "Main-Echo".