21. August 2014

Das Land ohne Außenpolitik (3)

Das 18. Jahrhundert war die Hochphase europäischer Diplomatie. Aus den mittelalterlichen Lehnsstrukturen waren handlungsfähige Staaten geworden, die auch ihre Konfessionsfragen weitgehend gelöst hatten. Speziell Frankreich hatte die internen Konflikte überwunden, die es seit dem frühen Mittelalter gelähmt hatten und war in wenigen Generationen zur mit Abstand stärksten Militärmacht des Kontinents geworden.

In dieser neuen Staatenwelt wurde nun über ein Jahrhundert lang um Provinzen und Prestige gekämpft, in immer neuen Koalitionen, mit Versprechungen, Verrat, Bündniswechsel, Krieg und Friedensverhandlungen. Und das deutsche Reich mußte feststellen, daß die traditionelle Binnenbezogenheit nicht mehr ausreichte. Die erste Bedrohung seit 700 Jahren, die durch die Türken, konnte noch rein militärisch zurückgeschlagen werden. Militärisch waren die Deutschen durch ihre internen Kriege gut vorbereitet. Aber für die Bedrohung durch die französische Expansion reichte es nicht, nur Truppen zu stellen. Da brauchte man auch europäische Bündnispartner.
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Auf den Kaiser und seine auf die Habsburger Dynastie-Interessen konzentrierte Diplomatie wollten sich die Reichsstände dabei nicht mehr alleine verlassen. Der Reichstag beauftragt eigene Gesandte für die diversen europäischen Friedenskongresse – der vorsichtige Beginn der deutschen Außenpolitik.
Aber diese Außenpolitik paßt überhaupt nicht zur Vorgehensweise der übrigen europäischen Mächte. Denen ging es um Interessendurchsetzung und Interessenausgleich. Forderungen wurden erhoben, um gegeneinander aufgerechnet zu werden. Es ging um Expansion, um Einnahmequellen, um Herrschaftsgebiete. Dabei wurde es zunehmend unwichtiger, ob Erwerbungen logisch begründet waren. Provinzen konnten getauscht werden, Städte und Festungen in Europa gegen Stützpunkte in Übersee verhandelt werden. Die Verhandlungen selber folgten formal immer besser entwickelten diplomatischen Regeln. Aber die Inhalte folgten nur begrenzt einer juristischen Logik.

Die deutschen Gesandten sahen das völlig anders. Ihnen ging es um die Bewahrung des Rechtssystems. Insbesondere wollten sie die französischen Eroberungen am westlichen Reichsrand zurückbekommen – aber nicht um die Macht des Reichs zu stärken, sondern weil Frankreich illegal vorgegangen war. Mit den Verhandlungsangeboten der anderen Staaten konnten sie wenig anfangen. Der Reichstag wollte keine anderen Gebiete erwerben im möglichen Austausch gegen die Ansprüche im Elsaß und in Lothringen, er war nicht bereit diese Ansprüche zu verhandeln und für deren Durchsetzung anderswo Zugeständnisse zu machen.
Die strittigen Gebiete gehörten nach deutscher Sicht legitim zum Reich, und das mußte reichen. Fiat justitia, et pereat mundus.

Diplomatisch blieben die Reichsgesandten weitgehend erfolglos. Die übrigen Mächte verhandelten auf ihre Weise, und die deutsche Sichtweise fand keine Beachtung. Sichtbar wurde das im großen Friedensschluß von Utrecht 1713: Die Bündnispartner regelten ihre jeweiligen Anliegen mit Frankreich, und ignorierten die Anliegen des Reichs.
Was nun zu einer sehr unerwarteten deutschen Reaktion führte: Der Reichstag beschloß den Krieg ohne Bündnispartner weiterzuführen. Was dem Rest Europas völlig absurd erschien. Alle Bündnispartner zusammen hatten es nur mit Mühe geschafft, die französischen Armeen in Schach zu halten. Die Reichsarmee unter Prinz Eugen war mit ihren 25 000 Mann kaum in der Lage, die Pfalz und Baden gegen die 75 000 Mann starke französische Ostarmee zu verteidigen.
Allerdings hatten sowohl die Bündnispartner als auch Frankreich völlig unterschätzt, wie ernst der öffentlichen Meinung im Reich die Angelegenheit war. Die Reichsstände mobilisierten – und mit jeder an der Front eintreffenden Verstärkung sank die französische Kriegsbereitschaft. Zur Überraschung der übrigen europäischen Mächte konnte das auf sich alleine gestellte Reich einen deutlich besseren Friedensvertrag durchsetzen, Frankreich räumte fast komplett seine Eroberungen rechts des Rheins.

Aber das war eine Ausnahme. Ein Erfolg durch Stärke, nicht durch Diplomatie. Mit ihrer Weltsicht blieben die Deutschen isoliert. Sie waren altmodisch in ihrem Beharren auf einer am Recht orientierten Politik und ihre Weigerung, beim zynischen Großmacht-Geschacher mitzumachen. Aber sie waren auch der Zeit voraus. Denn die spätere Entwicklung ging weg von der Kabinetts-Diplomatie hin zu internationalen Regelwerken, Schiedsgerichten und verhandelten Konfliktlösungen. Von der Konzeption her war die UNO bei ihrer Gründung nahe dran an den Vorstellungen, die die Gesandten des deutschen Reichstags für die Ordnung Europas hatten.

Der Kaiserhof in Wien hatte – im Gegensatz zur öffentlichen Meinung in Deutschland – durchaus gelernt, wie erfolgreiche Diplomatie funktioniert. Die Außenpolitik der Habsburger war enorm erfolgreich. Auch die Befreiung Deutschlands von Napoleon ist mehr dem Verhandlungsgeschick Metternichs zu verdanken als der deutschen Befreiungskriegsbegeisterung.
Aber durch die Trennung Österreichs von Deutschland und dem Untergang der Habsburger Monarchie 1918 ist von dieser diplomatischen Tradition fast nichts mehr geblieben.

Das neue deutsche Reich konnte nur auf die eher bescheidenen Erfahrungen der preußischen Diplomatie aufbauen. Ausnahmen wie Bismarck oder Stresemann verdecken, daß Niveau und Erfolgsbilanz der deutschen Außenpolitik zwischen Reichsgründung und Naziherrschaft eher bescheiden waren. Und nach Kriegsende folgte wieder ein halbes Jahrhundert, in dem Deutschland nicht souverän war und nur sehr eingeschränkt etwas eigene Außenpolitik betreiben konnte – und wollte.
Entsprechend gibt es heute in Deutschland zwar vereinzelte Fachleute in Politik und Medien. Aber die werden kaum gehört, spielen in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion über Außenpolitik kaum eine Rolle. Kanzler oder Außenminister kommen aus der Innenpolitik und bleiben dieser geistig verhaftet. Und passen damit zu einem Volk, das immer noch die Probleme der Welt am liebsten vor dem Verwaltungsgericht klären lassen möchte.
R.A.

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