8. Juli 2014

Aus der Schwalbenperspektive (4): Mythos Neymar

Wovon lebt eigentlich eine WM?

Von außergewöhnlichen Spielen? Mag sein, wie im Falle des Endspiels von Bern oder des "Jahrhundertspiels" zwischen Deutschland und Italien 1970. Aber wenn Sie gebeten werden, ein außergewöhnliches Spiel der WM 1994 zu nennen, würde Ihnen eines einfallen?

Vielleicht von besonders spektakulären Toren? Auch das kann der Fall sein, das Wembley-Tor 1966 ist so eines, oder Klaus Fischers Fallrückzieher im Halbfnale 1982 gegen Frankreich. Aber fallen wirklich bei Turnieren mehr tolle Tore als in den nationalen Wettbewerben? Sicher nicht.

Oder gar von Regelwidrigkeiten wie Maradonas "Hand Gottes" bei der WM 1986 oder Zidanes Kopfstoß gegen den frechen Italiener Materazzi im Finale 2006?

All das gehört sicher dazu. Aber das Entscheidende sind die Stars. Ich habe nicht gerade ein enzyklopädisches Fußballwissen, aber mir würde zumindest zu jeder WM seit 1954 eine oder mehrere Spielerpersönlichkeiten einfallen, die das Turnier geprägt haben. 

Stars machen das Fußballspiel greifbar - die anonymen Figuren ("echte Neun" und "Doppelsechs") in einem immer komplexeren Rasenschach werden zu Helden mit einer Geschichte, einer Mission, einem (gerade bei dieser WM besonders ausgeprägten) Gefühlsleben. Sie erwecken Erwartungen, Sympathien, Antipathien, oft auch Enttäuschungen, und - am schönsten - Überraschungen.

Denn Stars bei großen Turnieren lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Stars, die vor der WM hoch gehandelt werden, und solche, die niemand auf der Rechnung hat. So mancher Spieler hat durch ein gutes Turnier seinen Marktwert vervielfachen können - ich bin sicher, dass der zu Recht gefeierte mexikanische Keeper Ochoa nicht mehr lange bei seinem französischen Provinzverein spielen wird, mit dem er gerade abgestiegen ist.

Der unumstrittene Superstar dieser WM ist ein junger, schmächtiger, technisch versierter Brasilianer namens Neymar da Silva Santos Junior. Bis zu seiner Verletzung hat er sehr gut gespielt und vier Tore erzielt. So weit, so gut; damit liegt er ungefähr gleichauf mit den besten Offensivspielern der anderen drei Halbfinalteilnehmer - Messi, Müller und Robben. Die Leistung auf dem Platz kann also den riesigen medialen und emotionalen Rummel nicht erklären. 

Denn auch wenn die Medien - gerade die sportlichen Boulevardmedien ARD und ZDF - Neutralitätsanspruch (ein Schiedsrichter als Experte!) und Sachverstand (endlose Diskussionen über Spielsysteme und sonstige theoretische Ergüsse, bei denen Herberger sich wahrscheinlich im Grab vor Lachen verschluckt) heucheln, geht es bei der Bewertung der Spieler nur um eines: Storytelling.  

Neymar ist trotz einer durchwachsenen Saison in Barcelona schon mit ordentlichen Vorschusslorbeeren in das Turnier gegangen, und die Begeisterung hat sich von Spiel zu Spiel gesteigert. Sie kulminierte im Kolumbienspiel, als Neymar durch ein nichtgeahndetes Foul des Kolumbianers Zuniga einen Lendenwirbelbruch erlitt. Die Staatspräsidentin seines dem Pathos sowieso nicht abgeneigten Heimatlandes schrieb ihm einen nicht anders als schmalzig zu bezeichnenden Brief mit folgenden Worten:
Lieber Neymar, 
es brach mein Herz und das Herz jedes Brasilianers als wir den Schmerz in Deinem Gesicht auf dem Fußballfeld mit ansehen mussten. 
Aber wir sahen dort auch die unglaubliche Stärke eines großen Kriegers, der sich, auch wenn er verwundet ist, nie aufgeben wird. Ein großer Krieger, der seinen Marsch kurz unterbricht, der seinen unüberwindlichen Charakter in der erfolgreichen Schlacht, die unsere Nationalmannschaft kämpft, längst unter Beweis gestellt hat. 
Ich weiß, wie jeder Brasilianer, dass Du niemals aufgeben wirst, und dass Du schneller als es die Vorstellung erlaubt, zurück sein wirst, um unsere Seelen mit Freude und unsere Geschichte mit Triumph zu erfüllen. 
Möge Gott Dich stärken und Dich stets beschützen. 
Dilma Rousseff, Präsidentin der Föderativen Republik Brasilien
Der normalerweise überlegen-witzige Mehmet Scholl flippte regelrecht aus und gab dabei einen Hinweis, was ein wichtiger Bestandteil des Mythos Neymar ist:
Wenn es zugelassen wird, dass die Kleinen vernichtet werden, dann haben wir ein Problem. Und dann ist das auch nicht mehr unsere Sportart.
Also ist Neymar, der übrigens fünf Zentimeter größer ist als beispielsweise Philipp Lahm, der technisch überlegene David gegen die Goliaths, die nur von der Physis leben. Doris Akrap stimmt in der taz, auf Redaktions-Linie gegen den - mit Ausnahme des durch Migrationshintergrund davor bewahrten Özil - deutschen Kraftfußball ein:
Der dümmste unter den dummen Kommentaren zu einem Ausnahme-Fußballspieler lautet: „Der wird sowieso überschätzt.“ Wer dies kaltschnäuzig nun auch über das dramatische Ausscheiden des brasilianischen Superstars Neymar sagt, ist nicht nur arg herzlos, sondern vollständig ahnungslos. 
Denn ein Neymar, so wie auch ein Messi, ein Ronaldo, ein Özil, ein Robben, all die großen Talente, über die immer wieder mal behauptet wird, sie seien höher bewertet als verdient, sind Ausnahmen vom Durchschnitt. Sie können etwas, was nicht alle können. 
Das so fußballkommentatorisch abgedroschene Wort „zaubern“ könnte dafür richtiger nicht sein. Es sind Künstler am Ball, die mit diesem etwas anstellen, was kaum in Worte zu fassen oder gar rational erklärbar ist. Es ist eben Zauberei, Magie, Göttliches.
Dazu kommt noch der politische Aspekt. Da offenbar - für viele unerwartet und unverständlich - die Brasilianer durch die Bank Spaß an der WM haben und sich vermutlich auch mit großem investigativem Aufwand kaum mehr Demonstranten auftreiben lassen, wird Neymar die Rolle des Versöhners zuteil.
Die Wut konzentriert sich jetzt auf Zuniga und gipfelt in Morddrohungen und rassistischen Beschimpfungen. 

Diese eher unerfreulichen Seiten des Neymar-Mythos werden in der Berichterstattung aber - abgesehen von der sicher in dieser Hinsicht besonders sensiblen taz - eher dem südamerikanischen Temperament zugeschrieben. 

Ein Bericht aus der Schwalbenperspektive hätte den Namen nicht verdient, wenn er nicht noch auf den aktuellen Komplementärmythos eingehen würde - Arjen Robben. Kaum hat der Niederländer im gegnerischen Strafraum den Ball, wird über die bevorstehende Schwalbe spekuliert. Denn ein Held kann in der Sage erst richtig strahlen, wenn es die finsteren Gesellen um ihn herum gibt. Kein Jung-Siegfried ohne den listigen Hagen. Dabei könnte letzterer von ersterem durchaus noch etwas lernen. Aber sowohl der Reporter des Kolumbienspiels als auch Scholl und Opdenhövel sprachen Neymar grundsätzlich von der Schauspielerei frei. Denn diese Rolle hat ein anderer besetzt.

Wenn es um "Zauberei, Magie, Göttliches" geht, verlieren sogar die Weltmeister der Disziplinen Ausdifferenzierung und Äquidistanz die Lust dazu. Und es ist ein - vielleicht der größte - Verdienst des Fußballs, wenn er solche Mythen hervorbringt. Selbst wenn sie von den Unmengen an Statistiken, die zu jedem Spiel produziert werden, in keiner Weise gedeckt werden.

Was das Halbfinale betrifft, so glaube ich nicht, dass Neymars Ausfall eine katastrophale Schwächung für die Brasilianer bedeutet. Denn so gefällig und einfallsreich er auch spielt, hindert er oft die Teamkollegen an ihrer eigenen Entfaltung, was im Kolumbienspiel offensichtlich war. Aber trotzdem glaube und hoffe ich, dass den Sieg ein anderer Star davontragen wird: 

Der Anti-Mythos von

Heimat, Übersichtlichkeit, Ordnung, Provinz, sexueller Einfalt (sic!).
Schließlich haben die bisherigen Mythen den Realitätscheck auch nicht unbedingt bestanden. Lass es müllern!


Meister Petz

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