Es geht also wieder einmal um den "zeitgemäßen Liberalismus", was 
in etwa so klingt wie "modernes Christentum". Freilich: Eine 
Ideologie sollte nicht in Stein gemeißelt sein und jede Veränderung – man könnte 
auch freundlicher formulieren: Weiterentwicklung – als Angriff auf die 
allein selig machende, reine Lehre ablehnen. Indessen: Ein 
Wohlfühlgedankensystem ohne Gott ist kein Christentum, und eine 
Freiheitsidee, die diesen Begriff bis zur Unkenntlichkeit entstellt und 
ihn als positiv konnotierte Hülle für eine Mogelpackung missbraucht, ist
 kein Liberalismus.
Dessen Kern ist nun einmal die "Abwehr kollektiver, insbesondere staatlicher Willkür"
 (Karen Horn in der bereits verlinkten Rezension), und dieser Schutz 
des Einzelnen vor der Übermacht der Vielen war schon immer so wertvoll 
wie heute. Doch selbstverständlich erachtet auch der klassische 
Liberalismus nicht nur die negative Freiheit (von etwas), sondern auch die positive Freiheit (zu etwas) als wichtig: Art. 2 Abs. 1 GG und der pursuit of happiness
 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geben ein beredtes 
Zeugnis davon.
Ein "zeitgemäßer Liberalismus" (die Anführungszeichen sind hier in erster Linie salvierend) zielt jedoch ganz offensichtlich in eine andere Richtung: "Freiheit gehört nicht nur den Reichen", lautet der Titel des in der FAZ besprochenen Buches von Lisa Herzog. Wenn sich die vom Liberalismus gemeinte Freiheit danach bemäße, wie lang die Leine ist, an der uns die jeweilige Begrenztheit unserer finanziellen Mittel führt, dann wäre der materiell schlecht Ausgestattete natürlich weniger frei als der Wohlhabende. Um dieses Gefälle abzubauen oder idealiter ganz einzuebnen, müsste das Gemeinwesen korrigierend, sprich: umverteilend, eingreifen.
Die meisten Liberalen dürften eine staatliche Unterstützung derjenigen befürworten, die 
nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Doch die bundesrepublikanische Transfermaschinerie 
geht über diese existenzsichernden Allokationen an allen 
Ecken und Enden hinaus. Die Aufrüstung des Sozialleistungsarsenals dient
 dazu, einer als Ungerechtigkeit empfundenen Ergebnisungleichheit abzuhelfen und somit den 
potenziellen Wähler bei Laune zu halten.
Die Kehrseite der klingenden Münze, welche die öffentliche Hand dem Bürger in die Tasche fließen lässt, ist die zunehmende Bereitschaft des Gesetzgebers, sich das Recht auf Bevormundung und Erziehung der Menschen anzumaßen. Somit ist das Wort vom Vater oder von der Mutter Staat durchaus zutreffend: Denn die Sedierung quengelnder Kinder sowie das Verbot und die Bestrafung missliebigen Verhaltens gehören zum Standardrepertoire in der Nachwuchsaufzucht. Allein: "Der Staat hat [...] nicht die Aufgabe, seine Bürger zu 'bessern'" (BVerfGE 22, 180, Randnummer 142).
Der
 Paternalismus des Gemeinwesens veredelt den Menschen ohnehin 
nicht; im Gegenteil, er verführt ihn zur Verrohung. Wenn der Staat für 
alles zuständig ist, kann man die Moral bequem an ihn outsourcen. Dann 
ist es eben nicht mehr die Gewissenspflicht des Einzelnen, einem "armen"
 Kind pekuniären Beistand zu leisten; vielmehr propagiert man zu diesem Behufe Steuererhöhungen, wobei der eine oder andere Forderungsunterzeichner gemäß dem Sankt-Florians-Prinzip hoffen dürfte, dass der Kelch an ihm vorübergeht. 
Wenn unsere Gesellschaft kalt und egoistisch ist, dann ist sie das nicht trotz, sondern wegen des Rundum-Sorglos-Staates, der den Bürger 
vor der unerhörten Zumutung bewahrt, seine ethischen Prinzipien in die 
Tat umzusetzen oder – im Fall des Unterlassens des Guten – mit sich ins 
Gericht zu gehen.
Der "zeitgemäße Liberalismus" ist absolut zeitgemäß oder besser gesagt: zeitgeistig. Liberal ist er nicht.
Noricus
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