Die Ansichten über die morgen wieder einsetzende Sommerzeit sind seit jeher geteilt. Manche freuen sich über die langen hellen Abende, andere stört das frühe Aufstehen an sich oder die anstrengende Umstellungsphase.
Gelegentlich wird auch eine ganzjährige Sommerzeit vorgeschlagen, die lange Abende ohne Umstellungsprobleme verspricht.
Eine Vorkämpferin dieser Idee ist die FDP. Nach dem Wahlsieg 2009 versprach sie, einen neuen Anlauf zu nehmen, aus dem anscheinend nichts geworden ist. (Siehe Netzeitung, 22.10.2009) Umgesetzt wurde der Gedanke hingegen 2011 in Russland, das seitdem nur noch Sommerzeit hat. (Siehe Die Welt, 27.10.2012.)
Ich halte das für keine gute Idee.
Zunächst einmal ist die Uhrzeit rein willkürlich justiert. Daß der Tag um Mitternacht beginnt, ist pure Konvention, wenn man davon absieht, daß sie eigentlich ein wenig seltsam ist. Mitten in der Nacht ist der Tag schließlich so weit entfernt wie möglich. Die Römer ließen den Tag mit dem Sonnenaufgang beginnen, was viel plausibler wirkt, leider aber mit den festen Zeitschemata der modernen Gesellschaft nicht gut vereinbar ist.
So willkürlich die Lage des Nullpunkts im Sonnenlauf auch ist, für das Leben der Menschen ist die konventionelle Uhrzeit der Fahrpläne, Arbeitszeitregelungen, ja selbst des Fernsehprogramms offenkundig viel wichtiger als die "wahre Sonnenzeit" der Astronomen. Und so kommt es, dass wir alle eine Stunde früher aufstehen, wenn der Uhrzeiger eine Stunde vorgestellt wird. Wir richten uns im Leben viel mehr an Plänen aus als an der Sonne.
Der menschliche Körper hingegen ist auf den Rhythmus der Sonnenzeit, das Auf und Ab der Helligkeit von Mitternacht zu Mittag und zurück gestimmt. Eine innere Uhr steuert das Verlangen nach Schlafens- und Wachzeiten, die ihrerseits vom Tageslicht kontrolliert wird. Stehen wir zu anderen Zeiten auf, als es die innere Uhr uns nahelegt, sind wir weniger gesund und leistungsfähig.
So meint jedenfalls die Chronobiologie. Es sei, so lehrt sie, unmöglich, sich einem anderen Zeitschema anzupassen als dem lichtgesteuerten. Wir haben das in den Genen. Der Zeitpunkt im Sonnenlauf, zu dem die einzelnen Menschen von selber erwachen und aufstehen möchten, unterscheidet sich dabei erheblich; manche sind bereits sechs Stunden nach Mitternacht hellwach, andere erst eine Stunde vor Mittag. Man spricht vom genetisch festgelegtem "Chronotyp", wobei man grob zwischen "Lerchen", Normalschläfern und "Eulen" unterscheidet. (Siehe Der Spiegel, 14.4.2011.)
Eine feinere, siebenteilige Klassifikation hat das Münchner "Zentrum für Chronobiologie" vorgelegt. Die Häufigkeit der diversen Chronotypen läßt sich diesem Diagramm entnehmen:
Angesichts dieser Spannweite ist es nicht verwunderlich, wenn Chronobiologen wie Till Roenneberg vom Münchner Zentrum flexible Arbeitszeiten fordern. Bei Siemens in Berlin wurde versucht, die Arbeiter je nach Chronotyp auf die drei Schichten zu verteilen, wobei sich die Gewerkschaften zunächst gewehrt haben, da sie den Wegfall von Nacht- und Frühzulagen fürchteten. Über den Erfolg der Aktion war leider nichts herauszubringen. (Siehe Die Zeit, 31.10.2010.)
Schon an dieser Episode läßt sich erkennen, daß die Flexibilisierung auf zahlreiche Schwierigkeiten stößt. Oft gibt es ja auch gar nicht genügend Arbeitskräfte, die man zu einheitlichen Gruppen nach Chronotyp zusammenstellen könnte.
Wenn man bei festen Arbeitszeiten für alle bleibt, dann sollten sie sich am durchschnittlichen Schlafbedürfnis orientieren, das heißt, die tatsächliche Aufstehzeit sollte mit der durchschnittlich von der inneren Uhr gewünschten Zeit übereinstimmen. Und genau hier liegt das Problem: wir stehen viel zu früh auf.
Der Schlafwissenschaftler Jürgen Zulley gibt als mittlere Aufstehzeit 6 Uhr 23 an. (Siehe Der Spiegel, 4.11.2011.) Erwünscht hingegen ist nach den Münchner Forschungsergebnissen im Durchschnitt 8 Uhr 15. Wir stehen knapp zwei Stunden zu früh auf, während der Sommerzeit sogar um drei Stunden! Bei einer Schlafensdauer von sieben Stunden liegt dann fast der halbe Schlaf außerhalb der richtigen, biologisch vorgegebenen Schlafperiode. (Leider wird in den populären Veröffentlichungen nie angegeben, inwieweit die Sommerzeit berücksichtigt wird - möglicherweise stehen wir auch nur eine Stunde zu früh auf. Zu früh aber auf jeden Fall. Man erkennt dies sehr einfach daran, daß zum Aufstehen Wecker benutzt werden.)
Die Folgen sind wie üblich furchtbar: Konzentrationsschwäche, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Bluthochdruck, Arthrose, Diabetes, Anfälligkeit für Alkohol und Nikotin, erhöhte Unfallgefahr zählt Roenneburg auf.
(Blau: Sommerzeit; orange: ehemals Sommerzeit; rot: noch niemals Sommerzeit.)
Wenn man sich diese Karte aus der Wikipedia ansieht, stellt man zudem mit Erschrecken fest, daß nur die westlichen Länder die Sommerzeitumstellung haben. Unsere schärfsten Konkurrenten in Asien schlafen Sommers eine Stunde länger und sind entsprechend fitter als wir.
Till Roenneberg weist darauf hin, dass unsere Arbeitszeiten die Frühaufsteher bevorzugen, und diese in der Wirtschaft daher eher Karriere machen. "Langschläfer selektiert vermutlich der Konkurrenzkampf aus." Das ist sehr bedauerlich, zumal es mehr davon gibt als Frühaufsteher, und sie, sofern begabt, auf kümmerliche Laufbahnen als Künstler oder Musiker gedrängt werden.
Dieser Umstand erklärt vermutlich auch die geringe Bereitschaft der Entscheider, dem Problem zu Leibe zu rücken. Bis auf einen gescheiterten Versuch des Ministerpräsidenten Oettinger, wenigstens den Schulunterricht eine Stunde später beginnen zu lassen, bewegt sich wenig in die richtige Richtung.
Dabei liegt die Lösung doch auf der Hand: wir brauchen statt einer Sommerzeit eine Winterzeit, und zwar ganzjährig mit einer oder zwei Stunden Differenz. Alle Zeitpläne würden intakt bleiben, alle Gewerkschafter könnten ruhig schlafen, der Unterricht würde zur gewohnten Uhrzeit beginnen, und wenn auch das Problem des "sozialen Jetlags" nicht gelöst wäre, so würden wir doch wenigstens im Großen und Ganzen zu einer Zeit aufstehen, die uns passt.
© Kallias. Die Grafik über die Chronotypen ist gemeinfrei, die Weltkarte ist freigegeben unter der GNU Free Documentation License, Version 1.2 or any later version published by the Free Software Foundation. Für Kommentare bitte hier klicken.