Der "arabische Frühling" begann nicht im Frühjahr, sondern im Dezember; genauer: am 18. Dezember 2010, als es nach der Selbstverbrennung des Obsthändlers Mohamed Bouazizi im tunesischen Sidi Bouzid zu ersten Demonstrationen gegen das sozialistische Regime Ben Ali kam.
Der Scheinwerfer des internationalen Interesses war folglich zunächst auf Tunesien gerichtet; dann schwenkte er auf Ägypten, Libyen und aktuell Syrien. Demnächst könnte Jordanien in den Blickpunkt geraten.
In dieser Serie habe ich die Entwicklung dieser beiden Jahre mit Analysen und Kommentaren begleitet. In der Ankündigung der Serie im Januar 2011 konnten Sie zu Tunesien lesen:
Eine Militärdiktatur schied schnell aus. Ist Tunesien aber auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat, oder wird das Ergebnis des revolutionären Prozesses am Ende doch ein islamistischer Staat sein?
Zunächst schienen die Weichen für einen demokratischen Rechtsstaat gestellt zu sein. Vor einem Jahr sah es so aus, als werde das neue Tunesien von demokratischen Politikern bestimmt werden; viele aus dem französischen Exil zurückgekehrt. Im Februar 2011 habe ich dazu eine insgesamt optimistische Analyse geschrieben: Aufruhr in Arabien (7): Wie ist eigentlich die Lage in Tunesien? Erstaunlich!; ZR vom 5. 2. 2011. Sie schloß allerdings mit einem caveat:
Im Dezember 2011 bildete die Ennahda zusammen mit zwei nicht islamistischen, aber auch nicht islamismuskritischen Parteien (der CPR, die unter Ben Ali vor allem für die Menschenrechte eingetreten war, und der sozialdemokratischen Ettakol) eine Regierung, in der sie den Ministerpräsidenten Hamadi Jebali stellt und alle Schlüsselministerien mit ihren Leuten besetzt hat. Rachid Ghanouchi übernahm kein Regierungsamt, hat aber als Präsident des Exekutivbüros der Ennahda eine zentrale Machtposition.
Als ich Ende Oktober 2011 das Wahlergebnis analysiert habe, das zu dieser Regierungsbildung führte, hieß es am Ende des Artikels:
Es hat sich in der westlichen Berichterstattung über den Arabischen Frühling und überhaupt über islamische Länder eingebürgert, zwischen "gemäßigten Islamisten" und "Salafisten" zu unterscheiden. Auch die Politik hat das hier und da übernommen. Explizit hat beispielsweise der deutsche Außenminister diese Unterscheidung getroffen:
In der Internet-Ausgabe des Nouvel Observateur hat dessen Chefredakteur Laurent Joffrin dazu vorgestern einen Artikel mit der Überschrift "Tunisie. Le vrai visage des islamistes" (Tunesien. Das wahre Gesicht der Islamisten) publiziert.
Das Internetmagazin SlateAfrique stellt seinen Artikel unter die Überschrift "Tunisie - Rached Ghannouchi, un salafiste refoulé et démasqué?" (Tunesien - Rached Ghannouchi, ein versteckter und demaskierter Salafist?).
Das französischsprachige tunesische Magazin BusinessNews schreibt, in dem aufgezeichneten Gespräch mit den Salafisten habe der Chef der Ennahda un discours bien différent de celui mené avec les Occidentaux et les médias vorgetragen - ganz andere Ausführungen als gegenüber dem Westen und den Medien.
Im wesentlichen hat Ghannouchi den Salafisten nämlich gesagt, daß er dasselbe wolle wie sie, nur wolle er vorsichtiger und langsamer zu Werke gehen. Noch hätten die Islamisten in Tunesien nicht die ganze Macht - nicht über die Polizei, die Armee, die Verwaltung; erst recht nicht über die Medien. Der französische Nachrichtensender France24 zitiert aus dem Video: "Je dis à nos jeunes salafistes de patienter (...) pourquoi se précipiter?" - Ich sage unseren jungen Salafistn, daß sie Geduld haben sollten (...) Warum überstürzt vorgehen?".
Erst müsse man die jetzigen Erfolge konsolidieren, bevor man weitere Etappen auf dem Weg zu einem Staat in Angriff nehmen könne, in dem der Islam über allem steht (prime sur tout) und wo man die Gesellschaft grundlegend verändern könne.
Der Bericht in BusinessNews enthält auch das Video, aber nur mit dem arabischen Ton ohne Untertitel. Der Artikel scheint aber das Gespräch ziemlich vollständig zu paraphrasieren, in dem Ghannouchi stets von eux und nous spricht, von "ihnen" uns "uns" - wobei "wir" er selbst und die Salafisten sind, und "sie" die säkularen Parteien, Armee und Verwaltung, die Medien.
Das Video werfe une lumière sinistre sur le processus en cours en Tunisie, ein dunkles Licht auf den Prozeß, der in Tunesien im Gang ist, schreibt Laurent Joffrin.
Ob man in Guido Westerwelles Auswärtigem Amt dieses Video übersetzt und ausgewertet hat? Wird man dann vielleicht einsehen, wie naiv die Vorstellung ist, die Moslembrüder und ihnen Nahestehende wie die Ennahda wollten einen pluralistischen demokratischen Rechtsstaat und nicht einen religiösen Staat unter der Scharia?
Experten haben die angebliche Wandlung der Moslem-Bruderschaft immer für ein lediglich taktisches Manöver gehalten. Das Bekenntnis zur Demokratie ist - ähnlich wie bei Kommunisten - ein Instrument, um Verbündete zu gewinnen und mit ihre Hilfe an die Macht zu gelangen. Der Weg ist ein anderer als derjenige der revolutionär gesonnenen Salafisten; aber das Ziel ist dasselbe: Die Errichtung eines islamistischen Staats unter der Herrschaft der Scharia.
Intern wird das auch gar nicht geheimgehalten. Im Middle East Forum hat Raymond Ibrahim im Januar den Führer der Moslem-Bruderschaft Dr. Muhammad Badi zitiert, der im Dezember 2011 die Ziele seiner Vereinigung so beschrieb:
Der Scheinwerfer des internationalen Interesses war folglich zunächst auf Tunesien gerichtet; dann schwenkte er auf Ägypten, Libyen und aktuell Syrien. Demnächst könnte Jordanien in den Blickpunkt geraten.
In dieser Serie habe ich die Entwicklung dieser beiden Jahre mit Analysen und Kommentaren begleitet. In der Ankündigung der Serie im Januar 2011 konnten Sie zu Tunesien lesen:
Alle ... Varianten sind möglich: Ein demokratischer Rechtsstaat; was unerhört wäre für ein Land des Maghreb, seit de Gaulle Algerien preisgab. Eine Militärdiktatur. Oder auch der erste islamistische Staat im Maghreb; ein Vordringen des Islamismus bis vor die Haustür Europas.Diese Auswirkungen sind inzwischen eingetreten. Wie aber steht es mit der Frage der Zukunft Tunesiens?
Was auch immer sich am Ende als der stabile Zustand erweisen wird, der aus der jetzigen Instabilität hervorgeht: Dieses Ergebnis der tunesischen Revolution wird weitreichende Auswirkungen auf die arabische Welt haben; also auf den gesamten Nahen Osten und damit auf die Weltpolitik.(Aufruhr in Arabien (1): Die tunesische Revolution. Ankündigung einer Serie; ZR vom 24. 1. 2011).
Eine Militärdiktatur schied schnell aus. Ist Tunesien aber auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat, oder wird das Ergebnis des revolutionären Prozesses am Ende doch ein islamistischer Staat sein?
Zunächst schienen die Weichen für einen demokratischen Rechtsstaat gestellt zu sein. Vor einem Jahr sah es so aus, als werde das neue Tunesien von demokratischen Politikern bestimmt werden; viele aus dem französischen Exil zurückgekehrt. Im Februar 2011 habe ich dazu eine insgesamt optimistische Analyse geschrieben: Aufruhr in Arabien (7): Wie ist eigentlich die Lage in Tunesien? Erstaunlich!; ZR vom 5. 2. 2011. Sie schloß allerdings mit einem caveat:
Rachid Ghanouchi, der Führer der islamistischen Ennahda, ist inzwischen wieder in Tunesien. Ähnlich den Moslem-Brüdern in Ägypten gibt er sich im Augenblick gemäßigt. Wie die Islamisten agieren werden, falls sie in einem demokratischen Tunesien bestimmenden Einfluß gewinnen sollten, ist freilich eine andere Frage. Auch die russische Revolution fand im Februar 1917 zunächst als eine bürgerliche Revolution statt, bevor daraus die Oktoberrevolution wurde.Sie haben in der Tat bald danach bestimmenden Einfluß gewonnen, die Islamisten. Bei den Wahlen im Oktober 2011 wurde die islamistische Ennahda von Rachid Ghanouchi die mit Abstand stärkste Partei; sie führt inzwischen die Regierung. Die Wahlverlierer waren die islamkritischen, säkularen Parteien.
Im Dezember 2011 bildete die Ennahda zusammen mit zwei nicht islamistischen, aber auch nicht islamismuskritischen Parteien (der CPR, die unter Ben Ali vor allem für die Menschenrechte eingetreten war, und der sozialdemokratischen Ettakol) eine Regierung, in der sie den Ministerpräsidenten Hamadi Jebali stellt und alle Schlüsselministerien mit ihren Leuten besetzt hat. Rachid Ghanouchi übernahm kein Regierungsamt, hat aber als Präsident des Exekutivbüros der Ennahda eine zentrale Machtposition.
Als ich Ende Oktober 2011 das Wahlergebnis analysiert habe, das zu dieser Regierungsbildung führte, hieß es am Ende des Artikels:
Mittel- und langfristig wird es darum gehen, welches das wahre Gesicht der Ennahda ist: Hat der Wolf nur Kreide gefressen? Ist Ghannouchi, der einst beim Studium in Kairo von Moslembrüdern zum Islamismus bekehrt wurde, immer noch ein demokratiefeindlicher Islamist, der sich jetzt nur tarnt? Oder wird sich die Ennahda tatsächlich zur ersten arabischen Partei entwickeln, die Islamismus mit Demokratie und Rechtsstaat verbindet?Zu dieser Frage gibt es jetzt aktuelle Informationen. Sie geben Anlaß zum Pessimismus.(Aufruhr in Arabien (23): Eine Analyse des Wahlergebnisses in Tunesien; ZR vom 28. 10. 2011).
Es hat sich in der westlichen Berichterstattung über den Arabischen Frühling und überhaupt über islamische Länder eingebürgert, zwischen "gemäßigten Islamisten" und "Salafisten" zu unterscheiden. Auch die Politik hat das hier und da übernommen. Explizit hat beispielsweise der deutsche Außenminister diese Unterscheidung getroffen:
Wir müssen die Umbruchprozesse in Nordafrika und der arabischen Welt politisch und wirtschaftlich unterstützen. (...) Wir müssen lernen, genau hinzusehen und zu differenzieren. Natürlich sind auch fundamentalistische, also tatsächlich "islamistische" Gruppen in den politischen Wettbewerb eingetreten, mit denen ein Dialog keine Aussicht auf Erfolg hat. In Tunesien oder Marokko beispielsweise aber sehen wir, dass bislang eher gemäßigte, moderat-islamische Parteien Mehrheiten gewonnen haben.Das schrieb Guido Westerwelle im Januar dieses Jahres in einem Artikel für die FAZ; ich habe es hier zitiert und, was Tunesien angeht, so kommentiert:
Es ist notwendig, gerade mit diesen gemäßigten Kräften den Dialog über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Politik und Religion zu suchen. Denn von islamischen Werten und nationalen Traditionen inspirierte Parteien haben gegenwärtig die größte Chance, sich langfristig zu mehrheitsfähigen Volksparteien in der Region zu entwickeln.
Wie ernst es der [ägyptischen Partei der Moslembruderschaft] JDP und der Ennahda mit der Demokratie ist, weiß allerdings niemand. Sie haben - wollen sie überhaupt regieren - in beiden Ländern keine Wahl, als sich den in ihnen geltenden demokratischen Regeln zu unterwerfen. Die Ennahda begann in den achtziger Jahren als eine radikal-islamistische Partei, die von der Moslem-Bruderschaft beeinflußt war und die beispielsweise die Besetzung der US-Botschaft in Teheran verteidigte. Sie schlug dann moderatere Töne an; ob aus taktischen Gründen oder aufgrund eines Sinneswandels, ist kaum zu entscheiden.Seit Mitte dieser Woche nun gibt es ein Video, von dem es scheint, daß es eine Antwort auf diese Frage enthält: Die Aufzeichnung eines Gesprächs des Ennahda-Führers Ghannouchi mit Salafisten.
In der Internet-Ausgabe des Nouvel Observateur hat dessen Chefredakteur Laurent Joffrin dazu vorgestern einen Artikel mit der Überschrift "Tunisie. Le vrai visage des islamistes" (Tunesien. Das wahre Gesicht der Islamisten) publiziert.
Das Internetmagazin SlateAfrique stellt seinen Artikel unter die Überschrift "Tunisie - Rached Ghannouchi, un salafiste refoulé et démasqué?" (Tunesien - Rached Ghannouchi, ein versteckter und demaskierter Salafist?).
Das französischsprachige tunesische Magazin BusinessNews schreibt, in dem aufgezeichneten Gespräch mit den Salafisten habe der Chef der Ennahda un discours bien différent de celui mené avec les Occidentaux et les médias vorgetragen - ganz andere Ausführungen als gegenüber dem Westen und den Medien.
Im wesentlichen hat Ghannouchi den Salafisten nämlich gesagt, daß er dasselbe wolle wie sie, nur wolle er vorsichtiger und langsamer zu Werke gehen. Noch hätten die Islamisten in Tunesien nicht die ganze Macht - nicht über die Polizei, die Armee, die Verwaltung; erst recht nicht über die Medien. Der französische Nachrichtensender France24 zitiert aus dem Video: "Je dis à nos jeunes salafistes de patienter (...) pourquoi se précipiter?" - Ich sage unseren jungen Salafistn, daß sie Geduld haben sollten (...) Warum überstürzt vorgehen?".
Erst müsse man die jetzigen Erfolge konsolidieren, bevor man weitere Etappen auf dem Weg zu einem Staat in Angriff nehmen könne, in dem der Islam über allem steht (prime sur tout) und wo man die Gesellschaft grundlegend verändern könne.
Der Bericht in BusinessNews enthält auch das Video, aber nur mit dem arabischen Ton ohne Untertitel. Der Artikel scheint aber das Gespräch ziemlich vollständig zu paraphrasieren, in dem Ghannouchi stets von eux und nous spricht, von "ihnen" uns "uns" - wobei "wir" er selbst und die Salafisten sind, und "sie" die säkularen Parteien, Armee und Verwaltung, die Medien.
Das Video werfe une lumière sinistre sur le processus en cours en Tunisie, ein dunkles Licht auf den Prozeß, der in Tunesien im Gang ist, schreibt Laurent Joffrin.
Ob man in Guido Westerwelles Auswärtigem Amt dieses Video übersetzt und ausgewertet hat? Wird man dann vielleicht einsehen, wie naiv die Vorstellung ist, die Moslembrüder und ihnen Nahestehende wie die Ennahda wollten einen pluralistischen demokratischen Rechtsstaat und nicht einen religiösen Staat unter der Scharia?
Experten haben die angebliche Wandlung der Moslem-Bruderschaft immer für ein lediglich taktisches Manöver gehalten. Das Bekenntnis zur Demokratie ist - ähnlich wie bei Kommunisten - ein Instrument, um Verbündete zu gewinnen und mit ihre Hilfe an die Macht zu gelangen. Der Weg ist ein anderer als derjenige der revolutionär gesonnenen Salafisten; aber das Ziel ist dasselbe: Die Errichtung eines islamistischen Staats unter der Herrschaft der Scharia.
Intern wird das auch gar nicht geheimgehalten. Im Middle East Forum hat Raymond Ibrahim im Januar den Führer der Moslem-Bruderschaft Dr. Muhammad Badi zitiert, der im Dezember 2011 die Ziele seiner Vereinigung so beschrieb:
... starting by reforming the individual, followed by building the family, the society, the government, and then a rightly guided caliphate and finally mastership of the world.Sollten man im AA kein Vertrauen in den Experten Raymond Ibrahim haben (er ist Amerikaner, Sohn eingewanderter koptischer Christen, hat Arabistik studiert und zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen zum Islam und dem Nahen Osten geschrieben), dann hilft es vielleicht, einen Blick auf die offizielle WebSite der Moslem-Bruderschaft zu werfen. Ich habe das getan und aus diesen Zielen ausführlich zitiert; Sie können es hier nachlesen: Zitat des Tages: Die Ziele der Moslem-Bruderschaft, dargelegt auf deren offizieller WebSite; ZR vom 4. 2. 2011.
... als erstes die Läuterung des Einzelnen, darauffolgend der Aufbau der Familie, der Gesellschaft, der Regierung, und dann ein rechtmäßig geleitetes Kalifat und als Ziel die Beherrschung der Welt.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.