10. September 2011

Marginalie: Der "Rettungsschirm" ESM und der bemerkenswerte (bisher aber bei uns kaum beachtete) Rutte-Plan. Entscheiden die Mitglieder der FDP?

In die Diskussion über den geplanten europäischen Rettungsschirm ESM hat sich jetzt die niederländische Regierung mit einem bemerkenswerten Vorschlag eingeschaltet, der aber in Deutschland noch kaum Beachtung gefunden zu haben scheint. Wie u.a. Reuters meldete, soll nach diesem Plan bei der Kommission der EU ein Kommissariat für Budgetdisziplin geschaffen werden, dessen Chef als ein "Zar" weitgehende Befugnisse hätte:
The EU should appoint a new budget tsar with powers to dictate taxes and spending in eurozone countries who could ultimately adjudicate whether countries should be kicked out of the euro.

Die EU sollte einen neuen Budget-Zar ernennen mit der Vollmacht, Steuern und Ausgaben in den Ländern der Eurozone zu diktieren. Als ultimative Maßnahme soll er die Entscheidung treffen können, Länder aus dem Euro zu werfen.
Falls Sie der Begriff "Zar" in diesem Zusammenhang wundert, dann empfehle ich Ihnen den Artikel von Kallias: Ken Feinberg, Gehälterzar; ZR vom 6. 12. 2009. Dort wird diese Institution und die Herkunft des Begriffs erläutert: Es handelt sich dabei um Beauftragte mit mehr oder weniger umfassenden Vollmachten.

Was ist der Hintergrund dieses niederländischen Vorstoßes? Stratfor hat ihn gestern analysiert; Überschrift "Dutch savvy at work between Germany and the Eurozone" (Mit Köpfchen kümmern sich die Holländer um Deutschland und die Eurozone). Der Artikel ist nur Abonnenten zugänglich. Sein wesentlicher Inhalt:

Es geht den Niederländern darum, die sich abzeichnende deutsche Vorherrschaft in Europa zu zügeln.

Entscheidend bei den bevorstehenden Vereinbarungen über den "Europäischen Stabilitätsmechanismus" ESM (siehe Vorläufiges zum Thema ESM; ZR vom 8. 9. 2011) wird sein, bei wem die in dem obigen Zitat genannten Vollmachten liegen werden.

Nach dem gegenwärtigen Vertragsentwurf soll dies der von der Brüsseler Kommission unabhängige Gouverneursrat sein, in dem Deutschland bestimmend wäre. (Eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit verlangt dort mindestens 80 Prozent der Stimmen. Deutschland hätte mit 27 Prozent eine Sperrminorität und damit ein Vetorecht; siehe hier). Holland will nun diese für den Gouverneursrat vorgesehenen Rechte einem Kommissar übertragen, also an die Kommission der EU anbinden. Dort ist die Macht Deutschlands erheblich geringer.

Deutschland, meint Stratfor, will sich seine Bereitschaft zu finanziellen Opfern mit einer weitgehenden Kontrolle über den ESM honorieren lassen. Holland, das traditionell seine nationale Selbständigkeit als kleines Land zwischen England, Frankreich und Deutschland zu behaupten trachtet, versucht das zu verhindern. Im Ziel einer rigorosen Kontrolle ist man sich mit Deutschland einig. Aber nicht darin, wer diese Kontrolle ausüben soll.



Am Ende des Artikels geht Stratfor auf die innenpolitische Lage in Deutschland ein: Deutschland müsse endlich eine offene Debatte über seine nationalen Interessen führen.

Es ist in der Tat zu hoffen, daß eine solche Debatte in den kommenden Monaten stattfindet; bis zur Abstimmung über den ESM im Dezember. Es kann doch - sollte man meinen, meint man jedenfalls im Ausland - nicht angehen, daß eine so wichtige Weichenstellung für die Zukunft Deutschlands und Europas ohne eine kontroverse Diskussion getroffen wird.

Die Gefahr, daß es so laufen wird, ist seit gestern deutlich geringer geworden. Das ist das Verdienst einer Gruppe von FDP-Abgeordneten um Frank Schäffler sowie des Altliberalen Burkhard Hirsch, die gemeinsam einen Mitgliederentscheid in der FDP gegen den Beitritt Deutschlands zum ESM anstreben. Dazu heute FAZ.NET:
Schäffler strebt den Mitgliederentscheid für November an. Der Bundestag soll im Dezember über den ESM entscheiden. Schäffler sieht den Mitgliederentscheid als einen Weg, die "großen Meinungsunterschiede zwischen der Parteibasis und den Funktionsträgern" zu überwinden. "Die FDP muss wieder mehr über ihre Inhalte diskutieren", sagte Schäffler der F.A.S. In der Vergangenheit sei zu wenig offen diskutiert worden. "Wir brauchen plebiszitäre Elemente, damit Mitglieder nicht nur konsumieren dürfen, sondern mitentscheiden können", sagte Schäffler. Das mache auch die Partei attraktiver.
In der Tat. Es geht um Europa, es geht um die künftige Rolle Deutschlands. Es wäre ein Unding, wenn Entscheidungen dieser Reichweite über die Köpfe der Bürger, über die Köpfe sogar der Mitglieder der Regierungsparteien hinweg getroffen werden würden. Wie immer die Mitglieder der FDP sich entscheiden: Falls es zu dem Mitgliederentscheid kommt, dann wird innerhalb der FDP offen gestritten werden; dann wird sich diese Diskussion auch in die Öffentlichkeit hinein fortsetzen. Näheres zu dem jetzt eingeleiteten Verfahren finden Sie in Frank Schäfflers Artikel beim Antibürokratieteam.

FAZ-NET erwähnt einen Brief Schäfflers an den FDP-Generalsekretär Lindner, welcher der F.A.S. vorliege. Auch mir liegt dieser Brief vor, und ich möchte seinen Anfang zitieren:
Sehr geehrter Herr Lindner,
die Diskussion in der FDP über weitere Rettungsmaßnahmen für überschuldete Staaten in Europa ist eine wichtige politische Frage und erfordert eine breite Diskussion in der FDP. Wir beantragen daher hiermit nach § 21 der Bundessatzung der FDP einen Mitgliederentscheid.
Eigentlich sollte es in einer lebendigen Demokratie eine bare Selbstverständlichkeit sein, daß eine so wichtige Frage eine breite Diskussion erfordert; innerhalb wie außerhalb der Parteien.

Daß Frank Schäffler und seine Mitunterzeichner zu Recht auf diese Selbstverständlichkeit aufmerksam machen und ihre Realisierung einfordern müssen, wirft ein Schlaglicht darauf, in welchem Maß Deutschland im Konsens zu versinken droht.

Im von oben verordneten Konsens; gefördert freilich durch unsere Neigung zur kollektiven Besoffenheit. Welche andere Partei sollte da ein Korrektiv sein, wenn nicht die liberale Partei?
Zettel



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