31. Juli 2009

Wie im Jahr 1972 in Bochum eine Kulturrevolution Einzug hielt. Erinnerungen an Peter Zadek

Als Peter Zadek im Jahr 1972 nach Bochum kam, hatte das dortige Schauspielhaus in 53 Jahren zwei Intendanten gehabt: Saladin Schmitt von 1919 bis 1949 und Hans Schalla von 1949 bis 1972. Beide waren herausragende Theaterleute gewesen und hatten mit dem Bochumer Schauspiel eines der besten, der angesehendsten deutschen Theater geschaffen.

Schmitt und Schalla waren ebenso exzellente wie konservative Regisseure. Bis Zadek die Intendanz übernahm, war Bochum ein typisches bürgerliches Abonnement- Theater. Mit einem weiten Einzugsbereich im Ruhrgebiet und darüber hinaus; in Bochum selbst aber außerhalb des Bildungsbürgertums eher ein Fremdkörper.

Zumal 1972, als Bochum Universitätsstadt geworden war. Die Ruhr- Universität hatte zum Wintersemester 1965/66 den Lehrbetrieb aufgenommen. Studenten gingen zu Schallas Zeiten kaum ins Theater; auch ich, damals Assistent an der Uni, fand dieses Theater nicht sehr aufregend.

Nicht sehr aufregend, und spießig dazu. Man legte, das verstand sich von selbst, einen dunklen Anzug an; es herrschte die Atmosphäre einer Weihestunde. Theater eben als moralische Anstalt. Gelacht wurde nur, wenn man ganz sicher sein konnte, daß an der betreffenden Stelle Lachen vorgesehen und erwünscht war.



Dann kam Zadek. Nein, das ist zu schwach ausgedrückt. Er fiel ein in Bochum; er und seine schrille, verrückte, begeisterte, ganz auf ihn fixierte Truppe. Er nahm das Theater im Handstreich und ließ keinen Stein auf dem anderen.

Da bekam nicht ein Theater einen neuen Intendanten, sondern da kam ein Intendant, der ein neues Theater wollte. Nicht einfach nur neue, andersartige Inszenierungen, sondern wirklich ein neues Theater.

Flugs wurde das Theater umgetauft: Aus dem Schauspielhaus Bochum wurde "BO-Theater". BO, das ist das KfZ- Kennzeichen von Bochum. Dieses neue Theater bot keineswegs nur Inszenierungen. Es wurde eine Art populäres Kulturzentrum; das Zentrum einer bunten, oft chaotischen, immer spannenden Kultur.

Beispielsweise führte Zadek das "BO- Weekend" ein. Zwei Tage lang Spektakel aller Art im Theater - Zauberer, Tanztruppen, Musikanten, Hypnotiseure, wilde Diskussionen (einmal saß Rainer Werner Fassbinder auf dem Podium und bot seine unnachahmliche Mischung aus Arroganz und Flegelei dar).

Man löste einmal eine Eintrittskarte und konnte damit zwei Tage - und teils Nächte - lang nach Belieben kommen und gehen; auch jederzeit die Darbietung im Großen Haus verlassen und nachsehen, was gerade in den Kammerspielen los war, oder wo immer gerade gespielt und diskutiert wurde. Oder - statt im Foyer an seinem Piccolo zu nippen- sich auf dem Theater- Vorplatz mit Currywurst, Pommes, Erbsensuppe oder Fiege Pils stärken.

Innerhalb von Monaten veränderte sich das Publikum. Schüler und Studenten strömten ins Theater, nicht mehr im Kleinen Schwarzen und dunklen Anzug, sondern in Pullover und Jeans. Es gab eine Zusammenarbeit mit dem Fußballverein VfL Bochum. Dessen Mitglieder durften verbilligt ins Theater.

Viele kauften kein klassisches Abonnement mehr, sondern als Wahlmieter eine bestimmte Zahl von Gutscheinen, die man beliebig innerhalb der betreffenden Preisgruppe verwenden konnte. Beispielsweise, wenn einem der Sinn danach stand, indem man eine Gruppe Freunde einlud und alle Gutscheine an einem einzigen Abend aufbrauchte.

Und Zadek war immer mittendrin. Jeder, der häufiger ins Theater ging, kannte ihn, wie er mal vorn saß, mal während der Aufführung leise hereinkam und an der Tür stand, mal in der Pause durch das Foyer wanderte und mit Diesem und Jenem ein paar Worte wechselte. Immer den Pullover um die Schultern gelegt; das war sein Markenzeichen.

Er war der Hausherr in einem sehr wörtlichen Sinn; es war klar, daß das Theater sein Zuhause war, so wie die Truppe seine Familie.



Und was für eine Truppe! Rosel Zech, Eva Mattes, Hannelore Hoger, Carola Regnier; Ulrich Wildgruber, Hermann Lause, Heinrich Giskes, Fritz Schediwy, Hans Mahnke.

Viele Schauspieler auch, die später im Film und im TV Karriere machten: Diether Krebs, Christoph Eichhorn, Robert Atzorn; Marie Luise Marjan, Brigitte Janner, Elisabeth Wiedemann. Und ein gewisser Herbert Grönemeyer, der - damals ging er noch auf ein Bochumer Gymnasium - in einer Beatles- Revue sein Debüt als Schauspieler und Bühnenmusiker gab.

Und was für Regisseure, kreativ wie Zadek selbst! Der Tscheche Jiří Menzel, der eine fulminante Inszenierung der "Lysistrata" hinlegte. Werner Schroeter, mit seinem unverwechselbaren Regiestil hart an der Grenze zum Kitsch. Hans Neuenfels.

Und Joachim Preen, ein junger Mann, Schüler von Zadek, der gern Revuen inszenierte; zum Beispiel "Schwarzer Jahrmarkt", von Günter Neumann (dem "Insulaner") im Jahr 1947 geschrieben. Eine witzig- nachdenkliche, vor allem aber eine musikalische Schilderung der Umstände, unter denen man damals in Deutschland lebte. Eine "Revue der Stunde Null", so der Untertitel.

Und dann natürlich die Inszenierungen von Zadek selbst. Wir haben keine ausgelassen; jede war ein Erlebnis.

In den gestrigen Nachrufen - am besten hat mir der von Gerhard Stadelmaier in der FAZ gefallen - wurden immer wieder die Shakespeare- Inszenierungen hervorgehoben. Zu Recht:

Der "Kaufmann von Venedig" mit dem grandiosen Hans Mahnke als einem Shylock, der glaubt, besonders schlau zu handeln, und der am Ende von den einander die Bälle zuspielenden Christen gnadenlos niedergemacht wird. Der "König Lear", den Zadek nicht als einen gebrechlichen alten Mann spielen ließ, sondern den er mit dem lauten, ungebärdigen Ulrich Wildgruber besetzte. Selten hat man entsetzliches Leid so auf der Bühne gesehen.

Dann natürlich Zadeks Abschiedsinszenierung in Bochum, der "Hamlet", den er in einer stillgelegten Fabrik im Arbeiterbezirk Bochum- Hamme aufführte, mit der grandiosen Eva Mattes als Königin, und als Polonius Rosel Zech, die einen grauen, sabbelnden Besserwisser in Szene setzte.

Aber das war nur die eine Seite dieses BO-Theaters. Zadek kam ja vom Boulevard- Theater; und immer wieder inszenierte er das Leichte. Zum Auftakt 1972 eine Revue von Tankred Dorst nach "Kleiner Mann, was nun?" von Hans Fallada. (Ein Jahr danach folgte eine Dorst- Uraufführung; das Stück "Eiszeit", in dem O.E. Hasse einen altersstarren, in seiner Kälte eindrucksvollen Knut Hamsum spielte). Später Brendan Behans "Die Geisel", voll irischer Musik. Oder ein dramatisierter "Professor Unrat"; irgendwo zwischen Heinrich Manns Orginal und dem "Blauen Engel" angesiedelt.

Dann gab es die Klassiker, mit denen sich Zadek immer besondere Mühe gab: Wedekinds "Frühlings Erwachen". Tschechows "Möwe", nicht als die übliche traurig- komische Beziehungskiste inszeniert. Nein, da flogen die Fetzen, die psychischen.

Und vor allem Ibsens "Hedda Gabler" mit der umwerfenden Rosel Zech in der Titelrolle, mit Ulrich Wildgruber und Hermann Lause (und der kleinen, damals schon hochbetagten Johanna Hofer als Tante Julle). Jede Szene ausgefeilt. Wochenlang hatte Zadek mit seinen Schauspielern jede Rolle diskutiert, die Motive der Handelnden zu verstehen versucht, den Text auf Andeutungen und Doppelsinn abgeklopft.

Er war ein fordernder Regisseur, aber kein Dompteur wie Fassbinder. Er ließ die Schauspieler sich entfalten

Oder vielmehr: Er ermunterte sie, alles aus sich herauszuholen, an ihre Grenzen zu gehen. Seine Schauspieler waren oft keine Verwandlungskünstler; Wildgruber spielte immer Wildgruber, Hoger war mit ihrer warmen, mütterlichen Stimme immer Hannelore Hoger. Aber wie spielten sie das! Und sie wurden vom Publikum geliebt; auch der immer mürrische, immer irgendwie verdruckst wirkende große leise Schauspieler Hermann Lause.



Ich bin damals, in dieser Zeit des BO- Theaters zwischen 1972 und 1979, für das Theater sozialisiert worden. Theater ist für mich seither vor allem ein Vergnügen. Wenn ich ins Theater gehe, dann möchte ich überrascht werden; ich möchte mich am Unerwarteten, Verblüffenden, an Regieeinfällen freuen. Ich möchte Inszenierungen sehen, die nicht ihre Interpretation sozusagen auf die Stirn geschrieben tragen; über die man nach dem Theater diskutieren, vielleicht streiten kann.

Vielschichtige Inszenierungen also. Solche, denen man anmerkt, wie Regisseur und Schauspieler gemeinsam gearbeitet haben, statt daß der Regisseur die Schauspieler das "spielen läßt", was er sich ausgedacht hat.

So waren die Inszenierungen Zadeks. Oft mit Brüchen, manchmal aus dem Ruder laufend. Die Grenzen der Genres sprengend; mit Lustigem in der Tragödie, mit Sozialkritik in Revue und Musical. Nur eines waren sie nie: langweilig. Langeweile ist tödlich für das Theater. Das war das Credo von Peter Zadek.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Bochumer Schauspielhaus, Saladin- Schmitt- Platz. Vom Autor Stahlkocher unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 freigegeben. Bearbeitet.