17. August 2006

Eine deutsche Diskussion

Günter Grass ist ein deutscher Schriftsteller. Vielleicht kann man sagen, ein deutscher Dichter. Er ist ein deutscher Träger des Nobelpreises für Literatur, nach Theodor Mommsen, Rudolf Christian Eucken, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hermann Hesse (damals, 1946, Schweizer Staatsbürger), Nelly Sachs (damals, 1966, schwedische Staatsbürgerin) und Heinrich Böll.

Eine illustre Liste. Daß sie die bedeutendsten Schriftsteller deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts umfaßt, wird man nicht sagen können. Kafka, Musil, Döblin, Benn, Brecht, Max Frisch, Paul Celan, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Adolf Muschg, W.G. Sebald und Martin Walser beispielsweise haben diesen Preis nicht bekommen.

Wie auch immer - Grass ist durch den Nobelpreis als bedeutender Schriftsteller sozusagen zertifiziert.

Dieser bedeutende deutsche Schriftsteller hat sich - so haben wir nun erfahren - im Alter von 15 Jahren freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet, die aber, so sagt er es im Interview mit der FAZ, damals niemanden mehr genommen habe. Doch war er dadurch, so kann man vermuten, auf die Liste potentieller Freiwilliger geraten; und als 17jähriger wurde er, so sagt er, zur Waffen-SS einberufen, in der er als Angehöriger der zehnten SS-Panzerdivision "Frundsberg" diente.



Also? Zehn Prozent aller deutscher Soldaten gehörten, so war es gestern zu erfahren, bei Kriegsende der Waffen-SS an. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Grass sich als Soldat irgend etwas hat zuschuldenkommen lassen. Er hatte das Schicksal eines Deutschen seiner Generation, das ist alles.

Nun hat aber dieses "Geständnis" (so die NZZ vom 14. August) einen Wirbel ausgelöst, der auf dem besten Weg ist, zum Hurrikan zu werden. Es wurde ja schon allen Ernstes gefordert, Grass nunmehr den Nobelpreis abzuerkennen, und die Ehrenbürgerschaft von Danzig. Das hat Walesa allerdings heute abend dementiert.



Mich interessiert nicht im Geringsten, wie Grass' Verhalten zu bewerten ist - weder seine jugendliche Begeisterung, die ihn in die Waffen-SS gebracht hat; noch seine persönliche Entscheidung, über diesen Aspekt seiner Biographie lange zu schweigen und ihn jetzt mitzuteilen.

Das war und ist seine Sache. Es geht mich nichts an; es geht niemanden außer ihm (und allenfalls seine engsten Freunde) etwas an.

Ich kann das Verhalten von Grass weder besonders löblich noch besonders vorwerfbar finden. Ich habe ihn nie für einen auffällig moralischen Menschen gehalten und nie für einen ungewöhnlichen Heuchler. Was jetzt zutage getreten ist, entspricht meinem Bild von ihm: Einer, der mit dem Wort umgehen kann. Ansonsten ein Durchschnittsmensch, wie die meisten von uns. Ungewöhnlich allenfalls durch seine Doppelbegabung als schreibender und bildender Künstler.



Die gegenwärtige Aufregung läßt mich also kalt. Genauer: Sie läßt mich kalt, was Grass und sein Handeln angeht. Sie interessiert mich aber schon, was die deutsche Gesellschaft und ihre Reaktion angeht.

Was motiviert diese öffentliche Aufgeregtheit? Wie kommt es, daß eine Episode im Leben eines Mannes, der ja nicht wegen seiner Biographie, sondern wegen seiner litarischen Texte bekannt ist, zu einer so lebhaften, so affektgeladenen Diskussion führt?

Was veranlaßt quer durch das Kulturleben Diese und Jene, uns mitzuteilen, was sie von Grass' Biographie halten, von seinem Umgang mit dieser Biographie?

Und wie kommen eigentlich nahezu alle, die sich "zu Wort melden", dazu, sich eine klare Meinung pro oder contra zu bilden?

Mit welchem Recht, auf welche Weise? Wie Mitglieder einer Jury, die zwischen "schuldig" und "nicht schuldig" zu entscheiden hat, so teilen sich die Literaturkritiker, die Historiker, die Literaten, die Journalisten usw., die ihre Meinung zu Papier oder zu Gehör bringen, in eine Fraktion, die Grass sein Schweigen ankreidet, und in eine Gegenfraktion, die dafür Verständnis äußert.

Ist das nicht seltsam? Jedenfalls finde ich es erklärungsbedürftig.



Erklärungsversuch eins: Die schärfsten Kritiker der Elche.

Grass versteht sich als écrivain engagé. Wieweit das auf Eindrücke aus seiner Pariser Zeit zurückgeht, weiß ich nicht; vielleicht erfährt man etwas darüber in seiner Autobiographie. Jedenfalls gehört er zu denjenigen Schriftstellern, die sich nicht darauf beschränken wollen, gute Literatur zu produzieren, sondern die sich - warum auch immer - berufen, berechtigt und auch befähigt fühlten, ihre moralische Position und ihre politische Meinung öffentlich mitzuteilen.

Nun erweist er sich selbst als moralisch anfechtbar. Und nun trifft ihn die Häme, die klammheimliche Freude von vielen, denen seine Moralisiererei immer auf die Nerven gegangen ist. Es ist eine ähnliche Reaktion wie die auf die Entlarvung Michel Friedmans, auch er ein unermüdlicher Moralist, als Liebhaber von Nutten und Rauschgift. (Es ist, denke ich, eine psychologisch ähnliche Reaktion; ansonsten liegen die beiden "Fälle" natürlich ganz verschieden).



Erklärungsversuch zwei: Die Fallhöhe.

Grass hat sich zunehmend in eine Rolle hinein entwickelt, die vor ihm in Deutschland eigentlich nur Gerhart Hauptmann innegehabt hatte (falls man nicht gleich bis zu Wieland und Goethe zurückgehen will): Die des Dichterfürsten, des Primus inter Pares. Er ist der Poeta Doctus. Er ist derjenige, der sich Fontane so nah fühlt, daß er ihm mit dem seltsam überkonstruierten Roman "Ein weites Feld" sozusagen auf den Leib zu rücken versuchte. Derjenige, der den Nobelpreis entgegennahm wie ein mittelalterlicher Fürst die Salbung durch den Papst, nachdem er von den Kurfürsten schon längst zum Kaiser bestimmt worden war.

Und dieser über allen Schwebende fällt nun auf die Schnauze. Das ist tragisch, und es ist komisch. Jedenfalls regt es unsere Phantasie an. Und erklärt insofern, denke ich, dieses große öffentliche Interesse.



Aber ich fürchte, mit diesen beiden einander ergänzenden psychologischen Erklärungen kommen wir nicht aus. Die Diskussion hat ja einen unüberhörbar politischen Unterton.

Also, Erklärungsversuch drei: Diese Diskussion ist so etwas wie eine Ausfüllung des Schemas: Ihr Älteren seid alle Faschisten gewesen.

Das war das Schema, das zu den Verbrechen der RAF geführt hatte (und das, fürchte ich, erhebliche Teile der Generation der um 1945 Geborenen zu mehr oder weniger klammheimlichen Sympathisanten dieser Verbrecher gemacht hat, wenn auch nur anfangs).

Es ist das Schema, das die absurden Vorwürfe gegen Martin Walser, er sei ein Antisemit, hervorgebracht hat. Es ist das Schema, aufgrund dessen der große Journalist Werner Höfer zum Paria gestempelt wurde; unter kräftiger Mithilfe ausgerechnet des Senders, der ihm so viel zu verdanken gehabt hatte. Es ist ein Schema, von dem ich eigentlich gehofft hatte, daß es mit dem Generationswechsel allmählich verblaßt.

Vielleicht tut es das ja. Vielleicht ist dieses Theater um nichts, dieses beaucoup de bruit pour une omelette, so etwas wie das Satyrspiel nach der Tragödie. Die Travestie der schlimmen und notwendigen Auseinandersetzungen, die es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mit denjenigen gegeben hat, die tatsächlich biographisch verstrickt gewesen sind in das verbrecherische Nazi-System.



Das könnte nun mit dieser letzten, unfreiwillig komischen Variante "Grass war mit 17 Jahren in der Waffen-SS und hat es nicht gesagt" zu Ende gehen. Mit der Anwendung des Schemas auf einen harmlosen Fall - so offensichtlich harmlos, daß daran vielleicht evident wird, wie wenig brauchbar das Schema heute noch ist, mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Eine gleich intensive, gleich hartnäckige Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Kommunisten in der DDR steht uns allerdings noch bevor.

Hoffentlich.