18. Mai 2012

Merkel und Röttgen: Die Ereignisse von Sonntag bis Mittwoch. Und was war Merkels Motiv? Eine Erklärungslücke

Daß die zu Ende gehende Woche für die Kanzlerin gut verlaufen wäre, wird man nicht sagen können. Ihre Partei hat eine wichtige Wahl verloren. Sie hat einen wichtigen Minister verloren; einen, der lange Zeit einer ihrer Vertrauten gewesen war.

Daß sie dafür viel gewonnen hätte, ist nicht zu sehen. Mehr Macht? Mehr Autorität und Ansehen? Die schneidende Kälte, die sozusagen Schröder'sche Art, in der sie sich des Ministers Röttgen entledigt hat, dürfte da nicht hilfreich gewesen sein.

Allmählich wird bekannt, wie es zu dem für die Kanzlerin beispiellosen Akt des Rausschmisses von Norbert Röttgen gekommen ist. In der FAZ hat Günter Bannas, Chef von deren Berliner Büro und immer bestens informiert, die Geschehnisse nachgezeichnet; in "Welt-Online" hat es Robin Alexander getan, auch er stets mit der Hand am Puls des Berliner Geschehens.

Es war, wenn diese - und in anderen Medien ähnliche - Darstellungen zutreffen, eine klassische Eskalation. Die Dinge entwickelten sich hin zu einem Ergebnis, das niemand von den Akteuren gewollt hatte:
  • Sonntag: Den Parteien stehen an einem Wahltag die Daten der Exit Polls schon vor 18.00 Uhr zur Verfügung. Als sich das Desaster abzeichnet, telefonieren Merkel und Röttgen gegen 17.00 Uhr miteinander. Röttgen kündigt seinen Rücktritt als Landesvorsitzender an. Man vereinbart ein persönliches Gespräch am Mittwoch. Zu diesem Zeitpunkt hat die Kanzlerin also offenkundig noch nicht den Entschluß gefaßt, sich von Röttgen im Handstreich zu trennen. Röttgen nimmt an, bei dem Gespräch werde es um die Wahlanalyse und seine weitere Arbeit als Umweltminister gehen.

  • Als das Wahlergebnis auch für die Öffentlichkeit feststeht, beginnt Röttgen eine Serie von Ungeschick­lichkeiten; am Wahlabend und an den darauffolgenden Tagen. Er wirkt fahrig und äußerte sich wenig kohärent; der "Elefantenrunde" im WDR bleibt er ganz fern.

    Wie wenig präsent er ist, zeigt sich am Montag. Zuerst mittags vor der Bundespressekonferenz in Berlin, wo er, neben der Kanzlerin stehend, eine miserable Vorstellung bietet (siehe Norbert Röttgen, Hannelore Kraft; ZR vom 14. 5. 2012). Dann auf der abendlichen Sitzung des CDU-Landesvorstands in Düsseldorf, auf der er, so eine Quelle von Bannas, eine "katastrophale Sitzungsleitung" hinlegt. Es entsteht der Eindruck, er wolle sich aus Düsseldorf abseilen, ohne für eine geordnete Nachfolge zu sorgen.

  • Am Montag tagen in Berlin das Präsidium und dann der Vorstand der CDU. Kritik an Röttgen wird dort allenfalls angedeutet. Auf der erwähnten Presse­konferenz spricht die Kanzlerin den Satz "Die Kontinuität der Aufgabenerfüllung ist notwendig, um die Energie­wende gestalten zu können".

    Kontinuität? Das muß zu diesem Zeitpunkt so interpretiert werden, daß Röttgen sein Amt behalten wird. Forderungen nach einem Rücktritt sind ja auch bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich aus den Reihen der Opposition gekommen. Im Nachhinein kann man den Satz allerdings auch anders interpretieren. Von personeller Kontinuität hatte die Kanzlerin nicht gesprochen.

  • Am Montag Abend wird ein Video bekannt, das ein sogenanntes "Nachgespräch" beim "heute-Journal" des ZDF zeigt. Nach einem Interview pflegen die Interviewpartner noch ein paar lockere Worte zu wechseln. Das wird aufgezeichnet, soll aber natürlich nicht gesendet werden. In diesem Fall ist die Aufzeichnung an die Öffentlichkeit gelangt.

    Der CSU-Chef Seehofer redet auf diesem Video gegenüber Claus Kleber Klartext und beschwert sich über Röttgen, der sich dem Rat verweigert habe, klar zu sagen, daß er auch als Oppositionsführer nach Düsseldorf gehen würde. "Persönlich hat er mich dann abtropfen lassen" sagt Seehofer bitter, und zum Schluß: "Sie können das alles senden, was ich gesagt habe. Weil ich jetzt wirklich entschlossen bin, daß wir da was ändern. Und wir werden es ändern". Was? Auch das kann man als Ankündigung dessen interpretieren, was Röttgen dann treffen sollte.

  • Bis Dienstag Morgen scheint sich die Kanzlerin aber noch nicht entschieden zu haben. Am Vormittag sagt ihr Vertrauter Kauder auf die Frage, ob Röttgen bleiben könne, "Er kann". An diesem Tag findet eine Sitzung der CDU-Fraktion in Berlin statt. Die Kanzlerin hört an deren Rande, wie unzufrieden Abgeordnete mit Röttgen sind. Offenbar regen sich jetzt alle diejenigen, die mit Röttgen - warum auch immer - noch Rechnungen offen haben.

    Das Gespräch Röttgens mit Merkel findet entgegen der ursprünglichen Vereinbarung bereits an diesem Dienstag im Kanzleramt statt. Es ist jetzt gegen 17 Uhr, und zu diesem Zeitpunkt hat Merkel entschieden, daß Röttgen gehen muß. Sie teilt ihm das mit und schlägt vor, daß er zurücktritt und sie das anschließend bedauert und seine Verdienste würdigt.

    Über den Verlauf des Gesprächs kursieren unterschied­liche Darstellungen. Jedenfalls scheint die Kanzlerin Röttgen zu verstehen gegeben haben, daß er in ihren Augen seine Aufgaben bei der Energiewende nicht mehr erfüllen könne; er hat das in dem Gespräch natürlich bestritten. Röttgen lehnt einen Rücktritt ab. Es wird offenbar heftig. Man vereinbart ein weiteres Gespräch nach der Kabinettssitzung am Mittwoch.

  • Dieses Gespräch ist kurz: Röttgen verweigert weiter den Rücktritt. Offenbar ist er zu dem Schluß gekommen, daß es für ihn günstiger ist, wenn er die Kanzlerin zwingt, ihn zu entlassen. Nach diesem Gespräch ruft sie den Bundespräsidenten an und spricht mit Peter Altmaier. Um 15.55 meldet Reuters, Röttgen werde zurücktreten. Es wird dann ein Presseauftritt der Kanzlerin angekündigt. Er beginnt gegen 16.30 Uhr.
  • Soweit die Fakten, wie sie bisher bekannt wurden; die dürren Fakten, sollte man wohl sagen. Denn die Motive bleiben unklar.



    Sie besagen, diese Fakten, daß die Kanzlerin die barsche Entlassung von Röttgen nicht beabsichtigt gehabt hatte, daß dieser sie aber in Zugzwang brachte, nachdem sie sich einmal entschieden hatte, daß er gehen müsse. Insofern war dies ein Ergebnis, daß beide nicht gewollt hatten; wie oft bei derartigen Eskalationen.

    Aber warum wollte die Kanzlerin ihren Minister Röttgen überhaupt unbedingt loswerden? Und warum wählte Röttgen, nachdem sie das nun einmal so beschlossen hatte, nicht den Weg, sich souverän zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten; wohlversehen mit freundlichen Worten des Danks und des Bedauerns seitens der Kanzlerin? Er wäre in einer guten Position zu einem Wiederaufstieg gewesen; wenn auch nicht einem ganz schnellen. Er hat noch viel Zeit; im Juli wird er 47.

    Man kann diese Röttgen betreffende Frage psychologisch zu beantworten versuchen (siehe das Szenario 2 "Psycho"; Was steckt hinter Röttgens Entlassung? Drei mögliche Szenarien; ZR vom 16. 5. 2012). Der Mann wird als ein Narziß geschildert, als "egoistisch und autistisch", so Bannas in dem Artikel der FAZ. Der Absturz bei den Wahlen hat dem erfolgsverwöhnten Musterschüler offenbar schwer zu schaffen gemacht.

    Daß er den Weg des Rücktritts ablehnte, mag die Reaktion einer beleidigten Leberwurst sein. Wenn die Kanzlerin ihn schon schädigt, dann soll sie selbst wenigstens auch nicht unbeschädigt aus der Sache hervorgehen; das mag er sich gedacht haben. Jetzt steht sie als eiskalte Machtpolitikerin da; das immerhin hat er im Fallen noch erreicht.

    Und er steht als das Opfer da. Vielleicht - das vermutet Robin Alexander in "Welt-Online" - erhofft er sich von dieser Rolle etwas für seine Zukunft; vielleicht ist es eine "politische Strategie", sich so zu präsentieren. Jedenfalls könnte er jetzt den Kern einer Fronde von Unzufriedenen bilden, die irgendwann gegen die Kanzlerin rebellieren.

    Und diese selbst, Angela Merkel? Ihr Motiv war mir am Mittwoch unklar; es ist dies weiterhin.

    Röttgen ist ein guter, ein effizienter Politiker. Niederlagen gehören in der Politik zum Geschäft; er hätte sich davon erholt. Er hätte sich nach der verlorenen Wahl erst recht angestrengt, als Umweltminister erfolgreich zu sein. Er wäre für die Kanzlerin keine Gefahr mehr als möglicher Konkurrent gewesen; ihr vielleicht sogar dankbar, wenn sie ihm diese Chance gegeben hätte, sich zu rehabilitieren. Warum gab sie ihm diese Chance nicht? Ihm, dem alten Vertrauten?

    Konnte es denn ihre Überlegung gewesen sein, daß Peter Altmaier bei der Durchsetzung der "Energiewende" das hinbekommen wird, was Norbert Röttgen zu leisten unfähig gewesen wäre? Unwahrscheinlich; sehr unwahrscheinlich. Er wird vor denselben Problemen stehen; diese sind ja objektiver Art. Ganz abgesehen davon, daß die Kanzlerin jetzt Altmaier in der wichtigen Funktion des Fraktions­geschäfts­führers verloren hat.

    Oder liegt das Motiv wo ganz anders? Wollte die Kanzlerin vermeiden, daß sie selbst, daß die Bundes-CDU in den Sog der Niederlage in NRW gezogen wird? Dann hat sie das Gegenteil erreicht. Es gibt jetzt so etwas wie eine Affäre Merkel-Röttgen. Und selbst wenn Röttgen pariert hätte und von sich aus zurückgetreten wäre, dann hätte man das doch gerade als ein Signal dafür verstanden, wie eng Landes- und Bundespolitik verflochten sind.



    Nein, das ist alles wenig einleuchtend. Es gibt eine Erklärungslücke. Es müssen wohl Faktoren existieren, es muß Motive oder ein Motiv über das oben Gesagte hinaus geben. Etwas, das Journalisten bisher nicht zugetragen wurde.

    Geht es um Koalitionsfragen?

    Seehofer ist vorgeprescht; irgendwer muß ja das ZDF-Video auch an die Öffentlichkeit lanciert haben. Von Rösler ist bekannt, daß es zwischen ihm und Röttgen kriselte. Bei der "Energiewende" überschneiden sich die Zuständigkeiten der beiden Ministerien. Für den Netzausbau beispielsweise ist Röslers Wirtschaftsressort zuständig.

    Ihre Erfolge in Kiel und Düsseldorf machen es wieder wahrscheinlich, daß die FDP es 2013 in den Bundestag schafft; vielleicht sogar mit einem ordentlichen Ergebnis. Röttgen steht seit langem für die schwarzgrüne Option. Stecken also koalitionsstrategische Überlegungen hinter der Entscheidung der Kanzlerin?

    Oder ist doch das der Fall, was ich am Mittwoch als das Szenario 3 (das Agenda-2010-Szenario) skizziert habe? Ist der Kanzlerin inzwischen klargeworden, welch ein Fehler die Radikalität der "Energiewende" gewesen war, und bereitet sie ein Umsteuern vor, vergleichbar Schröders Agenda 2010? Ein Umsteuern, das mit Röttgen nicht möglich wäre, der sozusagen die personifizierte Energiewende ist?



    Das sind zwei Möglichkeiten. Vielleicht liegt das Motiv aber auch in einem ganz anderen Bereich. Historiker vergnügen sich ja gern damit, darüber zu mutmaßen, warum ein Akteur eine bestimmte Entscheidung traf. Wir können das jetzt sozusagen ereignisbegleitend üben; history in the making
    Zettel



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