22. August 2023

Wettlauf zum Mond





(TIME Magazine vom 19. Januar 1959. Das Titelbild stammt von Boris Artzybasheff. Den Wettbwerb um die ersten Bilder von der bis dahin nie gesehenen Rückseite des Mondes gewann die Sowjetunion, deren Sonde Luna-3 am 7. Oktober insgesamt 17 Photos der Mondrückseite.)

Coda. Das Ende der Geschichte zuerst.

Wie es am Sonntag sämtliche Nachrichtenkanäle rund um die Welt gemeldet haben und wie es die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos vorgestern morgen um 10 Uhr 47 Mitteleuropäischer Sommerzeit offiziell bestätigt hat, ist das bizarre (und ungeplante) „Wettrennen zum Mond“ zwischen der indischen Mondsonde Chandrayaan-3 und ihrem russischen Pendant Luna-25 am Samstagmittag vorzeitig zu Ende gegangen. In meinem letzten Beitrag zum Thema an dieser Stelle habe ich damit geendet, „[ein] Auge darauf werfen, ob nicht auch diese Ausflüge nur mit zwei weiteren Trümmerfeldern am Südpol des Mondes enden“ (Zettels Raum vom 10. August). Diese flapsige Bemerkung hat sich leider als Prophetie erwiesen. Eingeleitet wurde dieses Ende durch das Kommando zur Zündung des Hauptriebwerks, durch das der Lander von seiner kreisförmigen Umlaufbahn in 100 km Höhe über der Mondoberfläche auf einen Orbit abgebremst werden sollte, der ihn bis auf 18 Kilometer während der größten Nähe absenken sollte. Von dort sollte heute, am 21. August, die Landung nicht weit vom Mondsüdpol entfernt erfolgen. Nachdem der Funkbefehl um 14:10 Moskauer Zeit (13:10 MESZ) von der Bodenkontrolle Центр управления полётами (oder kurz „TsUP“) an der Pionerskaja Ulitza in Koroljow, gute 20 Kilometer südlich der Moskauer Stadtgrenze an den Lander gefunkt wurde, soll es nach Angaben von Insidern, die gestern in russischen sozialen Medien zitiert wurden, zu einer Schubleistung des Treibwerks gekommen sein, die um 50 Prozent über dem vorgesehenen Wert lag. Durch diese viel zu hohe Abbremsung wurde die Sonde auf eine Bahn gebracht, deren Periselenum (oder größte Annäherung an den Mittelpunkt des Mondes) unterhalb der Oberfläche lag. Eine Dreiviertelstunde und einen halben Mondumlauf später zerschellte der 1,7 Tonnen schwere Lander um 14:57 MESZ, 7 Tage, 12 Stunden und 47 Minuten nachdem die Trägerrakete des Typs Sojus 2.1b von der Startrampe 1S im Raumhafen Wostochni im Fernen Osten Sibiriens abgehoben hatte. In einem jener gespenstischen Zahlen-Zufälle, in denen ich hier gerne (scherzhalber) die Signatur der Programmierer der Matrix vermute (die wir für „die Wirklichkeit“ halten) erfolgte diese Havarie auf den Tag genau 47 Jahre nach dem Datum, als unmittelbare Vorgängermission, Luna-24, mit 170 Gramm Mondgestein an Bord am 19. August 1976 um 8:25 Moskauer Zeit vom Mare Crisium aus zurück zur Erde startete. (Noch gespenstischer wird dieses kalendarische „Sich-Reimen,“ wenn man sich daran erinnert, daß es auch an einem weiteren 19. August, dem des Jahres 1960, war, als es der amerikanischen Air Force zum ersten Mal gelang, die Filmkapsel eines Satelliten aus dem Programm des CORONA-Aufklärungsprogramms, dem Kunstmond Discoverer XIV, mit Hilfe eines Flugzeugs – einer Fairchild C119J-FA, „Flying Boxcar“ genannt – in der Luft gute 600 Kilometer südwestlich von Hawaii zu bergen. Sieben der 17 Erdumläufe von Discoverer XIV hatten über „verbotenes Gebiet“ im Ostblock geführt – und zu den Aufgaben des Programms gehörte die Erkundung der sowjetischen Kosmodrome – damals drei an der Zahl: Baikonur, Plesetsk und Kapustin Jar. Auf das CORONA-Programm werde ich noch weiter unten zurückkommen.)



(Mitteilung von Roskosmos auf Instagram am 20. August über den Verlust von Luna-25) ­

I.

Wenn man so will, ist die „heiße Phase“ dieses Wettlaufs am vergangenen Mittwoch, dem 16. August, eingeleitet worden, als um 05:00 morgens für Chandrayaan-3 die letzte von insgesamt fünf Bremszündungen durchgeführt wurde, um die Umlaufbahn um den Mond auf 153 mal 163 km abzusenken. Knapp sechs Stunden darauf, um 10:57 Mitteleuropäischer Sommerzeit, wurde im Verlauf einer Viertelstunde das Triebwerk von Luna-25 zwei Mal in Gang gesetzt, um die Sonde auf ihrer Transferbahn in einen Orbit um den Erdtrabanten zu bringen; das erste Mal für eine Dauer von 282; das zweite Mal für 73 Sekunden – gewissermaßen als abschließende Stadionrunden nach einem kosmischen Marrathonlauf. Die indische Sonde ist weiterhin wie geplant auf Kurs; übermorgen, am Mittwoch, soll um 14:16 die Bremszündung für die Landung erfolgen; 20 Minuten darauf soll sie zwischen den Kratern Manzinus C und Simpelius N auf gut 70 Grad südliche Breite und 32 Grad östlicher Länge, gut 600 Kilometer vom Mondsüdpol entfernt, aufsetzen. Die geplante Landestelle liegt ungefähr 188 nordwestlich der Stelle, die für die Landung von Luna-25 vorgesehen war. Der Leiter der indischen Raumfahrtbehörde, Sreedhara Somanath, hat vor zehn Tagen erklärt: „Selbst wenn die Systeme ausfallen, wenn die Sensoren versagen, wird die Sonde landen können. Sie ist entsprechend gebaut worden – falls das Antriebsystem funktioniert. Wir haben auch dafür gesorgt, daß die Sonde sicher landen kann, wenn zwei der Antriebe versagen.“ Das Landemodul „Vikram“ verfügt über insgesamt vier Hauptantriebe, die jeweils einen Schub von 800 Newton entwickeln.





(Aufnahmen von Erde und Mond durch Luna-25 am 13. August, auf 310.000 km Entfernung von der Erde)



("Selfie" vom Luna-25 vom 16. August)

Vielleicht lohnt es sich an dieser Stelle, noch einmal zu betonen, daß ein solches „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zum Mond keineswegs geplant war; es hat sich aus den immer wieder aufgetretenen Verzögerungen bei der Fertigstellung und Erprobung von Luna-25 ergeben, deren ursprünglicher Start bereits im Jahr 2010 erfolgen sollte – und deren letzter Termin am 13 Juli noch einmal zu letzten Überprüfungen um vier Wochen hinausgeschoben worden ist. Ein nette Ironie liegt darin, daß es während des ursprünglichen „Wettlaufs ins Alle,“ dem „Space Race,“ der dem Sputnik-Schock im Oktober 1957 folgte und der immer ein „Wettrennen zum Mond“ darstellte – und auch in den folgenden 65 Jahren – niemals zu einem solchen Sprint gekommen ist - auch wenn der Zeichner Robert Grossman das „Rennen zum Mond“ auf dem Titelbild des TIME-Magazin vom 19. Dezember 1968 mit dieser naheliegenden Metapher illustriert hat. Es ging in den fünfziger und sechziger Jahren immer darum, zuerst einen künstlichen kleinen Begleiter (russisch „Sputnik“) über den Himmel ziehen zu lassen, den ersten Raumfahrer zu starten, die erste Raumfahrerin, die erste Landung auf dem Mond, durch Automaten und dann Menschen aus Fleisch und Blut … wobei zwischen den Schritten der beiden rivalisierenden Nationen Monate und Jahre vergehen konnten.

Eine Ausnahme dabei bildeten die Sondenmissionen zu unserem Nachbarplaneten Mars. Das ist dem Umstand geschuldet, daß es für Transferbahnen, die mit einem möglichst geringen Anschub zu erledigen sind, zwingend notwendig ist, daß sich der langsamer laufende Mars, von der Sonne aus gesehen, in einem Winkel von 88 Grad vor Terra befindet, um einen sogenannten Hohmann-Transfer zu ermöglichen, benannt nach dem Essener Ingenieur Walter Hohmann, der die Berechnungen dazu 1925 in seinem Buch „Die Erreichbarkeit der Himmelskörper“ veröffentlicht hat. Für Visiten beim roten Planeten ergibt sich damit alle 26 Monate ein gut zwei Monate geöffnetes Startfenster – und somit bündeln sich dort die Starttermine. Dem verdankt es sich, daß die ersten drei Versuche, einen irdischen Spion zum Mars zu senden (die beiden US-Sonden Mariner 3 und 4 sowie die russische Sonde Zond-2) alle in den November 1964 fielen; die nächsten vier (zwei sowjetische und zwei amerikanische) starteten zwischen dem 25. Februar und dem 2. April 1969. Und auch die ersten beiden weichen Landungen, durch Viking 1 und 2, wurden deshalb „zeitnah“ auf den Weg gebracht. Nicht geplant war hingegen, daß sie die oben erwähnte Mondstaub-Sammelaktion von Luna-24 gleichsam „einrahmten“: Viking 1 landete am 20. Juli 1976 auf der Marsebene Chryse Planitia (der „Goldebene“), Viking 2 folgte am 3. September mit der Landung auf Utopia Planitia. (Der kleine Zyniker merkt an, daß die Namensgeber der marsianischen Topographie im späten neunzehnten Jahrhundert wie Giovanni Schiaparelli und Pervical Lowell mit ihren Bezeichnungen wie „Hellas,“ „Florida,“ „Utopia“ und den Schnee des Olymp, „Nix Olympica,“ eine etwas poetischere Ader bewiesen haben als die Benenner der Mondformationan zwei Jahrhunderte zuvor, auf dem zuhauf verdächtig klingende Örtlichkeiten wie der Sumpf der Fäulnis oder der Ozean der Stürme zu finden sind.)



(Der vorgesehene Landeplatz von Luna-25 ("1") nördlich des Kraters Boguslawski. "2" war die geplante Ausweich-Landestelle nördlich des Kraters Manzinus, "3" der geplante Landeplatz für Chandrayaan-2 und "4" bezeichnet die Stelle, an der im Oktober 2009 die Centaur-Oberstufe der Lunar-Reconnaissance-Mission aufgeschlagen ist, um beim Impakt freigesetzte Spuren von Wassereis nachzuweisen. Die blauen Flecken zeigen die Konzentration von Wasserstoff - und damit höchstwahrscheinlich Wassereis - in den beiden oberen Metern des Mondgesteins nach den spektroskopishcen Meßergebnissen des LRO an; die Maßeinheit begträgt ppm; Teile pro Million.)



(Die Lage der vorgesehenen Landeplätze von Luna-25 und Chandrayaan-3)

II.

Keine Regel ohne Ausnahme. In Medienberichten über die bemannten Mondlandungen des Apollo-Programms vor einem halben Jahrhundert wird gelegentlich erwähnt, daß „während der Startvorbereitung für den Flug von Apollo 11“ im Sommer 1969 auf dem russischen Weltraumbahnhof Baikonur „ebenfalls eine startbereite Mondrakete“ auf der Startrampe bereit stand. Das ist zwar durchaus zutreffend, zeigt aber, bei genauer Betrachtung, auch die charakteristischen Unterschiede bei den Programmen der beiden „Supermächte.“ Auch die Sowjetunion hatte seit Mitte der sechziger Jahre, analog zum Apollo-Programm der NASA, den Plan einer bemannten Mondlandung verfolgt, lag aber hinter den amerikanischen Plänen hoffnungslos zurück. Zu den Rückschlägen hatte nicht unwesentlich der überraschende Tod des (damals im Westen völlig unbekannten) „großen Konstrukteurs“ Sergej Koroljow beigetragen, dem die UdSSR von Sputnik 1 über den ersten bemannten Flug von Juri Gagarin im April 1961 ihre propagandaträchtige Führung im „Wettlauf ins All“ verdankte. (Ja: der oben erwähnte Ort, in dem sich die Kommandozentrale sämtlicher russischen Weltraummissionen, auch der russischen Module der Internationalen Raumstation, befindet, ist seit 1970 nach ihm benannt.) Koroljow war Anfang 1966 im Alter von 53 Jahren während einer Blinddarmoperation in einem Moskauer Hospital gestorben, als die Chirurgen beim Eingriff Metastasen im Dünndarm entdeckten und das Gewebe beim Versuch, die zu entfernen, zu sehr beschädigt wurde. Die Fortführung der begonnenen Projekte von Koroljows Konstruktionsbüro übernahm das Team seines Rivalen Walentin Gluschko, der mit Korolojow in einem scharfen, höchst unkollegialen Rivalitätsverhältnis gestanden hatte (Koroljow hatte Gluschko persönlich im Verdacht, ihn 1940 beim KGB denunziert zu haben, woraufhin er sieben Jahre lang als Häftling im GULag inhaftiert wurde – bis er nach dem Ende des „Großen vaterländischen Kriegs,“ als Ingenieure, die funktionsfähige Langstreckenraketen konstruieren konnte, benötigt wurden.

Die überhastet und unter großem Druck fertiggestellten Projekte führten nicht nur dazu, daß die Woschod-Raumkapsel, die als Nachfolgemodell der Sojus-Raumschiffe diente, auf dem Erstflug im April 1967 verunglückte, als sich bei der Landung der Hauptfallschirm nicht öffnete und der Kosmonaut Wladimir Komarow den Tod fand, sondern auch zum Scheitern der sowjetischen Mondflugpläne. Die dafür bestimmte Trägerrakete N1, noch leistungsfähiger als ihr amerikanisches Pendant Saturn V (aber mit 105 m Höhe 5 Meter kürzer) absolvierte zwischen 1969 und 1972 insgesamt vier Teststarts – die allesamt mit der Explosion der Rakete endeten. Zu einem Praxistest der einsitzigen Mondlandefähre ist es nie gekommen (nach der offiziellen sowjetischen Planung hatte es niemals Pläne für eine bemannte Mondlandung gegeben – erst nach dem Beginn der Perestroika unter Michail Gorbatschow wurde im Frühjahr 1986 ein Modell der Landefähre auf dem Aerosalon in Paris präsentiert)

Im Februar 1969 scheiterte der erste Startversuch einer N1, als die zweite Stufe nach der Stufentrennung in 54 Kilometern Höhe bei der Zündung explodierte. Ein halbes Jahr später schlug der zweite Probestart noch heftiger fehl – das war jene Rakete, die auf die Startrampe 110 Ost in Baikonur transportiert wurde, während in Cape Canaveral ihr Pendant auf der Startrampe 39A vorbereitet wurde. Die Saturn V war am 20. Mai aus dem VAB, der Vertical Assembly Building, gefahren worden; die N1 mit der Serienfertigungsnummer 5L wurde einen Monat darauf, am 20. Juni zur Startrampe ausgerollt – wie alle sowjetischen Booster waagerecht und per Schienentransport. Als Nutzlast trug die Rakete die Raumsonde Zond L1S-1, samt einem Landemodul. Der Start erfolgte am 3. Juli 1969, 13 Tage bevor elftausend Kilometer weiter westlich Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins zum „kleinen Schritt für einen Menschen“ starteten, 42 Minuten vor Mitternacht nach Moskauer Zeit. Schon gleich, nachdem die Rakete den 150 Meter hohen Startturm hinter sich gelassen hatte, war auf den Fernsehschirmen des Kontrollzentrums zu sehen, wie brennende Teile von der Startstufe herabfielen. Nach 10 Sekunden schaltete die automatische Steuerung mit der Bezeichnung KORD (das Akronym für Контроль ракетных двигателей, „Raketenmotor-Kontrolle“) sämtliche 30 Triebwerke der Startstufe ab – bis auf eines. Durch den resultierenden ungleichmäßigen Schub geriet die Rakete in einer Schräglage von 45 Grad, verlor den Schub nach oben und stürzte nach 21 Sekunden auf die Startrampe zurück; die explodierenden 2300 Tonnen die Explosionskraft einer kleinen Atombombe entwickelten. Bis heute zählt diese Detonation zu den stärksten, die jemals von Menschenhand ausgelöst worden ist, wenn man nukleare Sprengköpfe einmal außen vor läßt. Die Trümmerteile der Rakete fanden sich in einem Umkreis von 10 Kilometern wieder. Die beiden Startrampen des Komplexes 110 wurden vollständig zerstört; ihr Wiederaufbau benötigte 18 Monate. Bei der anschließenden Analyse der Unglückursache ergab sich, daß einer der Pumpen für die Zufuhr von flüssigem Sauerstoff für das Triebwerk Nr. 8 unmittelbar vor dem Abheben beim Lösen der Halteklammern explodiert war, weil die Zuleitungen vor dem Betanken nicht ausreichend gereinigt worden waren und sich Metallpartikel an den leitungswänden festgesetzt hatten. Diese Explosion zerriss weitere Zuleitungen und setzte den ausströmenden Sauerstoff in der Startstufe in Brand.



("Rollour" von Apollo 11 am 20. Mai 1969)



(Endmontage der N1)



(Eine N1 auf dem Weg zur Startrampe)







(Die N1 am 20. Juni 1969 auf dem Weg zur Startrampe 110 in Baikonur)













(Start und Explosion der N1 am 3. Juli 1969)



(Aufnahme des zerstörten Startkomplexes vom 3. August 1969 durch einen amerikanischen CORONA-Satellliten)

(Und an dieser Stelle kommt das eingangs erwähnte CORONA-Programm zu seinem Recht. Im Sommer 1959, nach dem ersten erfolgreichen eigenen Satellitenstarts – mit Explorer 1 Ende Januar 1958 als Auftakt – hatten die Vereinigten Staaten begonnen, unter dieser Bezeichnung eine Serie von Aufklärungssatelliten zu entwickeln. Da die Qualität der Fernsehkameras und die Datenübertragungsraten noch überaus bescheiden war – die Bilder des im April 1960 gestarteten ersten Wettersatelliten, TIROS-1, zeigen eine Auflösung von höchstens 10 oder 20 Kilometern – wurden hierbei mit langbrennweitigen Teleobjektiven Panoramabilder aufgenommen, wobei die belichteten Filmrollen in einer Landekapsel am Fallschirm niedergingen und von speziell dafür umgerüsteten Flugzeugen noch in der Luft aufgefangen wurden. Die ersten Satelliten, ab dem Juni 1959 gestartet, hatten Teleobjektive mit 61 cm Brennweite an Bord, die eine Auflösung von gut 13 Metern ermöglichten; in den Nachfolgemodellen von Typ KH 1 bis 4, die bis 1967 entwickelt wurden, wurde diese Auflösung auf 7,5 m verbessert (das Kürzel KH steht für „Keyhole,“ Schlüsselloch). Am 3. August 1969 nahm ein er der bis sieben dahin gestarteten Späher des Typs KH 4B ein Panorama des Kosmodroms Baikonur auf, das nicht nur die Meldung der CIA bestätigte, die am Morgen des 5. Juli Präsident Nixon als „Daily Briefing“ auf dem Schreibtisch gelegt worden war – „in der Sowjetunion ist ein Raketenstart in einer Explosion geendet“ – sondern auch den handfesten Beweis lieferte, daß man hinter dem Eisernen Vorhang tatsächlich an einem Mondlandeprogramm abreitete.)



(Die Bergung der Filmkapsel durch die Fairchild C-119J mit der Nummer 51-8037 am 19. August 1961 über dem Westpazifik)

III.



(TIME Magazine, Ausgabe vom 8. Dezember 1968. Das Titelbild stammt von Robert Grossman (1940-2018).)

Damit hat es aber, was die „engen Parallelführungen,“ das Kopf-an-Kopf-Wettrennen in die Weiten des Alls betrifft, auch schon sein Bewenden. Jedenfalls soweit es der Bereich der sogenannten „Wirklichkeit“ betrifft (oder den Vorgängen in der Matrix, die wir dafür halten). Anders sieht es in jedem anderen Bereich aus, der sich mit dem Ausgriff ins All befassen kann, ohne allzuviel Rücksicht auf bescheidene Budgets und Naturgesetze nehmen zu müssen. Andererseits ist auch die Bereich der Science Fiction der Wettlauf zum Mond, so wie ihn uns die Geschichte (oder die Programmierung der Matrix) präsentiert hat, wesentlich seltener zum Thema genommen worden, als man das auf den ersten Blick erwarten sollte. Dafür gibt es handfeste Gründe: vor den sechziger Jahren, vor Präsident Kennedys Ankündigung, „noch in diesem Jahrzehnt einen Menschen auf dem Mond zu landen und sicher zurückzubringen“ (in einer „We choose to go to the moon“-Rede vor dem amerikanischen Kongress am 25. Mai 1961) gab es diesen „Wettlauf“ offiziell nicht, und solche Flüge waren zumeist die erste Etappe beim weiteren Ausgreifen – ob zur Besiedlung des Rest des Sonnensystems oder weil die Erdlinge auf dem Mond Botschafter galaktischer Zivilisationen antrafen – wie in „2001 – Odyssee im Weltraum“ oder bei „Perry Rhodan.“ „Rückwirkende Zukunftsvisionen,“ wie etwa in Stephen Baxters „Voyage“ von 1996 malen sich – naturgemäß – andere historische Verläufe des Raumfahrtprogramms aus. Dahingegen bot der tatsächliche Konkurrenzprogramm einem Autor, der sich nicht auf die reine Reportage beschränken wollte, vor 55 Jahren wenig Spielraum. Recht gut läßt sich das am Beispiel des heute vergessenen amerikanischen Autors Jef Sutton (1913-1979) verfolgen. Sein erster Roman „First on the Moon“ aus dem Jahr 1958, noch vor Gründung der NASA verfaßt, spielt das Rennen zwischen Ost und West um „die Macht im Weltraum“ ganz im Zeichen des Abenteuer-Thrillers durch: einer der vier amerikanischen Raumfahrer an Bord der ersten Mondrakete ist ein Spion, ein Saboteur, und wenn es Captain Adam Craig nicht gelingt, ihn rechtzeitig zu enttarnen und unschädlich zu machen, sieht es finster um die Zukunft der freien Welt aus … „Apollo at Go“ (1963) und „Beyond Apollo“ (1966) hingegen spielen für ein jugendliches Lesepublikum routinegemäß genau die Stadien des Astronautentrainings, der technischen Aspekte und schließlich der geplanten Missionen durch, wie sie in zahllosen Reportagen zu lesen waren, mehr Schulfunk als Abenteuer.



(TIME Magazine vom 29. Juli 2019. Das Titelbild stammt von Alessandro Gottardo.)

Zu einem tatsächlichen Wettlauf kommt es hingegen in einem Roman des französischen Autors Pierre Boulle. Boulle (1912-1994) ist heute, falls sein Name noch präsent ist, als Verfasser der Romane „Der Planet der Affen“ (1963) und der „Brücke am Kwai“ (1952) bekannt – und dies auch nur, weil die beiden Bücher die Vorlagen für die Verfilmungen mit Charlton Heston (1968) bzw. unter der Regie von David Lean (1957) geliefert haben. In seinem Roman „La jardin de Kanashima“ (1964 bei seinem Stammverlag Juillard erschienen und im folgenden Jahr von Xan Fielding als „Garden on the Moon“ ins Englische übersetzt), nimmt der Autor das deutsche Entwicklungsteam um Wernher von Braun in Peenemünde als Protagonisten. Während spätere Romane die zwielichtige Rolle von Brauns bei der Entwicklung der V-2 und seine Verstrickung in die Verbrechen der Nazis ins Zentrum rücken - etwa Michael Chabons letzter Roman „Moonglow“ von 2016 oder Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“ von 1973, dessen Phantasmagorie im Lauf seiner 700 Seiten vollständig ins Bizarr-Groteske abdriftet – entsprechen die Ingenieure um Boulles „Dr. Stern“ noch ganz und gar dem Bild, das von Braun, Walter Dornberger und andere in den fünfziger und sechziger Jahren von sich und ihren Plänen propagiert haben: Idealisten, die durch die Zeitumstände gezwungen waren, sich einem verbrecherischen Regime andienen zu müssen, um ihre Ziele verfolgen zu können und die insgeheim nur davon träumen, zum Mond fliegen zu können, anstatt England zu bombardieren.



Nach dem Krieg trennt sich das Team und arbeitet für unterschiedliche Seiten: „Dr. Stern“ für die amerikanische, seine brilliante Assistentin Nadja tritt in die Dienste der Russen, und der titelgebende Dr. Kanashima kehrt in seine Heimat Japan zurück. Daß in der Heeresversuchsstelle Peenemünde japanische und russische Staatsbürger (und noch dazu eine Frau) an der Entwicklung von „Wunderwaffen“ in führender Position beteiligt sind, strapaziert die „bewußte Aufhebung des Zweifels,“ die nach Samuel Taylor Coleridge Voraussetzung für den Genuß phantastischer Literatur ist, beträchtlich – aber Boulle benötigt dies für seine Experimentalanordnung. Stern bzw. von Braun und sein Team sind maßgeblich daran beteiligt, daß es den USA gelingt, nach dem Sputnik-Schock ihren ersten Satelliten zu starten, nachdem die US Navy mit ihrem Project Vanguard im Dezember 1957 und im folgenden Februar kläglich scheitert (die erste Stufe der Trägerrakete von Explorer 1 explodierte am 6. Dezember 1957 wenige Sekunden nach dem Abheben auf der Startrampe – da das Ereignis zur Mittagzeit live landesweit im Fernsehen übertragen wurde, trug das erheblich zu einem Gefühl der „nationalen Demütigung“ bei. Im Oktober war der Piep-Ton des „Sputnik 1“ in allen Radio- und Fernsehnachrichten zu hören; im November war mit Sputnik 2 die Hündin Laika als erstes Lebewesen ins All geschossen worden – daß Laika 40 Minuten nach dem Start am Hitzschlag starb, weil die Kabinenisolierung versagt hatte, wußte natürlich nur die russische Flugleitung. Aus dem englischen Ausdruck für „Köter“ – „mutt“ – ergab sich sofort für zahlreiche Kommentatoren die Trias: Sputnik – Muttnik – Kaputtnik.

Kurz darauf erhält Dr. Stern den Anruf eines völlig unbekannten Senators aus Massachusetts, der sich entschlossen hat, bei der nächsten Präsidentenwahl als Kandidat anzutreten, und der Raumfahrt und die Chance, hier gegen „die Roten“ punkten zu können, oberste Priorität einzuräumen. Stern nimmt diese Chance begeistert an. Auf die Frage, wer an Apparate gewesen sei, erklärt er seiner Frau: „Keine Ahnung. Er nannte sich Kennedy oder so ähnlich.“

Es ist nett, wenn einem das Verstreichen der Zeit mit dem Zugänglichwerden von Quellen (und der Griff in die eigene Bibliothek) ermöglichen, Boulles Schilderungen, die an dieser Stelle noch (zeit)historisch daherkommen, mit dem abzugleichen, wie seine Dramatis personae an jenem Freitagabend, dem 4. Oktober 1957, vier Tage vor Vollmond, als in England Paul Ankas „Diana“ an Platz 1 der Hitparade stand (in den USA nur auf Platz 2), tatsächlich auf die Nachricht regierten, die ab dem frühen Nachmittag jedes andere Ereignis überschattete. Ich zitiere in diesem Fall aus Paul Dicksons Buch „Sputnik: The Shock of the Century“ (University of Nebraska Press, 2019), das zwar keine neuen Funde aus Archiven bringt, sondern sich nur lange zugänglichen Medienberichten und Erinnerungen stützt, aber einen netten Überblick über die Reaktionen aller Seiten in den Tagen und Wochen des „Sputnik-Schocks“ bietet.

„Gleich hören Sie,“ erklärte der Nachrichtensprecher des Senders NBC am Abend der 4. Oktober 1957, „den Ton, der auf alle Zeiten die alte Zeit von der neuen trennt.“ Darauf folgte das Zirpen in der Tonart A-Moll aus dem Weltraum, das die Associated Press das „tiefe Piep-Piep“ nannte. Das Zirpen stammte aus einem einfachen Sender an Bord des sowjetischen Satelliten und dauerte drei Zehntel einer Sekunde, gefolgt von einer Drittelsekunde Pause. Der Ton wiederholte sich solange, bis er aus der Hörweite der Vereinigten Staaten verschwunden war.“


„John F. Kennedy, der zu dieser Zeit ein Senator aus Massachusetts war, scheint sich wenig für Sputnik interessiert zu haben – zumindest nicht öffentlich. Kennedy besuchte oft die Bar des Loch Ober Café in Boston, die ausschließlich für männliche Gäste geöffnet war, in der Freddy Hamil als Bartender tätig war. Hamil war fasziniert vom Weltraum und ein Fan von Wernher von Braun, der dem Fernsehpublikum schon durch seine Auftritte bei der Sendung „Disneys wundervolle Welt“ bekannt war. Gleich nach dem Start von Sputnik machte Hamil den späteren Präsidenten und seinen Bruder Robert mit Charles Stark Draper, genannt „Doc,“ bekannt, einem Professor am MIT und Experten für Raketenlenksysteme. Sie kamen darauf zu sprechen, was der russische Erfolg wohl bedeuten würde. Einige Jahre später erzählte Draper dem Technikhistoriker Eugene M. Emme, daß sie unterschiedlicher Ansicht gewesen seien, weil Kennedy alle Raketen für reine Geldverschwendung hielt – und Raketen im Weltall in ganz besonderem Maß. Allerdings, fügte Emme hinzu, „waren die Kennedys dafür bekannt, daß sie solche Ansichten vertraten, um zu sehen, ob etwas daran war – oder aus Spaß am Widerspruch.“


Und zu Wernher von Braun:

„Am gleichen Abend fand in Huntsville in Alabama, im Redstone Arsenal, eine andere Cocktailparty statt, wo die Army Ballistic Missile Agency (ABMA) mit der Entwicklung der Jupiter C, einer leistungstarken Lenkrakete beschäftigt war. Der Empfang fand zu Ehren von Neil McElroy statt, dem neuen Verteidigungsminister, der auf einer Dienstreise in seine Aufgaben eingewiesen werden sollte, bevor er seinen Amtseid leistete. Er sollte Charles E. Wilson ablösen, der wegen seiner Phantasielosigkeit und seinem Desinteresse an ihrer Arbeit bei den Raketenspezialisten in Huntsville äußerst unbeliebt gemacht hatte. Nach ihrer Ansicht war es Wilsons größte Verfehlung, daß er die Entwicklung von Langstreckenraketen an die Luftwaffe übertragen und ihnen nur Brosamen gelassen hatte: Raketen mit einer Reichweite von weniger als 200 Meilen. McElroy war in Huntsville, um sich die den Stand der Arbeiten bei der Amee zu informieren; begleitet wurde er von einem Troß aus Washington, zu dem auch der Secretary oft he Army und dessen Stabschef gehörten.

„Die Gastgeber für McElroys Leute waren Generalmajor John B. Medaris, der ranghöchste Militär, der für die Raketenabwehr zuständig war, der Leiter von ABMA, und Wernher von Braun, der deutsche Ingenieur, der die V-2 für das Dritte Reich entwickelt hatte. Zusammen mit Generalleutnant James M. Gavin, der für Forschung und Entwicklung bei der Armee zuständig war und der kurz zuvor aus Washington eingetroffen war, verfolgten sie ein wesentliches Ziel: mit der Jupiter C einen eigenen Satelliten für die Armee zu starten und in die Umlaufbahn zu bringen. Sie hatten sich seit geraumer Zeit darum bemüht. Bereits 1954 hatte von Braun um eine Startgenehmigung für die Armee nachgesucht und war abgewiesen worden. Trotz der Unterstützung durch die Generäle Gavin und Medaris war das Projekt Orbiter – wie es mittlerweile genannt wurde – von Präsident Eisenhower, dem scheidenden Verteidigungsminister Wilson und der Expertengruppe, die für das amerikanische Satellitenprogramm im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres zuständig war, abgelehnt worden.

„McElroy & Co. trafen gegen Mittag ein. Von Braun trug ihnen die Lage vor und drängte erneut darauf, daß die Armee einen Satellitenstart durchführen sollte. Medaris war der Ansicht, daß dieses Vorhaben durch seine Abteilung mit größtmöglichen Nachdruck gegenüber der Abordnung aus Washington vertreten werden sollte.

„Der ‚Junggesellen-Empfang‘ zum Aufwärmen war in vollem Gang, und McElroy, Medaris und von Braun unterhielten sich gerade angeregt, als Gordon Harris, der zuständige Presseoffizier der Basis, zur Tür hereinstürzte, um Ruhe bat und sagte: „General, es ist gerade im Radio gesagt worden, daß die Russen erfolgreich einen Satelliten gestartet haben. Er sendet Funksignale, auf offener Frequenz, und einer unserer Funker hier empfängt sie bereits.“

„Für einen Moment trat eine schockartige Stille ein. General Gavin und andere wirkten fassungslos. Und dann, wie sich Medaris später in seinem Memorien erinnerte, ‚fing von Braun an, atemlos Sätze hervorzusprudeln, als ob er plötzlich mit einer Grammophonnadel geimpft worden wäre, so eilg, daß er sich verhaspelte: ‚Wir wußten, daß das so kommen würde. Vanguard wird es nie schaffen. Wir haben alles, was wir dafür brauchen, hier fertig auf Lager. Um Himmels willen – geben Sie uns die Erlaubnis und lassen Sie uns machen. Mr. McElroy – wir können innerhalb von 60 Tagen eoinen Satelliten starten! Geben Sie uns grünes Licht und 60 Tage Zeit!“

„Beim Abendessen saß McElroy zwischen Medaris und von Braun. Es wurden vorlaufend neue Pressemitteilungen verlesen, Neuigkeiten über den russischen Satelliten, der jetzt über das Radio der Basis zu hören war. Medaris gab sein Bestes, um McElroy davon zu überzeugen, die Aufgabe, eine Antwort auf Sputnik zu liefern, an die Armee zu übertragen. Dann ließ Medaris eine Bombe platzen: Es gab bekannt, daß mehr als ein Jahr vorher die Spitze der Jupiter C mit der Nummer 27 die Umlaufbahn erreicht hätte, „wenn wir eine vierstufige Version zur Verfüdung gehabt hätten.“

„Später am Abend, nachdem sich die anderen schon zur Nachtruhe begeben hatten, saßen Medaris und von Braun noch zusammen. Sie waren aufgebracht und verärgert, weil ihnen jemand zuvorgekommen war – aber zugleich fühlten sie sich überglücklich, weil sie davon ausgingen, daß sie jetzt die Mittel erhalten würden, um ihren eigenen Satelliten zu starten.“ (Alle Zitate aus Kapitel 1: „Sputnik Night“)


IV.

Boulle hat sein Buch Anfang 1964 fertiggestellt, und bis zum Tod JFKs im November 1963 hält sich der Handlungsverlauf an den tatsächlichen historischen Verlauf. Eine der Folgen ist natürlich, daß die vorbereitenden amerikanischen Raumfahrtprogramme, Mercury und Gemini, nur kurz erwähnt werden, ohne Einzelheiten zu nennen. Stern gelingt es, sein Mondfahrtprogramm trotz drohender Budgetkürzungen weiterzuverfolgen. 1970 soll die erste Landung stattfinden: die Bekanntgabe des Starts erfolgt einen Monat vorher. Als Reaktion kündigt die sowjetische Gegenseite an, drei Wochen später ihrerseits einen Kosmonauten auf den Weg dorthin zu bringen. Weil die russische Trägerrakete aber schubstärker ausgelegt ist und eine direktere Flugbahn wählen kann, scheint es durchaus möglich, daß zuerst Hammer und Sichel statt des Sternenbanners auf dem Erdtrabanten aufgepflanzt werden. (An dieser Stelle dürfte auch klar werden, warum mir dieses Buch sofort in den Sinn kam, als der tatsächliche Flugplan von Luna-25 publik wurde.)

Die Aufregung erweist sich als verfehlt: zwei Wochen später werden Funksignale vom Mond empfangen: die erste Landung ist erfolgt – von einer Seite, mit der die beiden Raumfahrtnationen nicht gerechnet hatten. Es ist eine japanische Raumkapsel, und an Bord befindet sich Dr. Kanashima, aus dessen Blickwinkel das letzte Drittel des Romans erzählt wird. Japan hatte kurz zuvor angekündigt, ein eigenes Raumfahrtprogramm zu entwickeln; nicht um sich am „Space Race“ zu beteiligen, sondern um eigene Satelliten starten zu können. (Boulle hat hier „einen prophetischen Treffer gelandet“: der erste japanische Satellit, Ohsumi, wurde im Februar 1970 vom Raumfahrtzentrum in Kagoshima aus gestartet.) Das Trägersystem ist nicht leistungsstark genug, eine Raumkapsel auf den Weg zu bringen, die genügend Treibstoff an Bord hat, um vom Mond aus zu starten und sicher auf der Erde zu landen. Die Lösung, auf die Dr. Kanashima und sein Autor verfallen lehnt sich an das Verständnis des Letzteren für das japanische Kriegerethos an, den „Weg des Kriegers,“ Bushido, den er auch bei den Kamikaze-Einsatzflügen ausgemacht hat: Es kommt nur darauf an, das gesetzte Ziel zu erreichen: als erster auf dem Mond zu sein. Dr. Kanashima entscheidet sich, nicht nur dieser Erste zu sein, sondern auch als erster auf dem Mond zu sterben. Als sein Sauerstoffvorrat zur Neige geht, schlitzt er seinen Raumanzug auf, und sein Körper explodiert, als er dem Vakuum ausgesetzt wird. (Medizinisch gesehen ist dies nicht ganz korrekt, auch wenn dies ein dramaturgisch passendes Finale darstellt. Ein Jahr später, im Juni 1971, starb die Besatzung der ersten russischen Raumstation, Saljut 1, als beim Abdocken der Sojus-Kapsel von der Station durch ein geöffnetes Ventil innerhalb von zehn Sekunden die gesamte Luft ins All entwich. Die Obduktion der Leichen der Raumfahrer Georgi Dobrowolski, Wladislaw Wolkow und Wiktor Patsajew ergab, daß ein Großteil ihrer Lungenbläschen nach 30 bis 40 Sekunden geplatzt war; daß der Tod aber durch Herzversagen nach 20 Sekunden eingetreten war.)

Bevor es aber soweit ist, legt Dr. Kanashima noch den Garten an, der dem Buch den Titel gibt: einen Landschaftsgarten, aus Steinen und Sand, von der Art, wie sie im Westen - nicht ganz korrekt – als „Zen-Garten“ bekannt sind: im Original Kare-Sansui genannt (枯山水), „trockene Landschaft,“ in denen als Pflanzen allein Moos zugelassen ist und die oft auch darauf verzichten, in dem die Steinsetzungen en minature für Berge stehen und der geschwungen geharkte Sand symbolisch für Wasser steht. Mit der Tradition des Zen-Buddhismus haben diese Gärten in der japanischen Tradition allerdings nichts zu tun (sie entstammen der Shinto-Tradition, und die sind auch nicht, wie oft zu lesen ist, als Meditationshilfen gedacht.)



Daß der Autor hier mit exotisierenden Klischees arbeitet, die einem heutigen Leser, dem die „japanische Binnensicht“ durch die Bücher von Haruki Murakami, Soseki Natsume, Yasushi Inoue, Shusako Endo, Yasunari Kawabata und anderen Autoren etwas besser vertraut ist als vor 60 Jahren (als Friedrich Dürrenmatt in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung von Kawabatas „Schneeland“ nur sein schieres Erstaunen ausdrucken konnte, daß in Japan überhaupt moderne Romane geschrieben würden), leicht befremdend aufstoßen, ist unverkennbar (als guter Samurai zeichnet Dr. Kanashima auch noch vor seinem Abgang ein kalligraphisches Abschiedsgedicht). Und es ist mir auch durchaus die Ironie bewußt, daß die letzte Mondlandesonde, die auf der Oberfläche des Erdtrabanten zerschellt ist, der japanische Mondlander Hakuto-R war, dem dies am 25 April 2023 widerfahren ist – und daß am 7. März 2023 der Erststart der neuen japanischen Schwerlastrakete H3 mit einem Fehlschlag endete, als die zweite Stufe nicht zündete.

Aber davon einmal abgesehen: die Vorstellung eines solchen Steingartens, eines solchen sorgfältig gestalteten und akzentuierten Areals, als Zeichen der menschlichen Anwesenheit, der Gestaltung, aus dem, was vor Ort vorhanden ist, unter dem schwarzen luftlosen Himmel des Mondes, unveränderlich und in der Abwesenheit von Wind und Erosion beständig, über Jahrtausende, vielleicht über Millionen von Jahren: je mehr man darüber nachdenkt, desto passender erscheint die Idee, einen solchen Garten auf dem Mond anzulegen, wenn es in ein paar Jahren tatsächlich wieder dazu kommen sollte, daß Menschen wieder dort landen und ihre Spuren in den Staub prägen. Das bislang erklärte Ziel des amerikanischen Artemis-Programms ist es, im nächsten Jahrzehnt eine dauerhaft besetzte Basis zu errichten. Ob es je dazu kommt, steht in den Sternen – und ob dies je die Basis für eine weitere, großflächige Präsenz – sei es von Menschen oder ferngelenkten Maschinen, von der Nutzung der dortigen Ressourcen sein könnte, umso mehr. Aber ein solches, vom Aufwand her bescheidenes Zeichen, dem aber durch seine Lage ein Ewigkeitswert zukommen würde wie keiner Kathedrale und keiner Pyramide – doch: das hat etwas für sich.



(Der Felsgarten des Daisen-in in Kyoto, gestaltet zwischen 1509 und 1513)

* * *

Fußnote: Boris Artzybasheff, geboren 1899 in Charkiw in der heutigen Ukraine als Sohn des russischen Dichters Michail Arzybaschew geboren und 1965 in Connecticut gestorben, gehörte in den vierziger und fünfziger Jahren zu den markantesten Illustratoren für die großen amerikanischen Illustrierten, vor allem für das TIME-Magazine, für das er mehr als 200 Titelbilder schuf. Wie sein Vater war er ein scharfer Gegner der Bolschewisten und der Oktoberrevolution (Arzybaschew Sr. ging 1923 ins polnische Exil, wo es 1927 starb). Nachdem er im Bürgerkrieg auf der Seite der „Weißen“ gekämpft hatte, wanderte er 1922 über Paris ins amerikanische Exil aus, wo er 1925 ein Kunststudium in Chicago begann – das er nie abschloß, da er während des zweiten Studienjahrs als Zeichner für Zeitungen in Chicago zu arbeiten begann. Sein besonderes Markenzeichen waren Maschinen, denen er groteske menschliche Gesichter und Gliedmaßen verlieh. Älteren Lesern der phantastischen Literatur ist er vielleicht noch als Illustrator von Charles G. Finneys Roman „The Circus of Dr. Lao“ (1935) in Erinnerung; Krimilesern in den USA als Bebildere von Raymond Chandlers „Die simple Kunst des Mordes.“



(TIme, 15. August 1961. Das Porträt des ostberliner Staatsratsvorsitzenden ist typisch für die Konterfeis Artzybasheffa für das Magazin.)





(Das "Markenzeichen" Artzybasheffs" - groteske Maschinengalerien mit menschlichen Phhysiognomien)



(LIFE Magazine vom 15. Dezember 1958. Die doppelseitige Illustration war Teil einer Ttitelgeschichte zum Thema "Mond")









(Wenn man auf dem Mars Zigarettenanzünder für Autos verkaufen will... Teil einer Anzeigenserie, die Anrtzybasheff im März und APril 1945 für TIME gezeichnet hat)

Robert Grossman, der 1968 den „Wettlauf zum Mond“ ins Bild setzte, arbeite vor allem in karikaturistischer Weise (Artzybasheffs Porträts von „großen Männern seiner Zeit,“ die den größten Teil seiner Titelgalerie ausmachen, zeichnen sich, bis auf einige symbolische Beigaben, durch photogetreuen Realismus aus.) Insgesamt zeichnete Grossman gut 500 Titelbilder für Magazine von den Rolling Stone oder das Satireblatt National Lampoon. Aber am Ende ist auch er dem Mond treu geblieben. Sein graphisches Vermächtnis, im Jahr nach seinem Tod veröffentlicht, ist die 400 „Panels“ umfassende Graphic Novel „Life on the Moon“ (Yoe Books, Juni 2019) – die als Grundlage für den Besuch auf dem Erdtrabanten in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Berichte nimmt, die die New Yorker Zeitung „The New York Sun“ im August 1835 in sechs Folgen dem staunenden Publikum präsentierte: Berichte über die Lebewesen, ihre Bauten, die Tier- und Pflanzenwelt, die Wilhelm Herschels Sohn John mit seinem Teleskop von Südafrika aus gemacht hatte. Nach eine Woche brach die Redaktion die immer sensationeller werdende Enthüllungsreihe ab – aber während dieser kurzen Zeit war die Auflage des Blattes von 3000 auf 15.000 Exemplare hochgeschnellt – die höchste Auflagenzahl einer amerikanischen Tagezeitung in jenen Jahren. Die Urheberschaft durch den Journalisten Richard Adams Locke (1800-1872) ist bis heute nicht gesichert, aber der „Great Moon Hoax“ gilt immer noch als die größte Relotiade in der Geschichte des amerikanischen Journalismus.








U.E.

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