26. August 2022

William Herschel und das Gespenst





William Herschel. Porträt von Lemuel Francis Abbott, 1785.

Der folgende Bericht möge ein einfaches und doch, scheint mir, schätzbares Zeugnis ablegen von der besonderen Geistesart Sir William Herschels, des Astronomen. Das Mitgeteilte ereignete sich zu der Zeit, da der Vierunddreißigjährige sich – 1772 war das Jahr – als Musiklehrer in Bath in Somerset niedergelassen hatte. Gleichzeitig war er Organist der sogenannten Oktagon-Kapelle; er komponierte Motetten und Gesänge, ja ganze Kirchenmusiken, studierte sie ein und führte sie auf; und er dirigierte öffentliche Konzerte. Doch diente all diese aufreibende Tätigkeit ihm nur zum Broterwerb, um um nämlich in der Mußestunden seiner eigentlichen Leidenschaft und Berufung, der Himmels-Erforschung, sich hingeben zu können. Auch das forderte von ihm neben der geistigen eine schwere körperliche Leistung, indem alle nötigen Instrumente noch fehlten, so daß er seine Teleskope, das erste zwanzigfüßige wie später das große vierzigfüßige, ganz und gar selber erbaute, selber die Spiegel schliff und mit Hilfe seiner Schwester Caroline, die sein Haus betreute und vom Strickstrumpf bis zum Logarithmus alles erlernte, jedes Einzelteil an der Drehbank selber herstellte.

In dieser arbeitsfiebernden, für unendliche Fruchtbarkeit feurig wirkenden zeit klagte er einmal in einem kleinen Kreis freundgesinnter, das Beste von ihm erwartender Männer über ein Nachlassen seiner Kräfte – und daß ihm nur wenige Wochen einsamer Hingabe an eine gewisse Arbeit fehlten, um sie zu Ende zu bringen. Wenn er auch den nötigen Urlaub von seiner sonstigen Tätigkeit sich aneignen könne, so mangle doch eine Stätte, wo er nicht, wie im belebten Bath, beständigen Störungen ausgeliefert bleibe. Einer der Anwesenden, ein begüterter Aristokrat, äußerte, da die übrigen schwiegen, nach einer Weile, halb verlegen und halb im Scherz: Er wisse vielleicht eine solche Stätte, doch würde sie Herschel kaum zusagen. Dies sei, erklärte er auf Befragen, ein unfern, am Ausgange eines Dorfes gelegenes Schlößchen, das im Besitz seiner Familie, jedoch unbewohnt, nämlich unbewohnbar sei, weil es darinnen spuke. Ein Vetter hatte sich dort das Leben genommen; jahrelang blieb es leer; dann vertrieb der Ungeist die wieder Wohnung Versuchenden, nun war es wohl tief im Verfall.

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Es läßt sich in Kürze sagen, daß Herschel einige Wochen später das Spukhaus bezog; auch seine (damals sechsundzwanzigjährige) Schwester begleitete ihn ohne Anstand – vielmehr um es genau zu sagen, sie folgte ihm einige Tage, nachdem er sich Quartier in dem Hause zurechtgemacht hatte, nach. Es fand für sich selbst in dem allerdings sich schon auflösenden Gebäude einen großen Raum mit drei Fenstern, den er zu zwei Dritteln als Werkstätte herrichtete. Das letzte Drittel wurde als Schlafkabinett durch einen billigen, über eine Stange laufenden Vorhang abgeteilt; und anders als durch diese Wand von Kattun hatte es keinen Zugang. Für seine Schwester fand er bewohnbar nur eine Kammer, die am Ende eines vielleicht zwanzig Schritt langen Ganges lag.

Unholdes nahm er in den Tagen der Vorbereitung nicht wahr. Von den Dorfbewohnern aber war nicht einer zum Betreten des Grundstückes zu bewegen, und das Mädchen, das allmorgendlich während des Aufenthaltes der Geschwister mit der Milchkanne kam, setzte sie nur nur an der Gartentür nieder und entfloh.

Freilich, als Caroline, die Schwester, das erstemal den zu ihrem Zimmer führenden Gang betreten wollte, da fuhr sie ihn nach einem Zusammenzucken in vollem Lauf hinunter und so in die Kammer hinein, deren Tür sie hinter sich zuschlug. Aber daß sie den Flur nur im Lauf überwinden konnte, atem- und herzbeklommen von etwas grausig Unbenennbarem in der Luft – dies blieb, wie die Geschwister erzählten, alles nur Schrecknis. Und sie begannen ein jeder seine Arbeit und und wohnten sich ein.

Nun saß eines Abends Herschel an seinem Tisch, den er vor das eine Fenster gerückt hatte, das letzte Licht über den Gartenbäumen ausnützend für seine Tabellen und Rechnungen, als er die Ringe des oben beschriebenen Vorhangs leise klirren hörte. Sich wendend, sah er eine Person im Raum stehen, einen Mann in jungen Jahren, fein, als Stutzer gekleidet, Spitzen an Hals und Ärmeln, eine Hand am Degengefäß, den Hut unterm Arm und gepudert. Gleich machte er einige Schritte, kam bis zum Tisch und setzte sich, übrigens völlig stumm, auf einen davor stehenden Stuhl Herschel anblickend, ließ er ihn in der Dämmerung ein bleiches, etwas gedunsenes Antlitz und schwarze, ein wenig traurige Augen sehen.

Herschel, die Feder in der Hand – hier – der aus dem unbetretbaren Raum Gekommene da; so saßen sie, beide wortlos, eine Zeitlang. Und da, wie der Astronom später erzählte, stieg ein tiefer Widerwille in ihm auf gegen dieses unnütze, dieses schauderhaft unsinnige Wesen, das nur so daherkam, ein bloßes Negativ des Lebens, in seinem erbärmlichen Unvermögen … Überdem aber geschah’s: das Phantom verlor seine Haltbarkeit, seine Umrisse verschoben sich, lösten sich auf, durch seine Kleider wurde der Vorhang sichtbar, und so verschwand es ….

Caroline ihrerseits konnte, obschon der Bruder ihr erst viel später von dem Begebnis Mitteilung machte, an diesem Abend in ihrer gewöhnlichen Gangart zu Kammer und Schlaf gelangen.

Ich habe dieses Erlebnis meines Urgroßonkels der Aufzeichnung für wert gehalten, weil es sich zutrug in jenen eifrigen Jahren, wo der eigentlich Nüchterne, Phantasielose, nur eine einzige Bewegung seines Innern kannte: seinen Geist an die wahren Bewohner unseres Jenseits, die Sterne, näher heranzuschwingen. Und weil unter vielen Berichten von Geistern und Geistervertreibungen einzig sein dürfte – mit ihrer geraden Verneinung eines der Ungestorbenen durch einen nur von der Würde seines Nutzens und freilich anderer Unsterblichlichkeit überzeigten Menschen.

(Albrecht Schaeffer, „Herschel und das Gespenst“ (1928).)

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Das 40-füßige Spiegelteleskop Herschels

Heute von 200 Jahren, am Sonntag, dem 25. August 1822, starb in Slough in der englischen Grafschaft Berkshire der berühmteste Astronom seiner Zeit, Friedrich Wilhelm Herschel, in Alter von 83 Jahren. Die Grundlage für diesen Weltruhm hatte 40 Jahre zuvor die Entdeckung des „siebten Planeten,“ Uranus, am 13. März 1781, während einer der ersten systematischen Durchmusterungen der Sternfelder der Milchstraße mit einem der ersten der von Schaeffer erwähnten selbstgefertigten Teleskope, mit einem Spiegeldurchmesser von 15,7 Zentimetern. Herschel hatte seine „zweite Laufbahn“ als Himmelsbeobachter in den Jahren 1773 und 1774 begonnen, und ab 1779 damit begonnen, den sichtbaren Himmel systematisch, Areal für Areal, nach Doppelsternen zu durchforsten. Seine Hoffnung war, daß diese Sterne, die in sehr nahem Abstand voneinander stehen, eine Möglichkeit bieten könnten, die sogenannte Sternparallaxe zu ermitteln, um wenigstens eine grobe Schätzung des bis dahin völlig unbekannten Dimensionen des gestirnten Himmels zu erhalten. Die im Halbjahrestakt erfolgende scheinbare Versetzung der Sterne durch den Umlauf der Erde um ihre Muttergestirn hätte zwar zu jener Zeit keiner absoluten Werte geliefert, da auch die tatsächliche Sonnenentfernung nur ansatzweise abzuschätzen war; aber immerhin hätte man dann beide Meßgrößen in Bezug zueinander setzen können. Die systematische Erfassung der veränderten Stellung beider Komponenten eines Doppelsternpaar hätte außerdem einen weiteren Fingerzeig geliefert; vor allem, wenn es sich nur um scheinbar Doppelsterne handelte, die nur scheinbar nebeneinander in der Sichtlinie des Beobachters stehen. Die Voraussetzung zur Auswertung der Beobachtungsdaten war freilich eine möglichst systematische Kartierung aller Kandidaten. Herschel präsentierte das Ergebnis seiner Katalogisierung dreimal vor der Royal Society: 1782 mit einer Liste von 282 Doppel- und Mehrfachsternen,1874 mit einer auf 434 Posten angewachsenen Liste und einer Ergänzungsliste von 145 weiteren Einträge von 1821.



Nachbildung des "Uranus"-Teleskops im Herschel-Museum in Bath

Bei dem verwaschenen Lichtpunkt, den Herschel am 13. März 1871 in der Nähe des Sterns Zeta im Sternbild Stier (ζ Tau) auffand, glaubte er zunächst, einen neu aufgetauchten Kometen entdeckt zu haben, und bezeichnete das Objekt in seinem ersten Bericht an die Royal Society vom 23. April auch so; erst im Lauf der nächsten Monate wurde klar, daß es sich nicht um einen flüchtigen Bewohner aus den Grenzbereichen des Sonnensystems handelte, dessen verdunstende Gase einen Halo und einen langgezogenen Schweif ausbilden würden (die meisten Kometen, die nur im Teleskop auszufinden sind, bleiben in dieser Hinsicht recht bescheiden). Am 26. April teilte Herschel dem Königlichen Astronom Nevil Maskelyne seine Zweifel hinsichtlich der Natur des neuentdeckten Objekts mit: „Ich bin mir nicht im Klaren, wie ich es nennen soll. Es könnte sich sowohl um einen Planeten mit seiner beinahe kreisförmigen Umlaufbahn wie auch einen Kometen auf einer langestreckten Ellipse handeln. Bislang habe ich weder einen Halo noch einen Kometenschweif ausmachen können.“

Nachdem durch die Bahnberechnungen des schwedischen Astronomen Johan Anders Lexell in Russland und des Berliner Astronomen Johann Elert Bode klar geworden war, daß hier tatsächlich ein neuer Planet entdeckt worden war – der erste, vom dem die gelehrte Menschheit seit den Tagen der Antike Kenntnis erhalten hatte – benannte Herschel ihn „Georgium Sidus,“ Georgs Stern, zu Ehren des englischen Königs George III. Der Name hielt sich zwar nicht, zumal der nichtenglische Teil der Gelehrtenzunft solchen Lokalpatriotismus als unpassend empfand, wo doch die klassischen Wandelsterne nach den Bewohnern des Olymp benannt waren. Aber die Geste brachte Herschel eine jährliche Apanage in Höhe von 200 Pfund Sterling ein. Bode schlug im März 1782 vor, den Planeten nach dem antiken Meeresgott Neptun zu benennen (die leuchtend blaue Färbung, die allerdings erst auf den Nahaufnahmen der Voyager-Sonden richtig zur Geltung kommen, legt dies nahe), und als das Königliche Jahrbuch-Büro in ihrem Nautischen Almanach für das Jahr 1850 dem Gott mit dem Dreizack Referenz erwies, war die „letzte Bastion des Widerstands“ geschleift.

Durch Herschels Entdeckung erweiterte sich die bekannte Größe des Sonnensystems um das Doppelte. Während die bis dahin bekannten äußersten Planeten Jupiter und Saturn ihr Zentralgestirn in einer Entfernung von 750 bzw. 1500 Millionen Kilometern umlaufen, beträgt die Distanz Uranus-Sonne 2,8 Milliarden Kilometer. Diese Gesetzmäßigkeit brachte die Astronomen Johann Daniel Titius und Bode (er schon wieder…) dazu, 1800 die Gesetzmäßigkeit zu formulieren, nach der die Abstände von Planeten nach dem Muster 1:2:4:8 zueinander stehen, während ihre Umlaufzeiten dem Verhältnis diese zweite Potenz dieser Zahlen ausmachen. Heute Astronomen erklären solche regelmäßigen Verhältnisse mit den Auswirkungen von Bahnresonanzen, nach denen die Partikel, aus denen sich größere Himmelskörper zusammenballen, nur dann dazu Gelegenheit erhalten, wenn die Störeinflüsse anderer Himmelkörper sie nicht vorher im Wortsinn „aus der Bahn werfen.“ Für die Philosophen des deutschen Idealismus, allen voran Hegel, war das Postulat des Titius-Bode-Reihe dagegen ein Paradebeispiel von unbegründeter Zahlenmystik. (In dieser Hinsicht ist ihm später Arthur Schopenhauer nachgefolgt, und es entbehrt nicht einer gewissen Komik, daß diese beiden prinzipiellen Antagonisten sich in einem Punkt ausnahmsweise einig waren, in dem sie sich beide auf dem Holzweg befanden.)

Herschels spätere Teleskope, mit denen er seine systematischen Durchmusterungen des Himmels fortsetzte, zählten zu den größten seiner Zeit – sowohl der 20-Füßer (den auch Schaeffer en passant erwähnt) – ein Teleskop mit 30 cm Hauptspiegeldurchmesser und eine Fokallänge von 20 Fuß (genauer 610 cm), den William und seine Schwester Caroline 1782 anfertigten und den er bis 1809 benutzte, als aus der „40-Füßer“ – ein fast monströs anmutendes Instrument mit einem Hauptspiegel von 1,26 Durchmesser und einer Fokallänge von mehr als 12 Metern, den die Geschwister im Garten ihres Hauses in Bath montiert hatten und der sich schnell zu einer lokalen Attraktion entwickelte, das Besucher des nahegelegenen Windsor Castle gerne in Augenschein nahmen. Freilich erwies sich die Ausrichtung und die Beobachtung mit diesem Ungetüm als derart umständlich, daß es Herschel in der Folgezeit kaum zu tatsächlichen Beobachtungen verwendete. Die Entdeckung der ersten beiden bekannten Saturnmonde, Mimas und Enceladus, während des ersten Monats nach der Inbetriebnahme im Februar 1787 bleiben die einzigen Entdeckungen mit diesem Instrument. Erst der „Leviathan von Parsonstown,“ den der Earl of Rosse ein halbes Jahrhundert in zwischen 1838 und 1840 in Irland konstruierte, übertraf die Dimensionen dieses Geräts.



("Kenotaph" der Überreste des 40-Fuß-Teleskops, eingerichtet von John Herschel nach der Demontage 1840. Alter Zustand.)



(Heutiger Zustand)

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Es ist in Gedenkbeiträgen zu Herschel üblich geworden, zu betonen, daß sein eigentliches Metier, sein Brotberuf, bevor er sich ab dem Anfang der 1780er Jahren ganz seiner Passion für die Sternkunde widmen konnte, die Musik war – sowohl als Kirchenmusiker wie auch als ein fleißiger Komponist. Dennoch bleibt eins davon unberührt: wäre er bei diesem Metier geblieben, so würde er heute zu den zahllosen unbekannten, vergessenen, verschollenen Compositeurs und Tonsetzern zählen, wie sie besonders auf dem Kontinent in der Zeit zwischen 1720 und 1850 an jedem Konservatorium, jedem kleinen Adelshof und jedem Theater zu finden waren, um Programmmusik für alle weltlichen und geistlichen Anlässe zu liefern, deren Werk, zumeist nur in den Kopien für die Aufführung angefertigt, in den nie gesichteten Archiven einstaubt und so vergessen ist, wie sie es zu ihrer Zeit, vor der Erfindung der technischen Reproduktionsmöglichkeiten, auch schon war – vom unmittelbaren Kreis der Zuhörer einmal abgesehen. Wenn für eine Kunstausübung Walter Benjamins Diktum von „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduktion“ zutrifft, dann auf die Musik. Wenn es in den letzten 20 Jahren wieder Einspielungen von Herschels 24 Symphonien, fast 40 Sonaten und zahllosen anderen Stücken gegeben hat, dann verdankt sich das einzig dem Umstand, daß sein Weltruhm als Astronom hier ein gewisses Interesse geweckt hat – ungeachtet des Stellenwerts dieser Kompositionen (Dabei darf man sich unter der Sinfonieform bei ihm auch nichts die „große Form“ vorstellen, wie sie mit den späten Sinfonien Mozarts beginnt und dann im Zug des Romantik von Beethoven bis Brahms zum rahmensprengenden Format anschwillt; Hier handelt es sich noch, ganz im Sinne von Händel, um eine etwa voluminöser getunte Variante der Sonatenform.). Es ist geschätzt worden, daß zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts, als die Oper sich von Norditalien aus kommend, als musikalische Darreichungsform etablierte, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gute 30.000 Opern komponiert worden sind. Davon mögen, generös geschätzt, gute 300 zu „Repertoirestücken“ geworden sein. Der Rest ist verweht, verklungen – und für den größten Teil davon wird es niemals wieder zu einer Auferstehung kommen.

Drei Fußnoten zum Schluß: aus dem, was ich am Anfang über Herschels systematische Durchmusterungen geschrieben habe, wird eines klar: daß mit ihm – und mit der Arbeit seiner Schwester Caroline (1750-1848) und seines Sohns John (1792-1871), der als erste solche systematischen Katalogisierungen des Südhimmels von Kap der Guten Hoffnung aus unternommen hat, betritt ein neuer Typus des Astronomen die Bühne: nicht mehr die Beobachtungen spektakulärer Einzelphänomene bestimmt ihr Bild in der Öffentlichkeit, sondern die Erbsenzählerei, die endlosen Listen mit ihren dürren Zahlenkolonnen, die Katalogen mit ihren zehntausenden von Einträgen von Positionen, Helligkeiten, Kurven und griechischen Kürzeln, Spektralklassen und Absorptionsbanden.

Es ist dieser Typ des Himmelsforschers, auf den Schillers bekanntes Xenion gemünzt ist:

Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und Sonnen,
Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch gibt?
Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,
Aber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht.
(Musen-Almanach für das Jahr 1799)

- ein Sentiment, das Walt Whitman ein halbes Jahrhundert später in seiner Sammlung „Leaves of Grass“ unter dem Motto „When I heard the learn’d astronomer“ erneut aufgreift:

When I heard the learn’d astronomer;
When the proofs, the figures, were ranged in columns before me;
When I was shown the charts and the diagrams, to add, divide, and measure them;
When I, sitting, heard the astronomer, where he lectured with much applause in the lecture-room,



How soon, unaccountable, I became tired and sick;
Till rising and gliding out, I wander’d off by myself,
In the mystical moist night-air, and from time to time,
Look’d up in perfect silence at the stars.

(Zuerst erschienen in der Sammlung “Drum Taps,” 1865, danach aufgenommen in die 4. Ausgabe der „Grashalme“ von 1867.)

Als ich den gelehrten Astronomen horte
Als er vor mir in langer Reihe die Zahlen und Beweise ausbreitete
Als er mir die Tabellen und Diagramme vorwies,
als er sie addierte und teilte und nachmaß,
als ich ihn hörte, wie er im Hörsaal Applaus erntete,

Wie schnell wurde ich da müde und elend
Bis ich aufstand und mich alleine davonstahl
Und hinaus in die feuchte Nachtluft trat und ab und zu
In völliger Stille den Blick zu den Sternen hob.

(U.E.)

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Ein kleines Beiseit: es ist kein Geheimnis, daß ich diese Beiträge in den nördlichen Bereichen des Münsterlands schreibe. Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, spätestens seit Anfang der 1990er, kam es zu hier (und wohl auch in anderen Bereichen der norddeutschen Tiefebene, zu dem im Rückblick merkwürdigen Phänomen, daß nach und nach auf jedem Sprengel, jeder Kleinstadt, jedem Dorf ein lokaler Autor begann, Bücher, Belletristik, Sachbücher bei Verlagen herauszubringen. Das Phänomen des Lokalkrimis war die augenscheinlichste Facette davon. Nun muß ein bücherschreibender Mensch naturgemäß irgendwo seinen Wohnsitz nehmen, und von Arno Schmidt, Jean Paul bis Günter de Bruyn und Ulrich Holbein steckt die deutsche Literatur voller solcher Einsiedel, die weitab der großen Ballungszentren „ihr Ding durchziehen.“ Dennoch war diese Häufung auffällig und bis dahin nicht vorgekommen. Das galt zumal, weil sich nicht wenige dieser Autoren auf Spielarten der Phantastik kapriziert haben. In Münster gab es Ulrich Horstmann, Autor des „Untiers,“ Dietrich Wachler, Werner Zillig; in Laer, 8 km von dort, Winfried Pielow, Verfasser von Romanen und Erzählungen; in Altenberge, 15 km weit entfernt Linus Hauser und Hans Blumenberg – zwar kein Erzähler, aber als Verfasser der „Genese der kopernikanischen Welt“ in diesen Bereich ragend; in Horstmar Eckart Heftrich, der neben seiner Vorlesungstätigkeit als Professor der Germanistik regelmäßig in der FAZ neue Romane rezensierte. Am geläufigsten dürfte der Name von Jürgen Kehrer sein, dem Schöpfer des Münsteraner Detektivs Wilsberg. Das Erstaunliche ist nun, daß in den letzten 15 Jahren fast ohne Ausnahme sämtliche dieser Autoren verstummt sind, nichts mehr publizieren, nicht mehr schreiben. Der Status quo ante hat sich wieder eingestellt. Bei Verstorbenen wie Blumenberg (1996) oder Wachler (2004) nimmt das naturgemäß nicht wunder (obschon aus Blumenbergs Nachlaß gefühlt Dutzende von Titeln bei Suhrkamp-Verlag erschienen sind). Aber auch von den noch Lebenden scheinen alle verstummt. (Kehrer, der nach 17 Lokalkrimis um Wilsberg die Reihe 2007 eingestellt hatte, nachdem das ZDF mit der Ausstrahlung seiner TV-Umsetzungen begonnen hat, hat 2015 und 2020 zwei weitere Bände publiziert – aber er bildet in dieser Reihung die Ausnahme, die die Regel bestätigt.)

Zu den Verstummten gehört auch die Autorin Eva Maaser, keine drei Kilometer seitab von meinem Schreibtisch wohnhaft, die ab 1999 mit einer Reihe fünf solcher lokal angesiedelter Mordgeschichten ihre schriftstellerische Karriere begann und mehrere recht voluminöse historische Romane vorgelegt hat. Und ein Titel aus dieser zweiten Reihe ist dem Leben von William Herschels Schwester Caroline gewidmet: „Die Astronomin“ von 2004, von ihrer Jugend im Hannoverschen, ihrer Ausbildung als Operndiva, den Jahrzehnten, als sie ihrem berühmten Bruder beim Bau seiner Teleskope und dem geduldigen Schleifen der Spiegel assistierte, als Beobachterin ihr eigenes Recht geltend machte (sie entdeckte insgesamt 8 Kometen), und schließlich nach dem Tod ihres Bruders nach Hannover zurückkehrte, wo sie zwei Monate vor ihrem 98. Geburtstag starb.



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Albrecht Schaeffers kurze Prosakizze “Herschel und das Gespenst“ („Erzählung“ mag man die kleine Anekdote kaum nennen), ist Teil des Dutzend solcher Texte, die 1928 in der Sammlung „Mitternacht“ im Insel Verlag in Leipzig erschienen sind. Schaeffers recht umfangreiches literarisches Werk ist heutzutage ebenso verschollen und vergessen wie das musikalische Oeuvre Herschels. Schaffer (1885-1950) pflegte eine Art literarische Backsteingotik: recht abstrakte, kantig anmutende schicksalsschwere Lebensschilderungen mit schwerem symbolistischen Beigeschmack vor der Kulisse erdschwer gezeichneten norddeutschen Kolorits und düsterer Himmel, unter denen nachtschwarze Kanäle Tiefe andeuten sollen, wo ein nüchternerer Betrachter eher fürchtet, in den Morast zu stolpern. Eine ähnliche Stimmung läßt sich bei Schaeffers Zeitgenossen Friedo Lampe und, wenn auch in geringerem Maß, bei Hans Leip herausschmecken, bei Hans Henny Jahnn, oder bei Ernst Kreuder. Alle diese Autoren stehen dem Blut-und-Boden-Brodem der 30er Jahre denkbar fern, aber das „schicksalsschwere Wallen vor umdüstertem Horizont“ macht die Lektüre alles andere als angenehm. Die Wiederauflage von Schaeffers Hauptwerk (sicherlich nach der Einschätzung des Autors), des dreibändigen Romans „Helianth,“ mit dem der Bonner Weidel-Verlag 1995 eine zaghafte Renaissance versucht hat, ist ohne jeden Wellenschlag untergegangen. Überraschend ist das nicht: 2400 Seiten eines völlig vergessenen Autors, zu einem Preis von 168 D-Mark sind eine Zumutung, der sich auch ohne den Hautgout des bemüht Schickalsdräuenden kaum ein Leser freiwillig aussetzen wird. Rolf Vollmann hat seine umfangreiche Besprechung in der FAZ aus Anlaß der Neuerscheinung, damit beendet, daß er die Whitmans lyrisches Ich den Blick zu den Sternen hob: „Ich habe das Horoskop gelesen, das er sich gestellt hat, er glaubte an die Sterne. Gott bewahre uns vor den Sternen, denn wir haben doch die Bücher, und diese wunderbare Norddeutsche Tiefebene, voll mit Kähnen…“ („Es kommt ein Kahn geladen,“ FAZ, 05.12.1995)

Und um mit dieser Blickrichtung abzuschließen: der skeptische Blick des zahlenfixierten Beobachters mag die irdischen Phantome zerfließen lassen – am Himmel finden sich Neue. Zu den Nebelflecken die William Herschel entdeckt hat, am 9 Dezember 1784 bei der Durchmusterung des „Schiffs Argo,“ der Argo Navis südlich des Himmelsäquators, in jedem Bereich der heute das Sternbild „Achterschiff,“ Puppis, bildet, zählt der Emissionsnebel NGC 2467. Die Katalognummer bezieht sich auf die Reihenfolge der Auflistung im „New General Catalogue,“ den der amerikanische Astronom John Emil Louis Dreyer in drei Folgen 1888, 1895 und 1908 herausgebracht hat. Und dieser Katalog wiederum beruht auf dem „Catalogue of Nebulae and Clusters of Stars,“ den William und Caroline Herschel in erster Fassung 1786 veröffentlicht haben und den Williams Sohn John noch erheblich erweitert hat. Und das Objekt mit der Nummer 2467 ist in den Kreisen der Amateurastronomen, die dergleichen gern mit treffenden Namen versehen, auch als „Skull and Crossbones Nebula“ bekannt, oder im Deutschen als „Totenkopfnebel“ – weil er bei geringer Auflösung eine gewisse Ähnlichkeit damit erkennen läßt. Im „Innovations Report“ der ESO, der Europäischen Südsternwarte vom 23. Oktober 2018 heißt es dazu unter der Überschrift „Ein Gespenst am Südhimmel“:

„Es ist leicht zu erkennen, woher der Vergleich mit einem Gespenst kommt. Diese junge, leuchtende Formation ähnelt deutlich einem beunruhigenden hohlen Gesicht, von dem hier nur der klaffende Mund sichtbar ist. Es handelt sich hier nur um eine zufällige Kombination entlang der Sichtlinie mit der Erde, die die Sterne und das Gas zu einem humanoniden Gesicht formen.“




NGC 2467

U.E.

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