11. September 2020

Bundeswhahaharntag

"Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht." - Franz Kafka, "Das Schweigen der Sirenen"
Vorausgeschickt sei, daß am heutigen Morgen, dem 10. September 2020, dem "Bundeswarntag", in meinem Kleinstädtchen um Punkt 11 Uhr tatsächlich eine Sirene geheult und zwanzig Minuten darauf Entwarnung gegeen hat. Auf der lokalen Ebene, auf der seit Anfang der 1990er Jahre, nach der Auflösung der zehn bis dahin dafür zuständigen zehn Warnämter, die Verantwortung für die Auslösung des Alarms liegt, funktioniert die Durchführung also durchaus noch. Jedenfalls soweit vor Ort noch eine solche Vorrichtung montiert und in Betriebsbereitschaft ist. Von den 80.000 Sirenen, die in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik (für die ehemaligen DDR habe ich keine Zahlen finden können) als flächendeckendes Alarmsystem installiert worden sind, sind mindestens die Hälfte nach der deutschen Wiedervereinigung demontiert worden; man findet Angaben, daß der Bestand aktuell bei gut 15.000 Vorrichtungen liegt. Aber gemäß den Meldungen, die am Nachmittag nicht nur in den sozialen Netzen (allem voran natürlich das sekundenaktuelle Dorftratsch-Hightech-Äquivalent Twitter, sondern auch in Berichten etwa bei der "Welt" und im "Focus" zu lesen waren, darf man den Probelauf des bundesweiten Alarmsystems unumwunden als Fiasko bezeichnen. Der Münchner "Merkur" schrieb sogar von einer "riesigen Panne". Das mag dem Tonfall des Boulevards geschuldet sein; in der Sache kann man dem Befund beipflichten. ­ Es ist natürlich Sinn und Zweck eines solchen Trockenlaufes, einer solchen Generalprobe, die Tücken und Schwächen eines solchen installierten Systems offenzulegen. Aber in dem Versagen selbst elementarer Features, dem Nichtversenden einer Nachricht auf einer eigens dafür programmierten Mobilanwendung, einer App (in diesem Fall die Warn-Apps NINA und KATWARN), die über zwanzigminütige Verspätung der Meldung, das Versäumnis, dies als Pushup laufen zu lassen, also auf den Endgeräten sofort an erster Stelle anzuzeigen, der Zusammenbruch der Ablaufkette, weil der "Startschuß" nicht von BBK, den Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn erfolgte, sondern auch zeitgleich auf Landes- wie auf Gemeindeebene: all das sind recht verlässliche Anzeichen dafür, daß hier nicht ein paar triviale Programmierfehler vorliegen, sondern sich - wieder einmal - ein systemisches Versagen dieses Staates auf einer Vielzahl von Ebenen, eigentlich "fraktal" auf allen Ebenen offenbart. Seit drei Jahren wird dieses Verbundssystem zur Benachrichtigung der Bevölkerung in einem tatsächlichen Katastrophenfall nun vorbereitet; mehr als 14 Millionen Euro sind in das Projekt geflossen, de Vorbereitung des "Tag X" lief seit Monaten, in der Implementierungsphase seit Wochen - und es ist nichtmal geklärt, wie der genaue Ablauf stattzufinden hat? Hat man nie das in Aussicht stehende Datenvolumen überschlagen und die Durchsetzungkapazitäten ermittelt; eine Drosselung des Signals im Überlastungsfall eingeplant, die Komponenten vor der Generalprobe einzeln wie in kleinen Verbunden vorab getestet? All dies ist in der Softwareindustrie Standard (den alten Scherz, daß der Beta-Test neuer Betriebssysteme die Markteinführung darstelle, um anhand der Beschwerden der ersten Nutzerkohorte die Macken des neuen Produkts zu ermitteln, spare ich mir an dieser Stelle). Spott und Hohn darüber sind natürlich billig, wenn auch vollkommen berechtigt: daß der Alarm allen Nutzern, den ihn versäumt hätten, innerhalb der nächsten 14 Tage per Briefpost zugestellt werde, dürfte am heutigen Nachmittag in den sozialen Netzwerken der geläufigste Spruch gewesen sein. Und natürlich kann man über den Endnutzen eines solchen Dienstes, eines solchen Projektes, durchaus die Stirn runzeln: die üblichen Mitteilungskanäle, zumal eben diese sozialen Medien wie Instagram, Facebook oder Twitter, dazu die öffentlich-rechtlichen Medien, sollten für solche Kommunikations- und Warnaufgaben allemal hinreichen. Nur: wenn ein solches Vorhaben schon in Angriff genommen wird, geplant wird, implementiert wird: dann sollte die Politik, die dergleichen plant, und die Industrie, die mit der Umsetzung beauftrag wird, dies auch ernstnehmen. Ein umfassendes Desaster, eine solche Peinlichkeit sollte bei einem erprobten Prozedere schon im Vorfeld zu verhindern sein. Auf seine Art erinnert dies an das berüchtigte "Besenstilmanöver" der NATO im November 2014 in Norwegen, als die "mobile Eingreiftuppe" des Verteidigungsbündnisses, im Nachgang der russischen Besetzung der Krim zum Schutz des baltischen und osteuropäischen NATO- und EU-Staaten gebildet, ihren ersten Testeinsatz hatte - und als deutsche Schützenpanzer mangels Geschützrohren mit schwarz bemalten Besenstielen ins Manöver zogen (das war natürlich eine zynische Geste der Einsatzleitung vor Ort, um auf eklantante Versämnisse hinzuweisen). Dergleichen, in diesem Fall also Militärmanöver, wrden abgehalten, um herauszufinden, ob die Planungsvorgaben für Einsätze eingehalten werden können - und vor allem: um herauszufinden, wie es um das verfügbare Material nd die Mannschaften bestellt ist. Unter diesen Gesichtspunkten handelt es sich durchaus um einen "Ernstfall", kein Spaßvorhaben: die Ansprüche gleichen denen, die bei einem tatsächlichen Einsatz auftreten würden, oder sind sogar härter ausgelegt. Die Schwächen des Ist-Zustandes zeigen sich hier (hoffentlich) gnadenlos. So kommt ein anderer zynischer Spruch, der heute auf Facebook die Runde machte, dem Kern der Sache sicher näher: "Heute ist alles wie immer bei unseren deutschen Politikern: da wird auch fortwährend gewarnt, meistens zu spät, und dann passiert gar nichts." Viel mehr als zur Demonstration des blamablen Zustands eines technischen Vorhabens eignet sich die heutige Clownerie nämlich als hervorragende symbolische Illustration des Zustands unseres politischen Systems, der Unternehmens Deutschland, das kein Projekt mehr "auf die Kette bekommt" - seien es Energiewende, Elektromobilität, der BER, die Aufstellung eines nachvollziehabren Zeitrahmens, wie aus dem Ausnahmezustand des Corona-Einschränkungen wieder zu einem Normalzustand zurückgekehrt werden soll (und wie dieser neue Zustand denn nun auszusehen habe), wie sich das Schicksal der von Frau Merkel eingeladenen Millionen Neudeutschen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten denn nun gestalten wird, und so fort. Wenn etwas dieses Staatswesen kennzeichnet, ist es, daß es nur noch imstande zu sein, planlos Unsummen von Geld zu verteilen, um Projekte anzustoßen, die sich am Ende als dysfunktional und sinnlos herausstellen. Wenn unsere Politik eines noch kann - das aber auf eine hervorragende Weise (wenn auch nicht so, wie es beabsichtigt war), dann ist es Symbolpolitik. Der Netztagebuch-Kollege Danisch hat heute in seinem Beitrag zum Thema die Zuschrift eines Lesers veröffentlicht, der offenbar mit einigen Details der Durchführung "vor Ort" vertraut ist. Da der Beitrag öffentlich ist und von jedermann eingesehen werden kann, setze ich dies sozusagen als Zeugenaussage hierher, weil es das Bild des versammelten Unfähigkeit - technologisch wie organisatorisch - im Neuland gut illustriert.
Gerade habe ich mich mit einem Bekannten unterhalten, der für das THW arbeitet. Er hat mal erzählt was das für ein Durcheinander war. Eigentlich kann man sich das nicht vorstellen, denn der Termin war ja allen seit Monaten kommuniziert worden. Die haben also alle da gesessen und jeder wusste, dass es heute um 11 Uhr einen Alarm gibt – und trotzdem ist das in die Hose gegangen: Wie soll das erst sein wenn es wirklich mal einen unerwarteten Vorfall gibt. Laut seinem Bericht gab es Versagen auf mehreren Ebenen. Zu allererst war die Hierarchie nicht klar. Im Ernstfall muss genau klar sein wer für was zuständig ist – deshalb gibt es ja auch beim Militär einenklare hierarchische Struktur. Wenn es schnell gehen muss kann nicht erst noch Kompetenzgerangel ausdiskutiert werden. HIer gab es wohl zwischen Bund und den Länderfürsten ungeklärte Zuständigkeiten. Noch beachtlicher finde ich aber, dass die Informationsübermittlung nicht geklappt hat. Da werden echt im Jahre 2020 noch Sachen über Fax geschickt – und dann ist natürlich irgendwo das Papier alle oder der Toner ausgetrocknet (weil seit Jahren kein Fax mehr kam). Oder das Fax geht als Datei in irgendeinen Ordner, aber keiner weiß mehr so genau was da irgendwann irgendjemand eingerichtet hat. Wenn das an einer Endstelle passiert, dann ist es nicht so schlimm, aber wenn ein Verteilerknoten versagt, dann sind ganze Landstriche ohne Information. So kam es dann, dass in manchen Orten nichts ankam. Wenn man dann in Bonn nachgefragt hat, herrschte dort totales Chaos. Daraufhin haben manche dann einfach gemacht, was sie für richtig hielten, also der eine hat die Sirene ohne Auftrag angestellt, der andere hat gewartet. Auch war es dann nicht klar wann der Alarm vorbei war usw. Auch bei der Verteilung an die Bevölkerung gab es wohl Verzögerungen weil das System unter der Last zusammengebrochen ist. Du bist Informatiker und weißt vielleicht besser wie man so was macht – ich hätte mir vorgestellt, dass man irgendwo eine Lastmessung einbaut und dahinter eine Drosselung. Oder die Nachrichten in Pakete aufteilt und die nach und nach abschickt. Positiv ist zu vermerken, dass der Test überhaupt durchgeführt wurde. Nur so findet man raus was nicht funktioniert. Allerdings ist herausgekommen, dass fast nichts funktioniert – obwohl der Termin seit Monaten vorbereitet wurde. Machen musste ich, dass als ‚lessons learned‘ jetzt noch mal die Listen mit den Faxnummern auf den neuesten Stand gebracht werden sollen. Das Katastrophenzentrum macht seinem Namen alle Ehre – eine einzige Katastrophe…
Faxgeräte. Da bekommt der Ausdruck, man habe die Faxen dicke, gleich eine neue Bedeutung. (Um es einmal unzynisch zu sagen: wenn man bei der Implementierung solcher Projekte solche Teilnahmebedingungen feststellt, sollte man auch dafür sorgen, daß ein Projekt unter diesen Umständen auch umgesetzt werden kann.) Eines aber steht nicht zu erwarten: daß man aus diesen Fehlern lernen wird und sie beheben wird. Dazu dürfte dieses System mittlerweile nicht mehr in der Lage sein.
U.E.

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