28. Mai 2018

Der Herausgeber. Zum Tod von Gardner Dozois


(Bildquelle Wikimedia)

"I know that journalism largely consists in saying 'Lord Jones Dead' to people who never knew that Lord Jones was alive," schrieb G. K. Chesteron vor mehr als 100 Jahren im zweiten Band seiner Pater-Brown-Erzählungen, The Wisdom of Father Brown (1914), und der Protokollant sieht sich im Fall von Gardner Dozois in genau dieser Situation.

Zu den Besonderheiten der Science Fiction als literarischem Genre - neben der Tatsache, daß sie die Gesamtheit der Welt, in all ihrer Bedeutung: das gesamte Universum, die Tiefe der Zeit bis zu ihrem Beginn im Big Bang (und zu den hypotethischen Zuständen davor) bis zu ihrem Ende, in sämtlichen Variationen, dem menschlichen Urbedürfnis des Geschichtenerzählens zugänglich macht - zählt das, was man als ein "dialogisches Verhältnis" mit der Leserschaft nennen kann. Der Ideenschatz, die Tropen, die Themen, die Standardsituationen - sie alle bilden ein Kontinuum, in dem sich die Autoren wie die Leser in diesem Mikrosmos des Narrativen bewegen: Texte antworten auf andere Texte, Ideen verselbständigen sich, neue Autoren, die etwas originelles beizutragen haben, werden schon nach wenigen Veröffentlichungen bekannt, selbst wenn es sich dabei nur um einige kurze Erzählungen handelt. In sehr großem Maß verdankt sich diese Besonderheit - die es in dieser Form in keinem anderen literarischen Genre gibt - der Besonderheit, daß ein Großteil der innovativen Texte bis heute in der Form nicht von Romanen, sondern als kürzere Erzählungen publiziert wird. Die SF-Magazine, die sich allein auf Science Fiction kaprizieren, verdanken zwar ihren Ursprung der Spezialisierung des alten "pulp magazines", der amerikanischen Groschenhefte in den 1920er Jahren, die den wachsenden Bedarf als Genreliteratur, als spannender, anspruchsloser, aber themenzentierter Unterhaltungskost bedienten: anders als die Magazine alten Stils, wie etwa des berühmten Strand Magazine (in dem ab 1891 die Abenteuer Sherlock Holmes' abgedruckt wurden, neben den Kinderbüchern von E. Nesbit, zahllosen historischen Romanen, exotischen Abenteuern, und die Gegenwart des Hier & Jetzt ins Auge fassenden "Mainstream"-Texten von Arthur Quiller-Couch bis zum frühen P. G. Wodehouse), lieferten sie Detektiv- und Kriminalstories, Wildwestgeschichten, Seeabenteuer - und nichts sonst. Anders als bei diesen Veröffentlichungen kam es aber in der SF von Anfang an zu einem Austausch der Ideen, zu einer besonderen Bindung der Leserschaft. 

Und den größten Anteil an dieser speziellen Stellung hatten die Herausgeber, die jeden Monat die Auswahl trafen, deren Vorlieben (und Blindheiten) sowohl das Feld selbst, die Autoren, die für sie schrieben, und ihre Leserschaft prägten: von Hugo Gernsback, Anfang des 20. Jahrhunderts aus Luxemburg in die Neue Welt emigriert und Pionier des Radios, der 1926 den Markt reif für ein Magazin mit Erzählungen in der Manier von Edgar Allen Poe, Jules Verne und H. G. Wells sah und mit Amazing Stories dieses Feld begründete, über John W. Campbell, Jr., der Ende der 1930er Jahre aus dem Groschenmagazin Astounding Stories eine Spielwiese für anspruchsvolle Ideenreflexion formte, Horace Gold und Anthony Boucher, die ab 1950 mit Galaxy und The Magazine of Fantasy & Science Fiction dem Genre eine weitere Respektabilität verschafften. Und die nicht zuletzt als Herausgeber von Anthologien diesen Texten über die kurzfristige Präsenz von ein oder zwei Monaten im Kiosk und das Trouvaille von Sammlern hinaus Dauer verliehen und sie so zu Referenztexten für Generationen von Lesern werden ließen - angefangen mit der ersten großen Anthologie von Genreerzählungen, dem 1946 von Raymond J. Healy und Francis McComas herausgegebenen, 997 Seiten umfassenden Band Adventures in Time and Space (die für 32 ihrer 33 Erzählungen auf Astounding Stories zurückgriff). Und nicht zuletzt auf die jährlich erscheinenden Florilegien der besten Kurztexte des vergangenen Jahres, der Year's Best-Anthologien, die in der einen oder anderen Anthologienreihe ohne Unterbrechung erschienen sind, seit Everett E. Bleiler und T. E. Dikty 1949 im Verlag Frederik Fell den ersten solchen Band publiziert haben. Auch dieses Phänomen findet sich an keinem anderen Plätzchen im Karpfenteich des Literarischen: anderen Unternehmungen, wie, jetzt einmal in den Bereich literarischer Kurztexte im Allgemeinen hinüberblendend - etwa den Best American Short Stories of the Year, 1915 von Edward O'Brien begründet und seit 1978 unter wechselnder Herausgeberschaft eines namhaften Autors ediert, oder den Best American Essays of the Year, seit 1986 ebenfalls unter wechselnder Patenschaft verlegt, ist nie diese Prägekraft zugekommen.

Gardner Dozois war vielleicht der letzte große Herausgeber, der das Feld der Science Fiction in dieser Weise dominiert und geprägt hat: zum einen als Herausgeber von Isaac Asimov's Science Fiction Magazine, 1977 als Pendant zu Ellery Queen's Mystery Magazine und Alfred Hitchcock#s Mystery Magazine in deren Stammhaus Davis Publications gegründet, das er 18 Jahre land, von 1986 bis 2004, als Herausgeber, zum weltweit führenden Magazin auf diesem Gebiet gemacht hat: dieses "weltweit" kann ohne jede einschränkende Ironie genommen werden, da sich dieses "dialogische Verhältnis", diese Selbstreflexion, dieses quicksilbrige Hin-und-her, die diesem Genre seine einzigartige Lebendigkeit verleiht - ganz unabhängig den den darin behandelten Themen - einzig auf den englischen Sprachbereich beschränkt. In keiner anderen Zunge haben sich diese prägenden Besonderheiten, diese Wechselwirkungen zwischen Autoren, Lesern, Herausgebern und eben auch Kritikern herausgebildet: weder im Französischen, dessen Magazine wie Fiction (ursprünglich eine französischsprachige Nachdruckauswahl des Magazine of Fantasy & Science Fiction) seit langen Jahrzehnten Geschichte sind; noch im Russischen, dessen einzige Publikation Esli eine vierteljährige Liebhaberangelegenheit ohne nennenswerte Stammleserschaft darstellt; nicht im Deutschen, das trotz diverser Anläufe in den letzten 60 Jahren es nie zu einem bekannten oder auch nur ansatzweise vom Publikum angenommenen SF-Magazin gebracht hat. (Die einzige reguläre Plattform für kurze Genretexte in deutscher Sprache bildet alle zwei Wochen das Computermagazin c't, mit einem eigenen Autorenstamm und dem eminenten Nachteil, daß es keine Rezensionen, keinen buzz  - also, auf welche Weise auch immer, einen "Hallraum", ein Wissen um das Vorhandensein dieser Texte, einen Hinweis: "lies das: es könnte dich interessieren" - gibt, die eine essentielle Facette für ein lebendiges Genre darstellen. Der serbische SF-Autor Zoran Zivkovic - vielleicht der originellste Nachfolger, in Thematik wie Darstellung, von Jorge Luis Borges - hat bemerkt: wer heute auf serbisch schreibe, spreche in ein Vakuum. Ebenso läßt sich sagen: wer heute SF-Erzählungen auf deutsch verfaßt, schreibt in einem Vakuum.) Das Genremagazin mit der weltweit höchsten Auflage, das chinesische 科幻世界, Kehuan Shijie (seit 1979 in Chengdu publiziert) mit einer Gesamtauflage von gut 130.000 Exemplaren pro Monat zeigt ebenfalls nicht dieses (no pun intended) Pingpong, trotz eines enormen Leserinteresses gerade unter den typischen Genrelesern: jung, männlich, mit einem starken Interessen an Wissenschaft  und Technik. Die Ägide der gedruckten Magazine auf diesem Terrain mag sich dem Ende zuneigen: die Gesamtauflagen der "3 großen" verbliebenen, seit Jahrzehnten etablierten Publikationen sinkt seit vielen Jahren; die Auflagen liegen zwischen 20.000 Exemplaren (für Analog Science Fiction - Science Fact) und 10.000 (für F&SF) (mit Asimov's mit einer Auflage von 17.000 Exemplaren im Mittelfeld), aber die Rolle der Plattformen haben seit gut 10 Jahren Internetmagazine wie etwa Clarkesworld Magazine, Beneath Ceaseless Skies oder Lightspeed übernommen, professionell redigierte (und zahlende) Outlets, deren Qualität hinter der der alten gedruckten Pendants nicht zurücksteht - und die den Vorteil haben, daß sie, anders als jene, weltweit jedem Interessierten auf einen Mausklick - solange er, sie oder es ("the human race, to which most of my readers belong..." um noch einmal Chesterton zu zitieren, dessen Roman The Napoleon of Notting Hill von 1904 so anhebt) die Lingua franca des modernen Welt beherrscht - zur Lektüre bereit steht.

Die genannten Auflagenzahlen - sie gelten für das Jahr 2016 -  entnehme ich der 40 Seiten umfassenden Einleitung der wichtigsten retrospektiven Jahressammlung, dem 34. Band von The Year's Best Science Fiction, im Juli 2017 im New Yorker Verlag St. Martin's Press erschienen: und hier kommen wir zu dem zweiten, und wohl gewichtigeren Vermächtnis von Dozois: diese Sammlung, 1984, im "Jahr Orwells" (und William Gibsons Neuromancer) begonnen und das Jahr 1983 abdeckend, deren letzter Band nun im Juli erscheinen wird, war über nun fast dreieinhalb Jahrzehnte die Referenzquelle für die Entwicklung des Genres, die wichtige alljährliche Sammlung von Texten, deren Jahresrückblicke knapp und höchst informativ den Zustand des Genres und der wichtigsten Titel referierten: wer sich allein auf diese Buchreihe beschränkte, konnte sich darauf verlassen, einen guten Überblick über das Genre zu behalten. Nicht zuletzt finden sich in dem mittlerweile gut zwei volle Regalmeter meiner Bibliothek einnehmenden Konvolut wortwörtlich hunderte von hervorragenden Erzählungen von den großen Namen des Genres bis hin zu jenen Fällen, in denen ein Autor nur einen bemerkenswerten Text vorgelegt hat (als Beispiel fällt mir aus der Lamäng Scott Bakers Erzählung "Sea Change" ein, 1986 im vierten Band nachgedruckt, sowie Jim Cowans "The Spade of Reason" von 1996).



(Bildquelle: Internet Science Fiction Data Base)

Als Autor hat Dozois weniger Gewicht, obschon er - darin gleicht er vielen seiner Herausgeberkollegen, etwa Boucher und Gold, - als Verfasser durchaus qualitätsvoller Texte seine Karriere begonnen hat: seine gut vierzig Erzählungen, ab 1970 publiziert, gehören zu jener zutiefst pessimistischen Sparte des Genres jener Jahre, deren rabenschwarze Sicht auf die Zukunft der Menschheit und ihres Planeten, paradoxerweise, dazu geeignet ist, in Lesern, die eine Antenne für diese Valeurs haben, eine heitere Gelassenheit auszulösen - die aber nicht nur typisch für die Dysphorie nach den Delirien der Sixties war, sondern zu jener Zeit das Genre - soweit es sich nicht auf anspruchslose Abenteuervarianten vor Sternenhintergrund beschränkt - zutiefst prägte. Der melancholisch-aussichtlose Zug (bei Blick auf die Abgründe von Raum und Zeit und die Verlorenheit der vergänglichen Menschheit darin wohl unvermeidlich) ist dem Genre seit den Tagen H. G. Wells und dem Blick seines Zeitreisenden auf die verlöschende Sonne eingeschrieben: für Dozois und die Autoren jener Jahre war der Blick in die unmittelbare Zukunft der Anlaß dazu. Immerhin ergibt sich die grimmige Ironie, daß die Schlußsätze seiner wohl besten (und bekanntesten Erzählung) von 1971 einen passenden Abschluß für diese kleine Verbeugung abgeben.

Gestern, am Sonntag, den 27. Mai 2018, ist Gardner Dozois, zwei Monate vor seinem 70. Geburtstag, völlig überraschend an einer schweren Virusinfektion gestorben.

It’s a fine, beautiful morning.
It’s always a beautiful morning somewhere, even on the day you die.
You’re young—that doesn’t comfort you yet.
But you’ll learn.

(Gardner Dozois, "A Special Kind of Morning", zuerst erscheinen in New Dimensions 1, hg. von Robert Silverberg, 1971)



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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.