Das historische Gedächtnis - jedenfalls soweit es sich in öffentlichem Gedenken, in der medialen Erinnerung und, im weitesten Sinn, dem, was man das "öffentliche Gedächtnis" nennen könnte - jener historischen Tiefendimension von spezifischen Ereignissen, die zu dem geworden sind, was der französische Historiker Pierre Nora als Liens de la mémoire, als "Gedächtnisorte", charakterisiert hat - dieser Gedächtnisraum hat, was die "Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts" anbetrifft, in den letzten drei Jahren, also seit der hundertsten Wiederkehr ihres Auftakts, eine seltsame Spaltung durchlaufen. Während die publizistische Evokation der Ereignisse im Sommer 2014, zwischen den Daten des Attentats von Sarajewo am 28, Juni bis zu den "Guns of August" - die Depeschen, halbherzigen Vermittlungsversuche, die Unbekümmertheit, mit der ein ganzer Kontinent sich anschickte, sich in einen historisch nie dagewesenen Schindanger zu verwandeln - sich wie ein basso ostinato gedämpft durch das mediale Rauschen zogen, neben der Ukrainekrise und den ersten Nachrichten über die Tagesordnung der alltäglichen Bestialität des "Islamischen Staates" - nicht zuletzt in den zahlreichen Besprechungen von Christopher Clarks eingehender historischer Studie Die Schlafwandler, die sich der Gemengelage von Blindheiten und historischen Fehlanalogien widmete, die die damaligen politischen und militärischen Führungen in einem noch im Nachheinein lähmenden Automatismus in dieses Desaster hineinstolpern ließ - während also die, man möchte sagen "Prähistorie", jenes endgültige Ende des Alten Europas des "langen neunzehnten Jahrhunderts" Publizisten und TV-Moderatoren präsent war, hat sich über die nachfolgenden Jahre, die eigentliche Urkatastrophe, ein seltsamer Nebel gelegt. Eine Leerstelle des historischen Gedächtnisses ist entstanden, in dem der Verlauf des Kriegs, die daran beteiligten Parteien, die über endlose Monate festgefressenen Materialschlachten mit ihren Hunderttausenden von Toten, die Auswirkungen auf das Leben in den daran beteiligten Ländern, nicht mehr vorkommt.
Anders ist es nicht zu erklären, daß auch Ereignisse, die historisch, aber auch kulturell in jenen Jahren neben dem millionenfachen Sterben über die Weltbühne gingen, schlicht komplett aus dem Reigen der Jahrestage, der Zeitzeichen, der Jubiläen gefallen sind. Die Kasperlespiele des Dadaismus etwa, im Zürcher Cabaret Voltaire, von Hugo Ball und Tristan Tzara im Frühling und Sommer des Jahres 1916 improvisiert, denen sich ein ganzes nachfolgendes Jahrhundert von Aktionskunst, von "Verhöhnung des Spießers", dem épater les bourgeois, die Anfänge surrealistischer Kunst und nicht zuletzt die Manie, "Kunstbewegungen" nicht mehr durch Kunstwerke, sondern durch Manifeste und Gruppenfotos ins Werk zu setzen: sie scheinen vergessen. Die gleiche "Furie des Verschwindens" (©Hans Magnus Enzensberger) scheint ein weltgeschichtlich bestimmendes Ereignis wie die russische Februarrevolution, die das Ende der Zarenherrschaft bedeutete, aus dem allgemeinen Gedächtnis gebleicht zu haben. Die Eule der Minerva Meets The Men In Black.
Für die USA bedeutete der Kriegseintritt den endgültigen Bruch mit den Prinzipien der fast einhundert Jahre vorher formulierten Monroe-Doktrin: das Heraushalten aus den Konflikten der Alten Welt und der Verlagerung der eigenen Aktivitäten auf den eigenen Kontinent und auf den Pazifik oder Lateinamerika, soweit die unmittelbaren Interessen tangiert waren. Ein Echo findet sich in den Einstellungen, wie sie sich in der amerikanischen Literatur der zwanziger Jahre findet, den Romanen der "lost generation" von Hemingway und F. Scott Fitzgerald: ein Gefühl der Verlust einer letzten Unschuld, des Scheiterns des Versuchs, mit der Tragik der Geschichte brechen zu können, die der Alten Welt endlosen nationalistischen Zwist aufzwang (eine Einstellung, die letztlich auf die Hoffnungen der in die Neue Welt ausgewanderten Puritaner und Pilgerväter zurückgeht). Es bedeutete den Auftritt der USA als Ordnungsmacht auf der Weltbühne, als letzter Ordnungsgarant in diesem und dem darauffolgenden Weltkrieg, den die Alte Welt zwar entfachen, aber nicht aus eigener Kraft beenden konnte. Wenn man die Jahrzehnte des darauffolgenden Kalten Kriegs als dritten Durchgang in dieser Hinsicht nimmt, wird die resolute, aber in den USA stets ungeliebte Rolle des "Weltpolizisten" - und die auf pragmatischen Machbarkeitskalkülen fußende Zusamenarbeit mit den diktatorischen Regimen der Dritten Welt - vielleicht verständlicher. Vor allem wird verständlich, warum es Bürger der Vereinigten Staaten zornig werden lassen kann, wenn eben diese Europäer aus ihrem historischen Versagen das Recht ableiten, sich gegenüber der einzigen Macht, die an einer pragmatischen Ordnung und Einhegung tatkräftig mitwirkt, in welchem dürftigen Maß auch immer, aufs hohe moralische Roß zu setzen.
Der Einsatz im Ersten Weltkrieg - im Englischen bis zum Zweiten als "der Große Krieg", the Great War, geläufig - dauerte für die USA neunzehn Monate. Von den gut zwei Millionen Soldaten, die daran teilnahmen, fielen rund 50.000 auf den Schlachtfeldern (eine historische Fußnote: die gleiche Anzahl ließen ihr Leben, ein halbes Jahrhundert später, in den Dschungeln Vietnams), hinzu kamen Tausende, die in den Lazaretten und in den folgenden Jahren an den Spätfolgen starben. Vielleicht ist es bezeichnend, daß der einzige Text der amerikanischen Nachkriegsliteratur (wobei "Nachkrieg" hier den Zeitraum zwischen der Kapitulation des Deutschen Reiches am 9. November 1918 und dem "offiziellen Ende" des europäischen Einsatzes mit der Rückkehr der letzten Truppen am 1. Mai 1919 meint), der im Gedächtnis der Leser geblieben ist, F. Scott Fitzgeralds Erzählung "May Day" ist, die Geschichte eines Rückkehrers, dem das Sterben in den Schützengräben und die Oberflächlichkeit des Lebens in der Heimat, denen die eigenen Soldaten gleichgültig sind, jeden Lebensmut nimmt und den der aufgesetzte, hohle Hurrapatriotismus jener Mai-Konfettiparade in den Selbstmord treibt.
Der Transport dieser Soldaten erfolgte ausschließlich vom Hafen von Hoboken im Bundesstaat New Jersey aus. Der erste Transport von vierzehn Schiffen (darunter drei deutschen, die vom amerikanischen Militär am Morgen der Kriegserklärung beschlagnahmt worden waren - darunter befand sich die "Vaterland", umbenannt in "Leviathan", mit 58,000 Bruttoregistertonnen seinerzeit das größte Schiff der Welt), lief mit 11.991 Offizieren und Mannschaftsdienstgraden an Bord am 14. Juni nach Frankreich aus und traf dort zwölf Tage später ein. (Es war der erste Konvoi von insgesamt 938.) Diese Truppen waren vollkommen unzureichend ausgebildet und ausgerüstet; ihren ersten großen Kampfeinsatz hatten die AEF, die American Expeditionary Forces, unter General John J. Pershing erst im Oktober.
Das andere Folge des Kriegseintritts der USA waren, neben ihrer weltgeschichtlichen Feuertaufe, die unmittelbare Reaktion der deutschen Heeresleitung darauf - nämlich die Umsetzung eines seit dem vorigen Sommer geplanten und vorbereiteten - und man muß sagen: verzweifelten - Plans, um jede Chance zu nutzen, die östliche Kriegsfront gegen das russische Reich aufzuheben, um die dort eingesetzten Truppen an der Westfront einsetzen zu können. Drei Tage später, am Ostermontag, dem 9. April 1917, brachen gegen 14 Uhr 30 nachmittags vom Gleis 3 des Zürcher Hauptbahnhofs eine Gruppe von 30 russischen Revolutionären in einem von der deutschen Regierung gestellten Sonderwaggon zur Durchfahrt durch die Schweiz, das deutsche Reichsgebiet und von dort aus weiter ins neutrale Schweden auf, an ihrer Spitze Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt "Lenin", um das Machtvakuum nach dem Sturz der zaristischen Regierung am 6. März auszunutzen und das von ersten Generalstreiks vollends gelähmte Russland durch eine kommunistische Revolution als Gegenspieler auszuschalten. Von allen verheerenden, katastrophalen Einzelaktionen, die die Geschichte aufzuweisen hat, hat dieses Unternehmen, gemessen an den Folgen, die es nach sich zog, als das unzweifelhaft entsetzlichste und grausamste erwiesen, das die gesamte Weltgeschichte aufzuweisen hat.
Ulrich Elkmann
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