13. April 2017

Reine Endlichkeit, ohne Himmel

Die Tiere werden immer mehr der Menschenwürde angenähert und die Menschen immer mehr auf die Tierstufe herabgedrückt. Von Durs Grünbein wurde am 25. März 2017 ein Beitrag mit dem Titel „Unter Affen“ in DIE WELT veröffentlicht. Er ist einer der letzten, der den alten Blick in die Metaphysik mit dem jetzigen Lebensgefühl verbindet, mit einem ironisch-schmerzlichen Stirnrunzeln. Heute gilt der Streit um die Religionen als beendet – wenn man den fundamentalistischen Islam unter die Ideologien und nicht als religiösen Glauben rechnet. Nur der Kampf um die Ideologien dauert noch an. Der Gottesbegriff hat sich verflüchtigt. Selbst die Kirchgänger eines „lebens- und wirklichkeitsnahen“ Christentums benötigen ihn nicht. ­

Botho Strauß gibt den „entleerten Diskursen des Sozialen“, der Selbstzufriedenheit durch die „demokratische Diktatur“ mit ihren strikten Vorgaben zur „rhetorischen Korrektheit“ die Schuld dafür, dass uns nichts mehr zum „Staunen, Entdecken und Bewundern“ bringt (Reform der Intelligenz. Wir leben mit denkfaulem Kitsch über Minderheiten, Toleranz und Menschenrechte. Aber es gibt einen Ausweg aus dem Niedergang des Denkens, in: DIE ZEIT, 30. März 2017).

Durs Grünbein fühlt sich in der Großstadt wie in einem Zoo. „Menschenaffen: man erzählt uns, sie seien die Letzten gewesen, bevor der Stammbaum sich abzweigte in Richtung Homo erectus. Sie waren die letzten vor uns, den Anderen, die auf einem höheren Ast sitzen, mit dem Himmel auf Du und Du.“ Er besucht mit seiner Tochter oft die Zwergschimpansen, „die uns Nächstverwandten im ganzen Tierreich“. Ihnen zuzuschauen erzeugt Wehmut: „Eine Gruppe von Bonobos bei ihrem täglichen Treiben zu beobachten, ist wie die Aussicht in eine bessere Zukunft, eine Zeit der sozialen Befriedung, der größeren Anmut und des sexuellen Gelingens.“ Die meisten Zuschauer machen sich aus Neid lustig über die Schamlosigkeit dieser menschennahen Wesen. „Manchmal fühle ich stark mein eigenes Zootierdasein. Ich bin jemand, der sich Tag für Tag im Gehege der großen Städte bewegt. Achtung, gleich kommt die Fütterungszeit im nächstbesten Lokal.“

Heute können wir die Kränkung des Menschen durch Darwin, dass er vom Affen abstamme, genauer begründen und brauchen den Himmel und die Vorsehung Gottes nicht mehr zu erwähnen. Grünbein präzisiert: „Gängige Lehre: Individuelle Variationen innerhalb der Tierarten entstehen infolge von Ablesefehlern bei der Reproduktion der DNA. Da kann einiges wandern… Irgendwann ist die Art abgebogen, sie stieg vom Baum und begann im Flachland umherzustreunen, wie immer auf Nahrungssuche… Vor drei Millionen Jahren starb Lucy, beim Sturz von einem Baum. Vor zweitausend Jahren Jesus Christus, Erfinder der Nächstenliebe, am Kreuz.“

Mit der Zurückdrängung des Menschen in die Natur wird die Weltgeschichte mehr zu einer Naturgeschichte, und die biblische Heilsgeschichte, die jüdische Leistung der Entdeckung eines wahren Gottes jenseits der religiösen Götter, erscheint als politischer Trick. Die Ethik ist ebenso wie die Metaphysik bloße Natur geworden (Beispiel: „weil es unter Flamingos auch homosexuelle Paare gibt“; Magazin Zeit, 6. April 2017, S. 121). Die Gedanken über Gott werden auf Hirnströme reduziert.

Mit den linken Hegel-Deutern Feuerbach, Marx und Ernst Bloch erklärten die Aufgeklärten ihre Weltsicht: Die an den Himmel verschleuderten Schätze sollten vom Menschen zurückgeholt werden, sie sind Projektionen, die in Wirklichkeit Kräfte des Menschen und der Materie sind. Die divinisierte Welt und das Numinose sind damit entschwunden, Wissen und Wissenschaft haben die Religion abgelöst.

Freilich: Wenn die Alten fürchteten, der große Pan sei gestorben, und wenn für das 20. Jahrhundert Nietzsche verkündete, Gott sei tot, sollte man darüber nicht erschrecken, auch nicht als Christ: Es handelt sich um die Feststellung, dass der Gottesglaube unter den Zeitgenossen keine Rolle mehr spielt. Die kritische Auflösung des Pseudoglaubens ist voll im Recht, ebenso wie die Religionskritik der jüdischen Propheten und der griechischen Philosophen. Leider reagierten die Kirchen damals falsch und erkannten das läuternde Feuer der Aufklärung nicht als Chance einer für sie nötigen Selbstreinigung.

Auschwitz war das bisher letzte Siegel. Nicht Gott war ohnmächtig, sondern der Gottesglaube der christlichen Brüder blieb tatenlos. Gott hat für die monotheistisch Glaubenden doch das ganze Weltgeschehen dem freien Menschen übertragen.

Das sehen die meisten Zeitgenossen nicht so. Sie können zwischen fünf Alternativen eine wählen:
1. Es gibt nur die Materie; der Zufall ist ewig und fähig, Leben und Denken hervorzubringen.
2. Wir werden immer zu wenig wissen; wir müssen daher Agnostiker bleiben.
3. Das All und alles ist nur geträumt; die Welt existiert nicht wirklich.
4. Der Kosmos ist das Werk eines bösen Gottes oder eines bösen zweiten Gottes.
5. Die Welt ist das Geschenk Gottes an die Menschen, sie ist Liebesgabe und Aufgabe.

Viele ersetzen den christlichen Gott heute durch die Natur, und den Schöpfer durch den Zufall.
Unter den Alternativen hat die Nr. 3 „nur Traum“ große Probleme wegen der erkennbaren Kausalitätsketten, und Nr. 4 mit dem „bösen Gott“ hat heute wenige Vertreter, zumal die fernöstliche Varianten der Leidbewältigung bzw. Weltverachtung bevorzugt werden. Für viele war der Begriff Gott nur die Verkörperung des Gewissens, der Ethik. Andere meinen, kindliche Menschen bedürften eines Himmelvaters, damit sie sich beschützt fühlten.

Die Christen haben den jüdischen Schöpfer übernommen; schließlich war Jesus Jude und kein Christ. Sie haben jedoch in diesem Gottesbegriff die Beziehung zur Menschenwelt („Kinder Gottes“) und die Begründung der entsprechenden Kommunikationsfähigkeit („Heiliger Geist“) noch stärker als die Juden betont. Sie sagen, mit Jesus sei die Religionskritik an den Göttern ganz an das Ziel gelangt, also das Wort Gottes auf der Erde, und der Glaube an Gottes unsichtbare ganze Nähe ermögliche das (partikuläre) Reich Gottes („Braut Gottes“) und der Nächstenliebe.

Der chassidische Rabbi Simcha Bunam von Pžysha sagte zu seinen Schülern: Jeder hat zwei Rocktaschen; greift er in die linke, findet er das Genesis-Wort: „Nur Staub und Asche bist du“ (Gen 18,27), greift er in die rechte, liegt da das Talmud-Wort: „Um deinetwillen wurde die ganze Welt erschaffen“ (Sanhedrin 37).

Alle Vorstellungen und Bilder von Gott scheitern. Wäre er anwesend wie ein Staatsoberhaupt, wäre er nicht Gott. Er ist weniger darstellbar als ein Märchen-Osterhase. Die Karikaturen zeigen es. Die Kinderbibel müsste auf den weißbärtigen Alten verzichten, die Eltern auf den allsehenden Polizisten über den Wolken. Er gleicht aber auch nicht der Luft oder dem Licht. Wäre er nur eine mathematische Formel, würde er verweltlicht. Eine körperlose Person, maßlos interessiert an der Welt und der Menschheit, überall gegenwärtig, immer größer und anders als wir denken können. Dafür gibt es kein Bild, auch die Analogie „Vater“ sagt nicht allen etwas.

In der Geschichte der Juden mit ihm wurde er als eine Persönlichkeit erfahren, die an der Liebe zu seinem Volk leiden kann. Drastisch ausgedrückt: Das Größenverhältnis dieser Relation ist so, wie wenn ein Kaiser von China eine Maus zur Geliebten und Mitkaiserin macht; statt Perversion heißt in diesem Fall das Verhältnis aber Erwählungsgnade.

Stellen wir die Frage, wie Gott zur Größe Zeit steht, wird uns ebenso schwindlig. In welcher Zeit lebt er, an was denkt er? Milliarden Jahre ohne Menschen: Hat er vielleicht viele belebte Planeten, Universen? Weitere Christusse? Sinnvoll ist es, wir konzentrieren uns auf die Hauptfrage an die Christen: Warum nennt ihr ihn Gott im eminenten Sinn, aber verschwendet kaum Zeit und Kraft für seine Anliegen, habt keinen Raum für seine Anliegen neben euren eigenen: Beruf, Gelderwerb, Liebhabereien, Ehe, Liebe, Kindern, Sport, Sorge für Gesundheit und Unterhaltung?

Die Hauptsache ist auch für die restlichen europäischen Christen nicht mehr Gott, sondern das sonnige Wochenende.

Ludwig Weimer

© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.