Wie in den Medien berichtet, ist Claudia Roth vor einigen
Tagen Opfer eines polizeilichen Tränengaseinsatzes im Istanbuler Gezi-Park
beziehungsweise einem nahe gelegenen Hotel geworden. Das ist schlimm, und man
kann nur hoffen, dass ihr aus diesem Übergriff keine bleibenden
gesundheitlichen Folgen erwachsen.
Roths in einem bekannten Video verlautbarter
Affinität zur Türkei scheint diese schmerzhafte Erfahrung jedenfalls keinen
Abbruch getan zu haben. Wobei die Grünen-Politikerin im Zeit-Interview
definiert, was ihre Vorstellung von dem vorderasiatischen Land ausmacht:
„[…] Erdoğan und seine Regierung, diese staatliche Gewalt gestern gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung, das ist nicht 'die Türkei'.“ Die Türkei, das sind die Menschen im Gezi-Park, die Menschen, die in mehr als 80 Städten der Türkei auf die Straße gehen, die haben genau die gleichen Werte wie wir. [Anführungszeichen im Original]
Diese Sichtweise kann man durchaus als eigentümlich empfinden.
Selbst der eher nach Chronistenart fragende, selbst von den Ereignissen am
Bosporus betroffene Lenz Jacobsen argwöhnt bei Roth im besagten Gespräch
intentionale Naivität:
Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach, wenn sie [sic!] bei der türkischen Bevölkerung nur die sehen wollen, die Ihre Werte teilen und denen Sie sich nah fühlen? Erdoğan ist demokratisch gewählt, er hat sehr viele Unterstützer.
Darauf die Grünen-Vorsitzende:
Aber es ist doch eine abwegige Definition von Demokratie! Wie Erdoğan zu sagen, die Mehrheit hat mich gewählt, und deshalb darf es keine Demonstrationen geben. Es geht doch um grundsätzliche demokratische Werte, die die Regierung Erdoğan mit Füßen tritt.
Selbstverständlich ist ein Politiker nicht schon deshalb ein
Demokrat, weil er in einer allgemeinen und gleichen Abstimmung gewählt worden
ist. Man braucht zur Untermauerung dieser Binsenweisheit nicht die deutsche
Geschichte zu bemühen. Der sogenannte Arabische Frühling liefert dafür Belege
zuhauf.
Zweifel an der freiheitlich-rechtsstaatlichen Gesinnung des
amtierenden türkischen Ministerpräsidenten ließ und lässt auch ein von ihm
verwendetes Zitat aufkeimen, dem zufolge die Demokratie nur der Zug sei, auf den er
und seine Gefolgschaft aufstiegen, bis sie am Ziel seien. Oder, um es in den
Worten des taz-Kolumnisten Deniz Yücel zu formulieren:
Die These, dass Islamisten nur so lange für „Toleranz“ eintreten, solange sie sich nicht im Besitz der absoluten Macht wähnen, darf als bestätigt gelten.
Dessen ungeachtet hat Erdoğans Partei AKP bei den
Parlamentswahlen 2011 die Mehrheit der abgegebenen Stimmen bekommen. Vor diesem
Hintergrund erscheint die Wahrnehmung, dass nicht die AKP-Regierung, sondern
die Istanbuler Demonstranten die Türkei repräsentierten, als Ausdruck einer nicht
nachvollziehbaren Subjektivität: Die aus dem Arabischen Frühling zu ziehende
Lehre wäre doch gerade gewesen, dass die jungen, gebildeten, an der Moderne orientierten Initiatoren der Unruhen eben nicht die gleichen Ziele und Werte
verfolgen wie die Majorität des Volkes. Die Wahlen etwa in Tunesien und
Ägypten, die zu einer islamistischen Machtübernahme führten, haben dies nur
allzu deutlich gezeigt.
Freilich: Aufgrund ihrer kemalistischen Tradition ist die
Türkei nicht rundweg mit anderen Ländern des Nahen Ostens zu vergleichen. Doch
Erdoğans Urnen-Erfolge lassen erkennen, dass eine islamistische Politik auch in
der Türkei die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit findet.
Wie sehr sich Teile der deutschen Presse gegen einen
realistischen Blick auf die Verhältnisse im Orient stemmen, wird auch durch die
Berichterstattung zur jüngst durchgeführten Präsidentschaftswahl im Iran
belegt: Der siegreiche Geistliche Hassan Ruhani wird in manchen Publikationen
mit verstörender Hartnäckigkeit als Reformer bezeichnet. Im Vergleich zu dem
scheidenden Amtsinhaber Ahmadinedschad mag dieses Etikett auch durchaus füglich
sein. Was in der Euphorie allerdings zu oft vergessen wird: Ruhani ist kein
Antisystemkandidat; er wurde – anders als manch unerwünschter Bewerber – vom Wächterrat,
einem zwölfköpfigen Kontrollgremium, nicht von der Wahl ausgeschlossen. Zudem
hat das letzte Wort in entscheidenden Politikfeldern nicht der Präsident,
sondern der Oberste Rechtsgelehrte Ali Chamenei. Ruhanis Handlungsoptionen sind
also eng begrenzt.
Wahrscheinlich ist, dass sich der neue Präsident rhetorisch bei weitem
moderater geben wird als der alte. Schon eine derartige verbale Abrüstung wird
in den meinungsbildenden Milieus des Westens für Begeisterungsstürme sorgen.
Noricus
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