19. Juni 2013

Der Nahe Osten als Wille und Vorstellung


Wie in den Medien berichtet, ist Claudia Roth vor einigen Tagen Opfer eines polizeilichen Tränengaseinsatzes im Istanbuler Gezi-Park beziehungsweise einem nahe gelegenen Hotel geworden. Das ist schlimm, und man kann nur hoffen, dass ihr aus diesem Übergriff keine bleibenden gesundheitlichen Folgen erwachsen.

Roths in einem bekannten Video verlautbarter Affinität zur Türkei scheint diese schmerzhafte Erfahrung jedenfalls keinen Abbruch getan zu haben. Wobei die Grünen-Politikerin im Zeit-Interview definiert, was ihre Vorstellung von dem vorderasiatischen Land ausmacht:
„[…] Erdoğan und seine Regierung, diese staatliche Gewalt gestern gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung, das ist nicht 'die Türkei'.“ Die Türkei, das sind die Menschen im Gezi-Park, die Menschen, die in mehr als 80 Städten der Türkei auf die Straße gehen, die haben genau die gleichen Werte wie wir. [Anführungszeichen im Original]
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Diese Sichtweise kann man durchaus als eigentümlich empfinden. Selbst der eher nach Chronistenart fragende, selbst von den Ereignissen am Bosporus betroffene Lenz Jacobsen argwöhnt bei Roth im besagten Gespräch intentionale Naivität:

Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach, wenn sie [sic!] bei der türkischen Bevölkerung nur die sehen wollen, die Ihre Werte teilen und denen Sie sich nah fühlen? Erdoğan ist demokratisch gewählt, er hat sehr viele Unterstützer.

Darauf die Grünen-Vorsitzende:

Aber es ist doch eine abwegige Definition von Demokratie! Wie Erdoğan zu sagen, die Mehrheit hat mich gewählt, und deshalb darf es keine Demonstrationen geben. Es geht doch um grundsätzliche demokratische Werte, die die Regierung Erdoğan mit Füßen tritt.

Selbstverständlich ist ein Politiker nicht schon deshalb ein Demokrat, weil er in einer allgemeinen und gleichen Abstimmung gewählt worden ist. Man braucht zur Untermauerung dieser Binsenweisheit nicht die deutsche Geschichte zu bemühen. Der sogenannte Arabische Frühling liefert dafür Belege zuhauf.

Zweifel an der freiheitlich-rechtsstaatlichen Gesinnung des amtierenden türkischen Ministerpräsidenten ließ und lässt auch ein von ihm verwendetes Zitat aufkeimen, dem zufolge die Demokratie nur der Zug sei, auf den er und seine Gefolgschaft aufstiegen, bis sie am Ziel seien. Oder, um es in den Worten des taz-Kolumnisten Deniz Yücel zu formulieren:

Die These, dass Islamisten nur so lange für „Toleranz“ eintreten, solange sie sich nicht im Besitz der absoluten Macht wähnen, darf als bestätigt gelten.

Dessen ungeachtet hat Erdoğans Partei AKP bei den Parlamentswahlen 2011 die Mehrheit der abgegebenen Stimmen bekommen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Wahrnehmung, dass nicht die AKP-Regierung, sondern die Istanbuler Demonstranten die Türkei repräsentierten, als Ausdruck einer nicht nachvollziehbaren Subjektivität: Die aus dem Arabischen Frühling zu ziehende Lehre wäre doch gerade gewesen, dass die jungen, gebildeten, an der Moderne orientierten Initiatoren der Unruhen eben nicht die gleichen Ziele und Werte verfolgen wie die Majorität des Volkes. Die Wahlen etwa in Tunesien und Ägypten, die zu einer islamistischen Machtübernahme führten, haben dies nur allzu deutlich gezeigt.

Freilich: Aufgrund ihrer kemalistischen Tradition ist die Türkei nicht rundweg mit anderen Ländern des Nahen Ostens zu vergleichen. Doch Erdoğans Urnen-Erfolge lassen erkennen, dass eine islamistische Politik auch in der Türkei die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit findet.

Wie sehr sich Teile der deutschen Presse gegen einen realistischen Blick auf die Verhältnisse im Orient stemmen, wird auch durch die Berichterstattung zur jüngst durchgeführten Präsidentschaftswahl im Iran belegt: Der siegreiche Geistliche Hassan Ruhani wird in manchen Publikationen mit verstörender Hartnäckigkeit als Reformer bezeichnet. Im Vergleich zu dem scheidenden Amtsinhaber Ahmadinedschad mag dieses Etikett auch durchaus füglich sein. Was in der Euphorie allerdings zu oft vergessen wird: Ruhani ist kein Antisystemkandidat; er wurde – anders als manch unerwünschter Bewerber – vom Wächterrat, einem zwölfköpfigen Kontrollgremium, nicht von der Wahl ausgeschlossen. Zudem hat das letzte Wort in entscheidenden Politikfeldern nicht der Präsident, sondern der Oberste Rechtsgelehrte Ali Chamenei. Ruhanis Handlungsoptionen sind also eng begrenzt.
Wahrscheinlich ist, dass sich der neue Präsident rhetorisch bei weitem moderater geben wird als der alte. Schon eine derartige verbale Abrüstung wird in den meinungsbildenden Milieus des Westens für Begeisterungsstürme sorgen.

Noricus


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