8. Juli 2012

Zitate des Tages: "Feiern bis spät in die Nacht". Die Wahlen in Libyen und die wirklichen Machtverhältnisse. Nebst einer Erinnerung an den Irakkrieg

Bis spät in die Nacht feierten die Menschen in vielen Städten Libyens den Abschluss der ersten demokratischen Wahl des Landes. Auf dem Märtyrerplatz in Tripolis, wo vor genau einem Jahr über 1000 Libyer beim Kampf um die Freiheit des Landes von Gaddafis Schergen getötet wurden, freuten sich Tausende Fahnen schwenkend über den historischen Tag, erstmals frei gewählt zu haben.
Der ARD-Korrespondent Peter Steffe in seinem Bericht über die Wahlen in Libyen am gestrigen 7. Juli 2012.

I reported on the first elections, which were a flurry of dancing, tears, chanting, colorful traditional attire, halhooleh, camera flashes, children demanding inked fingers and overall joy and awe from all entering the polling station.

(Ich berichtete über die ersten Wahlen, die ein Durcheinander von Tanzen, Tränen, Singen, farbigen traditionellen Gewändern, Halhooleh, Kamerablitzen, Kindern, die Tinte auf ihre Finger wollten, und allgemeiner Freude und Bewegtheit aller war, welche die Wahllokale betraten).
Eine irakische Journalistin, die seit 1995 den Blog Iraq Chick betreibt, in dem sie seit 1995 aus dem Irak berichtet, über die dortigen Wahlen am 15. 12. 2005.

Kommentar: Die Stimmung im Irak war damals wie diejenige heute in Libyen. Aber nach diesen Wahlen Ende 2005 begannen die schwierigsten Jahre des Irak; geprägt durch Aufstände extremistischer Schiiten und Sunniten, durch den Terror der Kaida und von einstigen Schergen des Ba'ath-Regimes.

Vieles spricht dafür, daß Libyen jetzt ähnlich schwere Zeiten bevorstehen. Es gibt jedenfalls wenig Grund, diese jetzigen Wahlen so zu preisen, wie das beispielsweise der britische Außenminister William Hague getan hat - als einen "historischen Schritt hin zu Freiheit und Verantwortlichkeit", als einen "Meilenstein" und einen "historischen Augenblick".

In unseren Medien überwiegt eine optimistische Bericht­erstattung; aber die Lage, wie sie zum Beispiel Stratfor analysiert, sieht anders aus:

Der Nationale Übergangsrat, der gegenwärtig das Land verwaltet, hat faktisch keine Regierungsgewalt. Diese liegt weitgehend bei lokalen Gruppen, bewaffneten Banden und Stämmen, die über die einzelnen Regionen und Städte herrschen. Auch das jetzt gewählte Parlament wird nach der Analyse von Stratfor nur eine äußerst begrenzte Macht haben.

Viele der Mitglieder des Nationalen Übergangsrats halten sich gar nicht an dessen Sitz Tripolis auf, sondern ziehen es vor, in ihren heimischen Regionen und Städten zu bleiben. Dort sützten sie sich auf die jeweiligen lokalen Kräfte. Bewaffnete Gruppen werden formal in die libysche Armee eingegliedert, so daß sie Sold aus Tripolis erhalten. Befehle nehmen sie von dort aber nicht entgegen.

In den Monaten seit der Revolution ist das Mißtrauen dieser Gruppen gegen den Nationalen Übergangsrat aufgrund dessen undurchsichtiger Politik noch gewachsen. Seine Mitglieder agieren weitgehend im Geheimen. Seit Januar gibt es gegen ihn Demonstrationen; damals fand gegen den Vize-Vorsitzenden des Rats Abdel-Hafidh ein versuchter Anschlag statt, in dessen Gefolge er sein Amt verlor.

Die Region von Bengasi im Osten verwaltet sich faktisch selbst, unabhängig von der Zentrale in Tripoli. Aber auch die Hauptstadt selbst ist das Aktionsfeld von Milizen wie der al-Awfea-Brigade. Hinzu kommt, daß aufgrund der Schwäche des Staats in Ostlibyen Tuaregs und die Kaida operieren können, mit engen Verbindungen zu den Aufständischen in Nordmali (siehe Eine rosige wirtschaftliche Zukunft für Afrika? Nur auf den ersten Blick; ZR vom 28. 26. 2012).

Wenn Sie ZR regelmäßig lesen, dann konnten Sie diese Entwicklung seit dem Aufstand gegen Gaddafi und der Intervention des Westens verfolgen. Neben der aktuellen Berichterstattung gab es eine Reihe von Artikeln mit Hinter­grund­informationen:
  • Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 3: Libyen; ZR vom 21. 2. 2011

  • Die Stämme Libyens und ihre Rolle im jetzigen Machtkampf; ZR vom 26. 2. 2011

  • Wer sind die Kräfte, die jetzt in Libyen den Sieg für sich beanspruchen werden?; ZR vom 23. 8. 2011

  • "Libyen ist von Waffen überschwemmt". ; ZR vom 28. 8. 2011

  • Scharia, Chuzpe, Sarkozy. Nachrichtensplitter zum freien Libyen; ZR vom 24. 10. 2011

  • Auftrag im Irak beendet? Auftrag in Libyen beendet? In keiner Weise.; ZR vom 29. 10. 2011 ­
  • Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Bedeutung des Worts halhooleh habe ich nicht mit Sicherheit klären können. Aufgrund dieser Quelle vermute ich, daß es Arabisch ist und ungefähr "Imponiergehabe" bedeutet.