19. Juli 2012

Marginalie: Philipp Lippe, Antony Rougier, Marcel Pohl. Exzellent! Die Deutschen und die Leistung

Was haben die beiden Deutschen Phillip Lippe und Marcel Pohl gemeinsam? Was haben sie gemeinsam mit dem Franzosen Antony Rougier? Wenn Sie Stammleser von ZR sind und wenn Sie in den vergangenen Tagen aufmerksam die Presse verfolgt haben, dann könnten Sie es wissen.

Über Phillip Lippe nämlich wurde vor einigen Tagen berichtet. Eine Meldung über Marcel Pohl finden Sie seit gestern in verschiedenen Medien. Und Antony Rougier war das Thema, sozusagen der Held eines Artikels, der vor einem Jahr in ZR zu lesen war: Ein Spitzenabiturient. Über die Anforderungen des französischen Abiturs und die Auslese der Elite in Frankreich; ZR vom 6. 7. 2011.

Antony Rougiers Name ging vor einem Jahr durch die französische Presse, weil er das baccalauréat (abgekürzt bac), das französische Abitur, mit 20/20 bestanden hatte; mit zwanzig von zwanzig möglichen Punkten also. Das war der überregionalen Presse eine ausführliche Berichterstattung wert.

In Deutschland würde es vermutlich nicht einmal die Lokalpresse melden, wenn jemand das Abitur mit einem Durchschnitt von 1,0 macht. Aber in Frankreich ist das eben anders; aus zwei Gründen:

Zum einen ist dort ein solches glattes Spitzenabitur ungleich seltener als in Deutschland, weil die dafür erforderlichen Leistungen extrem sind. Im vergangenen Jahr schafften von genau 654.548 Kandidaten nur ein Dutzend das Ergebnis 20/20.

Das französische Notensystem erlaubt eine breite Differenzierung an der Spitze. Bereits ab einem Schnitt von 12 Punkten hat man ein Prädikatsexamen: 12,0 bis 13,9 Punkte cum laude; 14,0 bis 15,9 Punkte magna cum laude; mehr als 16,0 Punkte summa cum laude bzw. die französischen Äquivalente.

Zum zweiten ist das bac, das als Zentralabitur in ganz Frankreich zu denselben Terminen stattfindet, ein nationales Ereignis. Die Aufgaben werden anschließend veröffentlicht und diskutiert, in den Zeitungen erscheinen Listen mit den Namen der Besten.

Es ist, als würden die Franzosen die Bildung so ernst nehmen wie wir Deutsche den Sport oder Wettbewerbe wie "Deutschland sucht den Superstar". Ich habe das wiederholt geschildert und kommentiert; Links zu diesen Artikeln finden Sie in dem Bericht über Antony Rougier.



In Deutschland kennen wir eine solche Begeisterung für außergewöhnliche Schul- und Studienleistungen nicht; bisher jedenfalls kaum.

Bis in die neunziger Jahre hinein galt es bei uns als nachgerade anstößig, überhaupt solche herausragenden Leistungen hervorzuheben. Man wollte doch nicht das Strebertum fördern! Gar elitär sein! Allenfalls in Wettbewerben mit einem Touch von Show, wie "Jugend forscht", durften einmal Hochbegabte in der Öffentlichkeit zeigen, was sie können.

Inzwischen ist das Wort "Exzellenz", das man zuvor nur als Anrede von beispielsweise Bischöfen und Botschaftern gekannt hatte, in aller Munde. Natürlich ein Anglizismus; excellence heißt Spitzenleistung oder Leistungsspitze. Aber "Leistungsinitiative" hätte popelig geklungen gegenüber "Exzellenzinitiative"; und "Exzellenz-Universität" ist pompöser als "Spitzenuniversität". Angemessenes Aufmotzen in einem Deutschland, in dem manch ein Karnickel­züchter­verein inzwischen nicht mehr einen Vorsitzenden hat, sondern einen "Präsidenten".

Listen der Besten im Abitur, der Besten im Studium werden bei uns allerdings immer noch nicht regelmäßig publiziert. Immerhin aber wird inzwischen nicht mehr jede Hochbegabung mit einem Achselzucken quittiert, wenn nicht in die Nähe autistischer Verschrobenheit gerückt. Das zeigen die beiden Meldungen zu Philipp Lippe und Marcel Pohl.

Phillip Lippe ist ein dreizehnjähriger Mathematikstudent. Nun ja, nicht ganz - er ist natürlich noch Schüler, in der neunten Klasse des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums in Gelsenkirchen. Aber einmal in der Woche fuhr er im jetzt zu Ende gegangenen Sommersemester 2012 nach Bochum, um an der Ruhr-Universität die Vorlesung "Einführung in die Programmierung" zu besuchen, samt zugehörigen Übungen. Das ging vom Morgen bis in den Nachmittag, immer Mittwochs. Sein Gymnasium gab ihm dafür frei.

Am 11. Juli fand die Abschlußklausur statt. Phillip Lippe fand sie "ganz schön" und "leichter, als ich dachte".



Die Berichte über Marcel Pohl finden Sie in der gestrigen und heutigen Presse; beispielsweise in der FAZ. Nach dem Abitur absolvierte er eine Banklehre und studierte zugleich Finanz- und Rechnungswesen an der Dortmunder Privatuniversität "Hochschule für Ökonomie und Management" (FOM). Das tat er - in Zusammenarbeit mit zwei Kommilitonen - so effizient, daß er die vorgesehene Studienzeit weit unterbot.

Eigentlich hatte er - so sah es der Vertrag mit der Uni vor - als Teilzeitstudent zunächst in sieben Semestern den Bachelor und dann in vier weiteren Semestern den Master machen sollen. Bis zum Bachelor brauchte Pohl aber nur zwei und bis zum Master weitere zwei Semester.

Die Hochschule wollte von ihm nun aber die volle Studiengebühr für die vertraglich vereinbarte Studiendauer haben. Das Amtsgericht Arnsberg gab ihr Recht. Pohl wird voraussichtlich in Berufung gehen.

Wie immer das Verfahren ausgeht - der intelligente und zielstrebige junge Mann ist in jedem Fall der Gewinner. Er ist jetzt bundesweit bekannt und braucht sich um seine berufliche Zukunft wohl keine Sorgen zu machen. Es gibt auch schon Unternehmer, die sich bei ihm gemeldet haben mit dem Anerbieten, seine Schulden bei der Hochschule zu übernehmen, sollte er den Rechtsstreit verlieren.



Kommentare zu diesem Fall habe ich noch nicht gelesen.

Vor ein paar Jahren hätte man sich über die "Turbo-Studenten" vermutlich empört gezeigt. Die drei teilten sich den Besuch von Vorlesungen, waren an verschiedenen Standorten der FOM unterwegs und erwarben so im Sparmodus die erforderlichen Scheine und Kenntnisse. "Studenten tricksen ihre Uni aus" wäre vielleicht die Schlagzeile gewesen, wäre der Fall vor zehn oder zwanzig Jahren passiert.

Jetzt ist die Stimmung anders. Die "Bild"-Zeitung, die bekanntlich ein gutes Gespür für den Zeitgeist hat, stellte sich jedenfalls auf die Seite Pohls: "Skandal um einen Turbo-Studenten: Marcel Pohl (22) war clever und richtig fleißig – jetzt ist er der Dumme. (...) Zahlen, weil man zu schnell studiert – ja wo sind wir denn?".

Wir sind, so scheint es, in einem Deutschland, das sich langsam aus der Leistungsfeindlichkeit befreit, die sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgebreitet hatte; getragen vom Geist der Achtundsechziger und der "Null-Bock-Generation". ­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.