21. Juli 2012

Warum machen wir Liberalen so wenig aus unserem Status als Minderheit? Über eine Idee des Philosophen Daniel Dennett. Über Minderheiten überhaupt

Gehören Sie einer Minderheit an? Natürlich. Sollten Sie beispielsweise in Cottbus wohnen, dann gehören sie sogar einer winzigen Minderheit an, denn nur ungefähr 0,125 Prozent der Deutschen sind Cottbuser. Allerdings ist Ihre Minderheit dann immer noch größer als die der Dänen in Schleswig. Das sind, hoch gerechnet, vielleicht 50.000 Menschen; also halb so viele, wie es Cottbuser gibt.

Minderheiten sind allgegenwärtig. Deutschland besteht nachgerade aus Minderheiten - der Bayern-Fans, der Vegetarier, der Zahnärzte, der Zeugen Jehovas, der VW-Arbeiter, der Homosexuellen, der Rentner, der Moslems, der Golfspieler, der Sinti, der Katholiken, der Roma, der FKK-Anhänger, der Schrebergärtner, der Bodybuilder; und so weiter, und so fort.

Sie finden diese Liste arg bunt; ziemlich zusammengewürfelt? Ja, das ist sie. Denn es ist eben ein gewissermaßen unordentliches Bild, das dieses Deutschland der Minderheiten bietet. Ein Bild, wie es jede freie Gesellschaft zeigt, jede pluralistische Gesellschaft.

"Plural" - das ist die Mehrzahl oder die Vielzahl. Die pluralistische Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl von Minderheiten. Nur totalitäre Regimes schmieden das Volk zu einer Einheit von Gleichgesinnten, gleich Fühlenden und gleich Glaubenden (und meist auch gleich Armen) zusammen.



Freilich werden nicht alle diese Minderheiten auch so genannt. Vielleicht sind Sie in meiner kleinen Liste darüber gestolpert, daß ich "wirkliche" Minderheiten - Homosexuelle, Sinti und Roma zum Beispiel - mit Gruppen in einen Topf geworfen habe, zu denen zwar nicht die Mehrheit der Deutschen gehört, die aber doch auch nicht Minderheiten genannt werden - die Fans von Bayern München zum Beispiel oder die Zahnärzte.

Das stimmt. Aber dieses Stolpern habe ich natürlich beabsichtigt; um Sie aufmerksam zu machen auf die Frage: Was macht eigentlich den Unterschied aus zwischen Minderheit und Nicht-Minderheit? Warum sind, beispielsweise, die Homosexuellen nach landläufigem Verständnis eine Minderheit, die Schrebergärtner aber nicht?

Wenn Sie anfangen, darüber nachzudenken, dann werden Sie merken, daß das eine knifflige Sache ist.

Homosexuelle gelten als Minderheit. Aber wie steht es mit anderen Varianten der Sexualität; mit der heutzutage vermutlich relativ starken Minderheit der Fetischisten und Liebhaber verwandter Spielarten der Sexualität, beispielsweise?

Die Wikipedia verzeichnet unter den Minderheiten die "Minderheit alter Menschen". Warum nicht auch die Minderheit der Zwanzig- bis Vierzigjährigen?

Moslems werden in Deutschland gern als eine Minderheit betrachtet; warum aber nicht auch die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Scientologen? Selbst Protestanten (nach dem Stand von 2011 29,2 Prozent der Deutschen) und Katholiken (29,9 Prozent) könnte man als Minderheiten gelten lassen; beide werden numerisch übertroffen von den Konfessionslosen, die mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausmachen.



Offenbar ist es kein quantitatives Kriterium, das bestimmt, wer "Minderheit" ist. Man kann auch nicht sagen, daß es bestimmte demographische Kriterien sind, welche die Minderheit definieren. Die Alten gelten als Minderheit, die Jungen nicht. Bestimmte sexuelle Präferenzen qualifizieren zum Status der Minderheit; andere tun es nicht. Angehörige der einen Religion werden als Minderheit betrachtet, die einer anderen, nicht kopfstärkeren nicht.

Noch am Zuverlässigsten ist das Kriterium der Nationalität. Leben Angehörige einer Nation auf dem Gebiet einer anderen Nation, dann wird man sie im Allgemeinen eine Minderheit nennen.

Aber auch da gibt es Abgrenzungsprobleme. Die Sorben, neben den Dänen in Deutschland der sozusagen klassische Fall einer Minderheit, wird man schwerlich als eine Nation bezeichnen können; eher eine durch Sprache und Kultur zusammengehaltene Volksgruppe. Das gilt nun allerdings auch für die Deutschsprachigen im Elsaß und in Südtirol. Sind auch sie Minderheiten? Wie steht es mit den Friesen mit ihrer eigenen Sprache und Kultur? Wie in Frankreich mit den Bretonen? Sind nicht auch die Franken in Bayern eine Minderheit, und die Sauerländer in Nordrhein-Westfalen?

Offenbar ist "Minderheit" gar kein soziologischer oder demographischer, sondern ein politischer Begriff. Wir sprechen von Minderheiten dann, wenn wir - im weitesten Sinn - meinen, daß etwas für die Betreffenden getan werden müsse. Oft schwingt bei "Minderheit" etwas wie "unterdrückt", "benachteiligt", "diskriminiert" mit.

Doch ist auch dieses Kriterium nicht ohne Schwierigkeiten. Die 50.000 - vielleicht sind es auch nur 10.000 - Dänen in Schleswig sind gewiß nicht unterdrückt. Im Gegenteil genießt ihre Partei, der SSW, das Privileg, von der 5-Prozent-Klausel befreit zu sein. Seit fünf Wochen ist sie Regierungspartei in Schleswig-Holstein. Auch die Wenden und Sorben wird man in Deutschland nicht als unterdrückt, als diskriminiert oder sonstwie benachteiligt bezeichnen können.

Je mehr man ihn zu fassen versucht, umso mehr verschwimmt der Begriff der Minderheit. Er ist nicht soziologisch und demographisch, er ist offenbar nicht einmal politisch eindeutig zu definieren. Eine Minderheit, so scheint es, gibt es dann und genau dann, wenn man von einer Gruppe als einer Minderheit spricht. Vor allem, wenn sie selbst das tut.

In früheren Zeiten war es meist von Nachteil, zu einer Minderheit zu gehören. Als nach dem Ersten Weltkrieg aus den Konkursmassen des Habsburger Reichs und des Osmanischen Reichs Nationalstaaten entstanden, gab es den Begriff des "Minderheitenproblems". Mitglied einer Minderheit zu sein, das bedeutete, gefährdet zu sein; mindestens mit Nachteilen leben zu müssen.

In unseren heutigen pluralistischen Gesellschaften ist das nicht mehr so. Minderheiten genießen oft Vorteile; wie in den USA durch die affirmative action. Minderheiten werden nicht mehr mit herabsetzenden Bezeichnungen belegt, sondern sie definieren sich gern selbst, geben sich einen neuen Namen.

Sie veranlassen uns, für sie diese Namen zu verwenden, die sie sich selbst ausgesucht haben - in den USA also nicht von negroes zu sprechen, sondern (in dieser historischen Reihenfolge) von colored people, dann von black people und inzwischen von Afro-Americans. In Deutschland haben sich die einst diskriminierenden Bezeichnungen "Schwule" und "Lesben" - mit neuer, positiver Konnotation ausgestattet - gegen das früher übliche "Homosexuelle" durchgesetzt; umgekehrt wurde es tabuisiert, Zigeuner (die in anderen Sprachen weiterhin so heißen - tziganes, gypsies, gitanos usw.), noch so zu nennen. Korrekt sind sie bekanntlich jetzt "Sinti und Roma".

Als man in den USA bei black angekommen war, kam der Begriff black pride auf, schwarzer Stolz. "Black is beautiful" war einmal ein so gängiger Slogan, daß er sogar nach Deutschland einwanderte und in den Siebziger Jahren von der Jungen Union genutzt wurde; neuerdings hat sie das wiederbelebt.



Es ist von Vorteil, zu einer anerkannten Minderheit zu gehören. Das hat den amerikanischen Philosophen Daniel Dennett vor einigen Jahren bewogen, in der New York Times ein neues coming out zu propagieren: Das der Hellen, der bright.

Das Wort möchte er nicht im Sinn von "schlau" mißverstanden wissen. Eher denkt er an die Helligkeit der Aufklärung, englisch enlightenment, also Erhellung. Wir Hellen, schreibt Dennett, sind Naturalisten - Menschen, die nicht an das Übernatürliche glauben; nicht an Geister, Elfen oder den Osterhasen - und nicht an Gott. Die Hellen haben zu vielen Dingen unterschiedliche Meinungen; aber was sie eint, das ist, daß sie nicht an Schwarze Magie glauben - oder an ein Leben nach dem Tod.

Wenn man Dennetts Artikel verstehen will, dann muß man sich klarmachen, daß Atheisten und Agnostiker in den USA in einer ganz anderen Situation sind als in Deutschland. Hier bei uns gibt es mehr Konfessionslose als Katholiken oder Protestanten; und niemand würde sie scheel ansehen. In den USA ist es nachgerade anstößig, sich nicht zum Glauben an Gott zu bekennen (siehe Deutsche und Amerikaner. Die Gretchenfrage; ZR vom 20. 7. 2012).

Also empfiehlt Dennett (auch wenn er das nicht explizit sagt) eine Strategie, wie sie Homosexuelle, wie sie die schwarzen Anerikaner erfolgreich verfolgen: Erstens, sich einen selbstgewählten Namen geben - gay, Afro-American oder jetzt eben bright. Zweitens, sich öffentlich und mit Verve zu seiner Identität zu bekennen.

Er parodiert dabei ein wenig die Rhetorik von Minderheiten: Sie sind, lieber Leser, von bright umgeben, von denen Sie gar nichts wissen, schreibt er. Wir sind Ärzte, Polizisten, Lehrer, Soldaten. Sogar unter den Geistlichen gibt es manchen heimlichen bright.

Und wir, die Hellen, sind das moralische Rückgrat der Nation: Weil wir keinem Gott vertrauen, wissen wir, daß wir selbst die Verantwortung für unser Land tragen. Aber wir werden dafür nicht anerkannt, sondern im Gegenteil in der amerikanischen Gesellschaft ins Abseits gestellt.

Also fordert Dennett, daß die Hellen sich zu erkennen geben; daß sie in den USA zu einer politischen Macht werden, die keine Partei und kein Politiker ignorieren kann.

Und er hat auch schon einen Slogan für diese Minderheit: "Bright rights"!



Ohne Belang für uns Deutsche, die wir gewiß Agnostiker und Atheisten nicht benachteiligen? Auf diesem Gebiet vielleicht schon. Ich gehöre zu dieser Gruppe, und ich fühle mich nicht deswegen benachteiligt oder scheel angesehen (siehe Warum ich Agnostiker bin, aber kein Atheist; ZR vom 16. 7. 2007).

Neuerdings aber beobachte ich eine dem, was Dennett schildert, vergleichbare Reaktion, wenn ich mich als Liberaler zu erkennen gebe. Ein alter Freund, den ich lange nicht gesehen und aus den Augen verloren hatte, zeigte sich bei einem Wiedersehen regelrecht entsetzt, als ich ihm offenbarte, daß ich ein Liberaler bin. So mag es jemandem in den USA widerfahren, der sich als Atheist outet.

Vielleicht sollten wir Liberalen von Dennett lernen und aus der Not eine Tugend machen? Den Status einer Minderheit einfordern und von den damit einhergehenden Vorteilen profitieren?

So weit, daß wir eine affirmative action verlangen, die uns beispielsweise beim Zugang zur Universität oder bei der Jobsuche hilft, wollen wir ja gar nicht gehen.

Aber ein neuer, griffiger Name müßte her, wie eben gay oder bright.

Sodann müßten wir uns parteiübergreifend organisieren. Und jedesmal ein öffentliches Tamtam veranstalten, wenn jemand schlecht über uns Liberale spricht oder schreibt, wenn wir unfair behandelt, wenn die liberale Lehre falsch, ja verzerrt dargestellt wird. Wir sollten sagen, daß wir mit unserem Anderssein eine Bereicherung für die Gesellschaft sind. Wir sollten einfordern, daß man uns respektiert.

Das können wir doch verlangen, als die Minderheit, die wir sind.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Daniel Dennett auf der TED-Konferenz 2009. Vom Autor Erik Charlton unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Mit Dank an Loki.