11. Juli 2012

Kurioses, kurz kommentiert: Sarrazinesk. Auf den Spuren eines Wortes

Gestern habe ich ein neues Wort gelernt. Es heißt "sarrazinesk". Eine Wortschöpfung, offenkundig "kafkaesk" nachgebildet; dieses seinerseits ein Abkömmling von Wörtern wie "grotesk".

Ich las das Wort in der "Financial Times Deutschland" (FTD) als Reaktion auf den Aufruf der (anfangs) 160 Ökonomen:
"Diese Kollegen machen es sich zu einfach", sagte Gustav Horn, Chef des IMK. "Ich hätte großen Respekt, wenn sie ihre Unterschrift unter den Krämer/Sinn-Aufruf nun für falsch hielten." Besonders die fehlende Distanzierung von der hetzerischen Sprache des sarrazinesken Sinn-Aufrufs sei ärgerlich.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung wurde, so die Wikipedia, "2005 vom DGB in der Hans-Böckler-Stiftung gegründet, um dem langjährigen Konjunkturforscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Gustav A. Horn, eine neue Wirkungsstätte zu verschaffen und die Wirtschaftspolitik der Gewerkschaften zu unterstützen".

Dieser Gustav A. Horn also, der es trotz mancher Bemühungen nicht zum Ruf an eine Universität brachte, spricht von der "hetzerischen Sprache des sarrazinesken Sinn-Aufrufs"; eines Textes, den sich mehr als 200 Universitätsprofessoren zu eigen gemacht haben. Lesen Sie den Offenen Brief hier und überzeugen Sie sich, wie, nun ja, grotesk diese Kennzeichnung ist.

Die FTD zitiert übrigens einen Genfer Währungsexperten namens Wyplosz: "Niemand ohne höhere ökonomische Ausbildung versteht diesen Text". Ob man also eine höhere ökonomische Ausbildung braucht, um einen hetzerische Sprache zu verstehen? Einen sarrazinesken Aufruf also?



Nachdem ich dieses neue Wort kennengelernt hatte, habe ich mich gefragt, was es denn genau bedeutet.

Die Wörterbücher, soweit ich sie konsultiert habe, kennen es noch nicht. Die Suche im Internet aber führt beispielsweise zu einem Artikel im "Tagesspiegel" vom 30. 11. 2011.

Es ging um einen japanischen Film von 1935 über eine kinderreiche Familie, dessen Titel "Geburten-Unkontrolle" von der Vortragsreise einer Amerikanerin in Japan inspiriert wurde, die "damals gerade Japan bereiste und – ebenso frühfeministisch wie prä-sarrazinesk – die Geburtenkontrolle für arme Familien propagierte". So schildert es die "Tagesspiegel"-Autorin Silvia Hallensleben.

Hier scheint "sarrazinesk" sich auf Sarrazins pessimistische Prognosen zu beziehen, was die deutsche demographische Entwicklung angeht. Offenbar ist das aber nur eine der vielen Bedeutungen des Worts.

Im Januar 2011 zitierte die Redaktion der Linksaußen-Internetzeitung "Jungle World" in einem Editorial eine gewisse Christina Dongowski: "Innerhalb eines 'Zitats' mehrere Seiten überspringen und das mit '...' anzeigen, ist doch sehr sarrazinesk". Anscheinend soll das Wort sich hier auf den Umgang mit Quellen beziehen. Sarrazin allerdings pflegt penibel genau zu zitieren.

Aber auf solche Lappalien kommt es offenbar nicht an. Wenn jemand "sarrazinesk" sagt, dann will er damit nicht einen belegbaren Vorwurf gegen Sarrazin erheben; sondern er will - diesen Eindruck bekam ich beim weiteren Suchen - einfach nur sagen, daß er etwas ganz, ganz schlimm findet.

Da schreibt in einem Diskussionsforum beispielsweise ein "Ebertus" vom "sarrazinesk verrohenden Mittelschichtler und Bildungsbürger".

Da ist die Vorstellung des Buchs eines liberalen Autors "sarrazinesk"; offenbar, weil dieser, Günter Ederer, "den Sozialstaat für verwerflich hält".

Das ist natürlich ebenso schlimm, wie sinnentstellend zu zitieren oder als Mittelschichtler zu verrohen. Oder, laut einem gewissen Ambros Waibel, wie der Umstand, daß man einem "Phänomen sarrazinesk begegnen, also männlich-genetische oder kulturelle (Migranten, Muslime, Niederbayern) Gründe in Feld führen möchte".

Das "Phänomen" war in diesem Fall der Mord eines Hassan A. an seiner Ehefrau, deren Kopf er anschließend abtrennte und in "wie eine Trophäe" hochhielt. Für Ambros Waibel verlangt so etwas nun aber keine "sarrazineske" Erklärung, sondern die Einsicht: "Ehen allerdings sind immer Zwangsgemeinschaften, die insbesondere unter ökonomischem Druck regelmäßig zu Tötungsgemeinschaften werden".

Und so weiter. Ein ganzes Universum von Sarrazineskem tut sich dem Suchenden auf. Bis hin zur Modernisierung einer Heizung:
Wenn ich jetzt bauen oder meine Heizung modernisieren würde: Dann würde ich mir eine moderne Gas- oder Öl-Brennwertheizung anschaffen und zusehen das ich mein Haus gut isoliere. Und ja, es mag sarrazinesk klingen, aber man muss im Winter bei -15° Aussentemperatur nicht in T-Shirt und Unterhosen vorm Rechner sitzen und bei 30° Raumtemperatur schwitzen.
So zu lesen in "Öfen und Co".



Denjenigen in den Redaktionen von Duden und Co, die, sobald "sarrazinesk" seinen Weg in die Wörterbücher findet, dessen Bedeutung definieren müssen, kann man nur viel Vergnügen wünschen.

Vielleicht sollten sie zwischen spezifischen Bedeutungen und der Generalbedeutung unterscheiden.

Einiges bezieht sich auf Spezifisches - Sarrazins Befassung mit Demographie, seine Meinung zum Thema "Heizen". Überwiegend aber hat, jedenfalls bei linken Autoren, "sarrazinesk" wohl eine ähnlich umfassende Bedeutung wie eines der ersten Wörter, die zu Verstehen man seinem Hund beibringt: "Pfui!". ­
Zettel



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