14. Juli 2012

Marginalie: Was ist eigentlich aus den Wahlen in Libyen geworden? Sie werden vermutlich überrascht sein (Aktualisierte Fassung)

Es ist jetzt fast eine Woche her, daß am 7. Juli in Libyen gewählt wurde.

Und? Was ist denn herausgekommen? Man erfährt davon aus unseren Medien bemerkenswert wenig. Wer für Informationen nicht zu den Quellen geht, der ist vermutlich auf dem Stand dessen, was am vergangenen Montag gemeldet wurde:
Erste offizielle Ergebnisse der libyschen Parlamentswahl deuten auf einen großen Vorsprung für die liberale Allianz der Nationalen Kräfte hin. (...)

Der UN-Missionschef in Libyen, Ian Martin, lobte den Ablauf der Wahl in dem nordafrikanischen Land als transparent und gut organisiert. (...)

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte Libyen Unterstützung bei weiteren Reformen zu. Es gelte jetzt, den demokratischen Wandel tatkräftig voranzutreiben, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin.
Ja wunderbar, könnte man denken, wenn man das liest. Nur sieht die Wirklichkeit anders aus.

Zunächst einmal muß man wissen, daß von den 200 zu vergebenden Mandaten (Sitzen in einer Versammlung, die eine Verfassung ausarbeiten und zugleich als Übergangs­parlament fungieren soll) nur 80 an Parteien vergeben wurden; 120 gingen an Einzelkandidaten. Deren politische Haltung ist größtenteils noch gar nicht klar; so daß niemand wissen kann, wie am Ende die tatsächlichen Mehrheits­verhältnisse aussehen werden.

Zweitens: An der Wahl haben sehr, wirklich sehr viele Parteien teilgenommen. Die Angaben schwanken; offenbar, weil nicht klar definiert ist, was eine "Partei" ist. Stratfor gibt 374 Parteien an, die an der Wahl teilnahmen; Arab News nennt 130 Parteien.

Ein Teil dieser zahlreichen Parteien ist Bündnisse eingegangen. Die drei stärksten Bündnisse sind, nach einem ähnlichen Muster wie in Ägypten:
  • Die Moslembrüder (Justice & Construction party (J&C), die "Partei für Gerechtigkeit und Aufbau"),

  • Eine vergleichsweise säkulare, aber ebenfalls am Islam orientierte Partei, die National Forces Alliance (NFA). Der Führer dieser "Allianz der Nationalen Kräfte" ist der Vorsitzende des Übergangsrats, Mohammed Dschibril. Er durfte selbst aber nicht kandidieren, da es den Mitgliedern des Übergangsrats nicht gestattet ist, nach dessen Abtreten Mandate oder politische Ämter zu übernehmen.

  • Die ultra-islamistischen Salafisten (Al Watan) des Rebellenführers Abdelhakim Belhadsch.
  • Es gibt aber zahlreiche weitere Parteien, die keinem dieser Bündnisse angehören.



    Diesen Hintergrund muß man verstehen, um zu erkennen, daß die zitierte Meldung vom Montag gleich doppelt irreführend ist:
  • Erstens ist die NFA Dschibrils alles andere als "liberal". Sie tritt beispielsweise für die Scharia als Quelle der Gesetzgebung ein. Die Moslembrüder werfen ihr allerdings vor, daß sie die Scharia nicht als einzige Quelle der Gesetzgebung und den Islam als Richtschnur der Regierungsarbeit anerkenne.

  • Zweitens war es nachgerade verwegen, am Montag aus "ersten offiziellen Ergebnissen" auf einen Sieg Dschibrils zu schließen. Bis heute findet man auf der offiziellen WebSite der Nationalen Wahlkommission lediglich den Hinweis, daß man fleißig am Auszählen sei. Laut dem gestrigen Libya Herald wurden bisher 52 der 80 für Parteien vorgesehenen Sitze vergeben. Davon entfielen 28 auf Dschibrils NFA, 10 auf die Moslembrüder und 14 auf insgesamt 12 weitere Parteien.
  • Dies sind überwiegend Ergebnisse aus den Städten an der Küste, in denen die NFA vergleichsweise stark ist. Wenn die Resultate aus dem ländlichen Süden Libyens hinzukommen, dürfte der Anteil der NFA eher noch sinken.

    Und dies ist ein Anteil an lediglich den 80 Sitzen für Parteien. Wie erwähnt, ist bisher offen, wem sich die 120 als Einzelkandidaten Gewählten zugesellen werden.



    Der Führer der Partei der Moslembrüder J&C, Mohammed Sawan, war gestern optimistisch: Er sei zuversichtlich, zusammen mit anderen Parteien und mit Unterstützung von Einzelkandidaten eine Regierung bilden zu können. Ohne Dschibrils Partei NFA. Dieser selbst sei eher "zum Universitätsprofessor geeignet".

    Dschibril seinerseits hat angekündigt, daß die NFA eine "Regierung der nationalen Einheit" bilden wolle; es ist aber fraglich, ob sie bei den überwiegend noch weniger säkularen anderen Kräften hierfür eine Mehrheit finden wird.

    Von wem Libyen künftig regiert werden wird, ist sechs Tage nach der Wahl also noch völlig offen.

    Genauer gesagt: Wer demnächst die Zentralregierung bilden wird. Denn regieren wird diese jetzt zu bestimmende Regierung das Land nur in einem sehr eingeschränkten Sinn. Überwiegend werden das die Führer der Regionen, von Stämmen, von Milizen und islamistischen Brigaden tun (siehe "Feiern bis spät in die Nacht". Die Wahlen in Libyen und die wirklichen Machtverhältnisse; ZR vom 8. 7. 2012).




    Aktualisierung am 14. 7.: Inzwischen hat die Wahl­kommission die wahrscheinliche Sitzverteilung bekannt­gegeben. Wahrscheinlich, weil in fast allen Wahlbezirken das Endergebnis noch nicht ermittelt ist. Die Verteilung basiert aber auf Auszählungen von in der Regel über 70 Prozent, teils über 90 Prozent der Stimmen.

    Danach entfallen auf die NFA 40 der 200 Mandate, auf die J&C der Moslembrüder 18 und die salafistische Al Watan 2 Sitze. 20 Weitere Sitze gehen an andere Parteien, von denen die meisten nur ein einziges Mandat erhalten. Insgesamt verteilen sich die 80 den Parteien vorbehaltenen Sitze auf 20 Allianzen oder Parteien; dabei bestehen die Allianzen ihrerseits aus zahlreichen Parteien. Die NFA umfaßt zum Beispiel 58 Parteien.

    Auch für die 120 Sitze, die Einzelkandidaten vorbehalten sind, ist die Auszählung weitgehend abgeschlossen. Sie werden in der Ergebnisliste des Libya Herald nur mit Namen aufgeführt, ohne Angabe einer politischen Tendenz oder Richtung.

    Es ist damit weiterhin ganz offen, wer künftig in Tripolis regieren wird. In jedem Fall kann man bei Dutzenden von Parteien in diesem Parlament und 120 Einzelkandidaten mit schwierigen Verhandlungen rechnen.



    Gestern brachte CNN ein Interview, das die Chefreporterin des Senders, Christiane Amanpour, mit Dschibril führte. Ich habe selten ein Interview gesehen, in dem der Interviewte so ausweichend und nichtssagend antwortete, sich so wenig festlegte.

    Sein Stichwort war consensus, also Konsens; das sei es, was er für Libyen anstrebt. Ob er ein politisches Amt übernehmen würde, wollte er nicht sagen. (Wie oben erläutert, kann er das vorerst gar nicht, weil Mitglieder des Übergangsrats weder dem jetzigen Parlament noch der zu bildenden Übergangsregierung angehören dürfen). Wie er zum Islamismus stehe, ließ er offen (jedenfalls sei er ein echter Moslem - true muslim -); ebenso, ob er liberal sei. Er halte nichts von Ideologien.

    Das Tauziehen, das jetzt beginnen wird, dürfte zwischen zwei Kräften mit unterschiedlichen Zielen stattfinden: Dschibrils NFA strebt eine Allparteienkoalition unter Einschluß der Islamisten an (die einzige, die sie vermutlich an die Macht bringen kann). Die J&C ihrerseits wird versuchen, eine islamistische Koalition unter Ausschluß der NFA und anderer gemäßigter Kräfte zu schmieden.

    Wer sich durchsetzt, wird sich - so Fadel Lamen, Präsident des amerikanisch-lybischen Rats der USA, gegenüber CNN - erst in Wochen, wenn nicht Monaten zeigen.

    Dschibril ist insofern der "Wahlsieger", als die 58 Parteien, die er unter dem Dach der NFA zusammengeführt hat, den stärksten Block im jetzt gewählten Parlament bilden. Mit einer Regierungsmehrheit ist das aber keineswegs identisch.
    Zettel



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